Freitag, 11. Mai 2007

Rule of law in der Ukraine

Der Legal History Blog hat vor einer Woche eine Rezension von Brian Tamanahas Buch "On the Rule of Law" publiziert. Der Autor, Mortimer Sellers, führt darin u.a. aus:
"Human rights, democracy, and the rule of law are the three primary values of the new Western political consensus, proclaimed frequently through United States diplomacy, through the Organization for Security and Cooperation in Europe, through European Union institutions, and in many other formal treaties and declarations since the Second World War. The history of this rule of law ideology stretches back over two millennia of gradual progression toward modern liberal democracy. Brian Z. Tamanaha has written a clear, concise, accurate, and convincing history of the triumph of the rule of law, beginning in Greece and Rome, continuing through the Middle Ages, developing through the liberal enlightenment, expanding after the Second World War and Cold War victories, and resisting the retrograde challenges of communism, fascism, and other trendy authoritarian or relativist ideas. Tamanaha concludes that the rule of law is a universal human good, and that everyone is better off when government officials abide by the law as written, and accept the necessary limits of their power.

[...]

Tamanaha identifies three central themes or clusters of meaning among the various conceptions of the rule of law that have emerged over the centuries. First, the state and its officials should be limited by law. Second, "formal legality" should be respected, so that law is public, prospective, general, and obeyed. Third, particular individuals should not have too much discretion to interpret or apply the law: there should be a "government of laws and not of men."

[...]

Tamanaha wants to bring greater clarity to what he considers to be "the preeminent legitimating political ideal in the world today." But usage (as he rightly recognizes) has not always been clear. As with "democracy" and "human rights," there is a temptation (once the rule of law is recognized to be a universal good) to assert that all good things are part of the rule of law. Tamanaha sometimes submits to this temptation himself, when he describes democracy and human rights as necessary elements in the rule of law.

[...]"
Dieser Text ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein philosophisch fragwürdiges Konzept durch seine beständige Beschwörung weltweit Karriere machen kann - was vom Rezensenten im dritten Abschnitt implizit auch eingeräumt wird.

Das auf John Adams zurückgehende Konzept einer "Regierung durch Gesetze, nicht durch Menschen", wie sie der klassischen Definition der rule of law zugrundeliegt, ist eine der größten Augenwischereien der Philosophie- und Rechtsgeschichte. Sie negiert die offenkundige Tatsache, daß Gesetze - seien sie nun kodifiziert oder ungeschriebenes Naturrecht - von jemandem interpretiert und auf einen konkreten Sachverhalt hin angewandt werden müssen. Diese Aufgabe fällt regelmäßig den Richtern zu, so daß die rule of law in letzter Konsequenz zu einem Richterstaat führt, denn Herrschaft wird immer von Menschen ausgeübt, nie von abstrakten Regeln oder Prinzipien. Dies wurde auch von amerikanischen Juristen erkannt. Charles Hughes hat es in die Worte gekleidet: "We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is".

Im Gegensatz dazu steht, zumindest in seiner klassischen Form, der deutsche Rechtsstaatsbegriff, der von der menschlichen Machtausübung ausgegangen ist und sich darauf beschränkt hat, ihr Regeln vorzugeben und Grenzen aufzuzeigen. Vielleicht ist es auf diese im Vergleich größere Nüchternheit zurückzuführen, daß dieser Begriff niemals die schillernden Facetten seines angelsächsischen Pendants entwickelt hat. Und die kontinentaleuropäische Rechtsgeschichte hat auch demonstriert, daß sich der Rechtsstaat nicht nur begrifflich, sondern auch praktisch von anderen Staatsgrundsätzen wie Demokratie, Bundesstaatlichkeit oder Sozialstaatlichkeit unterscheiden läßt.

Doch wir wollen uns hier nicht in rechtsphilosophischen Erwägungen verlieren, sondern zu einem praktischen Fall der Anwendung dieses "universalen Gutes" kommen. Ein eurasisches Krisenfeld, welches in diesem Blog bisher nur wenig Beachtung gefunden hat, ist die Ukraine. Die gegenwärtige Staatskrise um die Auflösung des Parlaments durch den Präsidenten hat weithin Aufmerksamkeit hervorgerufen. Glaubt man dem Mainstream der europäischen Medien, so ist der gegenwärtige Präsident Juschtschenko ein fast schon heiliger Verfechter von "westlichen Werten", Demokratie, Menschenrechten - und Rechtsstaatlichkeit, während sein Kontrahent, Ministerpräsident Janukowitsch, das Land zurück in eine quasi-sowjetische Diktatur führen wolle. Die Rollen sind also - wieder einmal - klar nach dem Schwarz-weiß-Schema verteilt.

Doch - wieder einmal - ist die Wirklichkeit komplexer als die Manichäisten wahrhaben wollen. Nicht nur, daß das gängige Mantra vom pro-russischen Janukowitsch bezweifelt werden muß, in den vergangenen Wochen hat der Präsident drei Richter des ukrainischen Verfassungsgerichts entlassen (siehe hier, hier, hier, hier und hier). Und das mitten im dort laufenden Verfahren (!) über die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Parlamentsauflösung. Der angebliche Westler Juschtschenko ist also nicht bereit, einen möglichen Machtverlust der mit ihm verbundenen politischen Kräfte hinzunehmen und besetzt deshalb das Verfassungsgericht voraussichtlich solange neu, bis es eine ihm genehme Entscheidung fällen wird. Eine solche Einmischung der Exekutive in die Sphäre der Judikative ist eine offenkundige Mißachtung der Unabhängigkeit der Justiz und widerspricht klar der "westlichen" Tradition der Gewaltenteilung.

Angesichts dessen wird man die bisher übliche Annahme, daß Juschtschenko der 'Mann des Westens' in Kiew sei, endgültig verneinen müssen.

Bezeichnend für die derzeitige Lage ist auch, daß diese rüde Rechtsbeugung durch den ukrainischen Präsidenten in den überregionalen Blättern der deutschen Presse so gut wie keinen Widerhall gefunden hat. Während man sich dort beim Prozeß gegen den Steuerhinterzieher Chodorkowski über jede kleine Unregelmäßigkeit erregt hat, werden die jüngsten Ereignisse im ukrainischen Verfassungsgericht weithin totgeschwiegen. Der erregte Aufschrei, der sonst sofort zu hören ist, wenn "westliche Werte" oder "universale Güter" in Gefahr scheinen, fehlt vollständig. Das ist - erneut - die Anwendung von Doppelstandards; wir sind nur dann für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wenn diese zu Ergebnissen führen, die wir wünschen.
Alles, was dem eingefahrenen, medial vermittelten Ukrainebild widerspricht, wird konsequent ausgeblendet, damit der arme Leser nicht mit der Komplexität der Welt überfordert wird. Juschtschenko = gut, Janukowitsch = böse, alles andere ist von Übel. Damit hat sich die selbstgerechte 'freie westliche Presse' erneut ein Armutszeugnis für ihre Berichterstattung über die Staaten der früheren Sowjetunion ausgestellt. Willkommen im 'Neuen Deutschland' - Agitprop live.

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