Posts mit dem Label Recht werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Recht werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Donnerstag, 2. April 2009

Waffenrecht in Russland

Die Nachrichtenagentur RIA Nowosti hat vorgestern einen interessanten Kommentar aus der Feder von Wlad Grinkewitsch publiziert, der sich mit dem Zusammenhang zwischen legalem Waffenbesitz und Kriminalität beschäftigt:
"Waffenbesitz in Russland: Weniger Verbrechen durch mehr Kontrolle?

[...]

Hat ein Bürger das Recht, sein Leben und sein Vermögen mit einem Gewehr in der Hand zu verteidigen?
Diese Frage führt immer zu hitzigen Debatten in Politikerkreisen und an Stammtischen.

Die Praxis zeigt: ein Waffenschein führt nicht immer unbedingt zum Anstieg von Verbrechen. Ganz im Gegenteil, er kann dazu beitragen, dass die Zahl der Verbrechen sogar zurückgeht, wobei die meisten Phobien, die mit den Waffen verbunden sind, öfter auf fehlende objektive Information zurückzuführen sind.

In Russland existieren viele Mythen, die mit dem Waffengebrauch von einfachen Privatpersonen zu tun haben. Einer davon besagt, dass die russischen Bürger die weltweit wehrlosesten Menschen sind. Dies stimmt so nicht.

Seit 1994 haben alle zurechnungsfähigen und nicht vorbestraften Russen das Recht, sich einen Waffenschein zu besorgen und zu Hause ein Langlaufgewehr (doppelläufiges und Mehrladegewehr - mit manuellem Nachlader oder auch halbautomatisch) zur Selbstverteidigung aufzubewahren.

In Bezug auf den Gebrauch von Waffen für Bürger nimmt Russland eine Zwischenposition ein. Einerseits bleibt Russland noch ein weiter Weg bis zu den solchen Staaten wie Israel, die USA oder Finnland, in denen die Gesetze zum Waffenbesitz und -kauf ziemlich locker sind. Andererseits sind für Russland Verhältnisse wie in Australien und Großbritannien eher untypisch, denn dort werden die Waffengesetze kontinuierlich verschärft.

Allerdings begrenzt der russische Gesetzgeber im höchsten Maße die Möglichkeiten, die Schusswaffen zur Selbstverteidigung einzusetzen, wobei ein Langlaufgewehr nun wahrlich nicht das beste Mittel ist, um sich selbst zu Wehr zu setzen. Viel geeigneter wären hier ein Revolver oder eine Pistole. Doch den Russen ist es verboten, derartige Waffen zu besitzen.

Der bedeutende italienische Rechtsphilosoph des 18. Jahrhunderts, Cesare Beccaria, hat das Recht eines Bürgers, eine Waffe mit sich zu tragen, einmal so begründet: „Die Gesetze, die das Tragen einer Waffe verbieten, entwaffnen bloß denjenigen, der ohnehin nicht vorhat, eine Straftat zu begehen. Sie helfen den Angreifern und fügen deren Opfern Schaden zu, sie begünstigen einen Mord und verhindern ihn nicht.“

Die russischen Gegner des Waffenbesitzes für Privatpersonen insgesamt haben viele Einwände parat. Am häufigsten hört man den folgenden Satz: „Können Sie sich vorstellen, was passieren würde, wenn unsere Leute Waffen in die Finger kriegen würden - wir alle würden uns einfach gegenseitig abknallen“. Doch die Statistik spricht eine andere Sprache.

Das russische Waffengesetz, das den Erwerb eines Langlaufgewehrs zur Selbstverteidigung zulässt, gilt bereits seit 15 Jahren. Seitdem haben die russischen Bürger insgesamt mehr als fünf Millionen Schusswaffen angehäuft, wobei die Zahl der mit Hilfe einer legalen Waffe verübten Straftaten nur um 0,5 Prozent zunahm.

Jährlich werden in Russland etwa 20 000 Verbrechen unter Anwendung von Schusswaffen begangen, die legalen Waffen machen dabei lediglich den Bruchteil eines Prozents aus. Durchschnittlich entscheidet sich nur einer von 40 000 Waffenbesitzern dazu, eine Straftat mit Hilfe seiner legal zugelassenen Waffe zu begehen.

Die weltweite Praxis zeigt, dass die Erlaubnis des Waffenbesitzes nicht unbedingt zum Anstieg der Kriminalität führt, das Verbot aber schon. Die US-Städte, in denen das Tragen einer Waffe verboten ist (Washington, Chicago, New York), zeichnen sich durch die ungewöhnlich hohen Kriminalitätsraten aus. In den US-Bundesstaaten hingegen, wo das Recht des verdeckten Tragens einer Waffe eingeführt worden war, war ein Rückgang der Zahl der Straftaten wie Mord, Raubüberfall oder Vergewaltigung zu beobachten.

Was veranlasst also den Staat, seine eigenen Bürger zu entwaffnen? Es ist des Öfteren die Reaktion auf die so genannte „nicht motivierte“ Gewalt. Doch die Europäer und die Amerikaner haben schon seit Jahrhunderten Schusswaffen bei sich zu Hause, die Zahl der Amokläufe nahm dramatisch nur in den letzten Jahrzehnten zu. Die Psychologen stellen bisweilen häufiger fest, dass zur Waffe vermehrt die Generation greift, die vor der Flimmerkiste und vor dem Computer aufwächst.

Andererseits ist es möglich, Amok auch ohne Schusswaffen zu laufen. Erinnern wir uns bloß an die Messerstecherei in einer belgischen Kinderkrippe, wo nach Angaben der Polizei zwei Kinder und ein Erwachsener getötet worden waren. Oder nehmen wir ein Beispiel in Moskau, wo ein Mann mit einem geklauten Auto etwa 16 Menschen niederfuhr - aus Protest gegen ökonomische und soziale Missstände, hieß es. Niemand wollte danach die Küchenmesser oder die Autos verbieten. Apropos Autos: Im vergangenen Jahr wurden in Russland fast 30000 Menschen bei Verkehrsunfällen getötet."

PS: Der Text des Föderalen Waffengesetzes der RF ist hier zu finden.


Verwandte Beiträge:
22.03.2009: Bilder des Tages
19.03.2009: Bilder des Tages
20.03.2009: Bilder des Tages

Mittwoch, 6. Juni 2007

Miszellen X

James Wolfensohn schreibt über die Weltordnung nach dem Ost-West- und dem Nord-Süd-Konflikt: The four circles of a changing world.

Thilo Thielke erläutert im Spiegel, weshalb Entwicklungshilfe heute für Afrika wenig hilfreich ist.

Ruth Marcus führt in die juristischen Probleme des "Kriegs gegen den Terror" ein: Guilty of Insufficient Overreaching.

Der Putin-Berater Igor Schuwalow wurde von der FAZ interviewt und macht dort einige interessante Ausführungen zur russischen Außen- und Energiepolitik.

Einige der auf der Erdgastagung in Berlin (siehe hier und hier) gehaltenen Vorträge sind jetzt auch im Internet als PDF-Dateien verfügbar.

Nachtrag: Noch drei Beiträge aus der Welt: Der säkulare Staat als Mythos; Der ferne Osten entdeckt seine ureigenen Werte wieder; Der Stern des Greenbacks als Leitwährung der Welt verblaßt.

Samstag, 19. Mai 2007

Werte und Außenpolitik

In der Debatte über das Verhältnis zu Rußland (ebenso wie bei anderen internationalen Fragen) tauchen immer wieder die Behauptungen auf, Europa sei eine "Wertegemeinschaft" oder man müsse für die weltweite Verbreitung "westlicher Werte" sorgen, zur Not auch gegen seine Interessen. So schreibt etwa dieser Journalist:
"[...]

Europäer und Russen verfügen fraglos über eine hohe Dichte gemeinsamer Interessen, weshalb eine gute Zusammenarbeit in den von Putin erwähnten Fragen wichtig ist. Deshalb müssen die Europäer den Russen dabei auch entgegenkommen. Das gilt jedoch nicht für die gemeinsamen Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie. Hier muss Russland nicht nur der europäischen Entwicklung "entgegenkommen", hierbei muss Russland zur europäischen Entwicklung aufschließen."
Ich hatte hier bereits früher meine Vorbehalte gegen die - auch in innenpolitischen Fragen - hierzulande in Mode gekommene Beschwörung von Werten geäußert. Die seit der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (1958) aufgekommene Rede vom Grundgesetz als "objektiver Werteordnung", die über die konkreten Rechtsnormen hinausreiche, hat dazu wesentlich beigetragen. Dabei stellt dieses Wertordnungsdenken lediglich eine Aushilfe dar, da man, wie Günter Dürig bemerkt hat, bei der Formulierung des Grundgesetzes keinen transzendentalen Bezug herstellen konnte (von der Anrufung Gottes in der Präambel einmal abgesehen). Bedauerlicherweise hat diese 'säkulare Aushilfe' mittlerweile eine Karriere gemacht, die die Durchsetzung bestimmter Werte schon fast als Wert an sich (;-)) erscheinen läßt. Fraglich bleibt daher insbesondere, welchen Nutzen das Abstellen auf bestimmte Werte in der internationalen Politik haben soll - vom rhetorischen einmal abgesehen. Außerdem: Welche "Werte" sollen in diesem Kontext gelten, wer definiert sie und wer postuliert ihre Geltung? Vielleicht ist es der Kinderglaube, daß, wenn alle das gleiche denken und fühlen würden, auf Erden das Paradies herrschen müßte?

Jedenfalls hat sich nun auch Robert Spaemann des Themas angenommen und legt im Cicero dar, weshalb Europa kein Werteverbund sein sollte:
"[...]

Wenn ich von der Gefährlichkeit der Rede von der Wertegemeinschaft spreche, dann möchte ich den Blick lenken auf die Tendenz, die Rede von Grundrechten allmählich mehr und mehr zu ersetzen durch die Rede von Grundwerten. Mir erscheint dies in keiner Weise harmlos. Zwar ist es, wie ich zu Beginn sagte, natürlich so, dass der Kodifizierung von Rechten und Pflichten durch eine Verfassung Wertungen, Wertschätzungen zugrunde liegen. Und es ist wichtig, dass in einem Gemeinwesen solche tragenden Wertschätzungen öffentlich gestützt und weitergegeben werden. Die Situation eines Landes wie Algerien ist nicht wünschenswert. Dort wurde der Mehrheitswille durch eine Militärdiktatur an seiner Verwirklichung gehindert, weil dieser Mehrheitswille eben gerade nicht westliche Demokratie, sondern islamisches Recht will. In dieser Situation gibt es nur die Wahl zwischen zwei verschiedenen Diktaturen, einer traditionellen und demokratischen auf der einen Seite, einer emanzipatorischen Minderheitendiktatur auf der anderen. Ein auf allgemeinem Wahlrecht beruhender, durch Grundrechte eingeschränkter Parlamentarismus kann nur existieren, wenn die Mehrheit des Volkes das will. Aber eben dies kann durch die Institutionen des Rechts zwar gefördert, nicht aber garantiert werden. Wenn der Staat dies garantieren will, dann muss er selbst zu dem werden, was er gerade ausschließen soll, zu einer Gesinnungsdiktatur, oder, wie es heute euphemistisch heißt, einer „Wertegemeinschaft“.

Das Dritte Reich war zweifellos eine Wertegemeinschaft. Sie nannte sich „Volksgemeinschaft“. Die damals als die höchsten betrachteten Werte: Nation, Rasse, Gesundheit standen allemal über dem Recht, und der Staat war, ähnlich wie im Marxismus, nur eine Agentur dieser höchsten Werte. Darum stand die Partei, die den Werten unmittelbar verpflichtet war, im Zweifelsfall immer über dem Staat. Nun gibt es gewiss immer wieder Situationen, in denen Bürger den Gehorsam gegen ein Gesetz verweigern, weil dieses Gesetz ihren Überzeugungen von fundamentalen Rechten des Menschen widerspricht. Wo aber die Staatsgewalt – unter Berufung auf höhere Werte – es für legitimiert erachtet, Menschen etwas zu verbieten, ohne dass dies gesetzlich verankert wäre, da ist Gefahr im Verzug. Hier fünf Beispiele für diese Gefahr:

1. Seit einigen Jahren hat ein Begriff in die politische Sphäre Einzug gehalten, der dort von Rechts wegen nichts zu suchen hat: der Begriff der „Sekte“. „Sekte“ ist ein negativ besetzter Ausdruck, mit dem traditionelle christliche Kirchen kleinere christliche Gemeinschaften bezeichnen, die sich von diesen Kirchen aus Gründen des Glaubensbekenntnisses oder der religiösen Praxis abgespalten haben. In der Sprache der staatlichen Rechtsordnung hat dieser Begriff eigentlich nichts verloren. Jeder Zusammenschluss von Bürgern aufgrund gemeinsamer Überzeugungen muss dem Staat gleich gelten, solange er nicht gegen die für alle geltenden Gesetze verstößt oder zu solchem Verstoß auffordert. Das ist aber leider nicht mehr der Fall. Sekten werden unter staatliche Beobachtung gestellt, es wird von Staats wegen vor ihnen gewarnt, und ihre Mitglieder werden von öffentlichen Ämtern möglichst ferngehalten. In dem neuen politischen Verständnis sind Sekten Gemeinschaften, die sich durch gemeinsame Überzeugungen definieren, Überzeugungen, die von denen der Mehrheit der Bürger oder der politischen Klasse abweichen. Kriterium für den Sektencharakter einer Gruppe ist ferner, dass sie für ihre Überzeugung missionarisch wirbt, und schließlich, dass sie einen starken Binnenzusammenhalt besitzt, oft auch eine strenge hierarchische Struktur sowie manchmal eine charismatische Persönlichkeit an ihrer Spitze.

Da all diese Kriterien vage sind und da es in liberalen Staaten bisher nicht verboten ist, solchen Gemeinschaften anzugehören, ist die Aufnahme in den Katalog der Sekten eine Ermessensfrage für die Inhaber des öffentlichen Interpretationsmonopols, und ihre Verfolgung geschieht in der Regel durch informellen Druck, vor allem durch Diskriminierung ihrer Mitglieder. Warum kann ein Staat etwas gegen Sekten haben? Nur darum, weil er anfängt, sich selbst als „Gemeinschaft“, als Wertegemeinschaft zu verstehen, als Großkirche, die Dissidentengemeinschaften ausschließt.

[...]

Die christlichen Kirchen sind schlecht beraten, wenn sie ihre Sektenkritik mit der staatlichen verbinden und sich nicht schützend vor diese Gruppen stellen, auch wenn sie deren Überzeugungen für falsch halten. Wenn sie weiter wie bisher schrumpfen, ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis sie selbst öffentlich als Sekten wahrgenommen werden. Dass die gegenwärtige Katholische Kirche eine Großsekte sei, kann man bereits bei Hans Küng lesen, und wenn man die eben genannten Kriterien zugrunde legt, ist das nicht einmal falsch. Aber nun beginnt der staatliche Arm, sich eine Zivilreligion zuzulegen. Die mühsam erworbene Errungenschaft des liberalen Rechtsstaats wird wieder preisgegeben, wenn der Staat sich als Wertegemeinschaft versteht, auch wenn es eine „liberale“ Wertegemeinschaft ist, die Liberalismus als Weltanschauung statt als Rechtsordnung versteht. Die Sektenverfolgung ist ein ziemlich sicherer Indikator für die hier drohende Gefahr, die Gefahr eines liberalen Totalitarismus.

2. Ein weiterer Indikator ist es, wenn staatliche Institutionen aufgeboten werden, um bestimmte verfassungskonforme politische Positionen öffentlich zu ächten. So versucht man in Deutschland – sehr im Unterschied z. B. zur Schweiz – eine öffentliche Diskussion um die Frage der Zuwanderung von Ausländern dadurch zu verhindern, dass restriktive Positionen oder gar ein ethnisch-kulturelles Selbstverständnis der Nation als unanständig tabuisiert und mit den Gewalttätigkeiten gegen Ausländer in Beziehung gebracht werden. Das Selbstverständnis eines Staates soll nicht dem Risiko eines demokratischen Diskurses ausgeliefert werden. Dass so etwas in der politischen Auseinandersetzung geschieht, muss man hinnehmen. Gefahr ist nicht im Verzug, wenn Demonstrationen „gegen rechts“ stattfinden. Gefahr ist im Verzug, wenn der Staat bis hin zum deutschen Bundespräsidenten diese Kundgebungen organisiert oder ihnen höhere Weihen gibt. Außerdem ist es ein Offenbarungseid staatlicher Ohnmacht. Das Mittel des Staates gegen Gesetzlosigkeit und Gewalt – von Inländern gegen Ausländer und von Ausländern gegen Inländer – ist die Polizei; darüber hinaus besteht es in der staatsbürgerlichen Erziehung, die den Respekt vor rechten und linken Positionen vermittelt sowie die Ablehnung von Gewalt, wie immer diese sich rechtfertigen mag. Der Staat als „Bündnis gegen rechts“ – das ist die Wertegemeinschaft anstelle des Staates, und hier müssen die Alarmglocken läuten.

[...]

4. Das vierte Beispiel ist der Kosovo-Krieg. Er ließ bereits ahnen, was auf uns zukommen sollte und mit dem Irakkrieg ja auch tatsächlich auf uns zukam. Dieser Krieg wurde bekanntlich geführt im Namen „unserer Werte“. Nun dient ein Interventionskrieg zur Verhinderung der Vertreibung eines ganzen Volkes aus seiner Heimat zweifellos einer „gerechten Sache“. (Man wundert sich allerdings, dass der deutsche Außenminister erst anlässlich dieses Falles die Entdeckung machte, dass es Angriffskriege zugunsten einer gerechten Sache gibt.) Mit dem geltenden Völkerrecht war die Führung eines solchen Krieges allerdings unvereinbar, worauf unter anderem Henry Kissinger und Helmut Schmidt hingewiesen haben. Das Völkerrecht erkennt nur noch den Verteidigungskrieg gegen Angriffe auf das eigene Territorium oder das Territorium verbündeter Staaten an. Was deshalb Anlass zu Bedenken gibt, ist, dass der neue Sachverhalt nicht etwa zu einer Revision der völkerrechtlichen Ächtung des Angriffskriegs führt – durch präzise Definition anerkannter Rechtfertigungsgründe für einen solchen – sowie zur Kündigung der entgegenlautenden bisherigen Verträge. Die „Werte“, um die es ging, ermächtigten vielmehr diejenigen, die in ihrem Namen handelten, die geltenden Rechtsnormen einfach zu ignorieren. Auch hier wieder: Wer im Namen der Wertegemeinschaft handelt, steht über dem Recht. Man nannte das einmal Totalitarismus.

[...]

Aber was heißt dann „Wertegemeinschaft?“ Es ist nicht die nicht institutionalisierbare, verborgene Gemeinschaft derer, die versuchen, das Gute zu erkennen und zu tun, sondern die organisierte Gemeinschaft derer, die die Wahrheit bereits gefunden haben, man könnte sagen: die Parodie der christlichen Kirche. Denn diese Wahrheit ist die, dass es mit Bezug auf gut und böse so etwas wie Wahrheit nicht gibt. Die Menschenrechte sind etwas, worauf wir uns geeinigt haben. Der Versuch, auch Menschen anderer Kulturen zu deren Anerkennung zu bewegen, krankt eben an diesem Begriff der Wertegemeinschaft. Denn wenn „unsere Werte“ das Ergebnis unserer Geschichte und unserer Optionen sind, dann gibt es keinen Grund – außer einen rein machtpolitischen – ,andere auf unsere Optionen einzuschwören, also z.B. darauf, die Menschenwürde überall in Institutionen parlamentarischer Demokratien und individualistischer Menschenrechte zu konkretisieren. Werte sind aber in Wirklichkeit niemals das, wofür wir optieren, sondern das, was allen Optionen vorausgeht und diese Optionen begründet, also das, woran wir wirklich glauben. Wofür wir, aufgrund dieses Glaubens, optiert haben und optieren, das ist eine Rechtsordnung.

Die Wertebasis einer modernen Rechtsordnung aber verlangt, dass die Rechte der Bürger, des Zusammenschlusses von Bürgern, nicht davon abhängen, ob diese Bürger diese Wertebasis teilen, vorausgesetzt, sie gehorchen den Gesetzen. Auch wenn dieser Gehorsam nur der ist, der auch einer fremden Besatzungsmacht entgegengebracht wird, um das Weiterleben zu ermöglichen. Man gehorcht auch ihr, aber nicht, weil man ihrer Wertegemeinschaft angehört, sondern weil man den Wert des inneren Friedens kennt, pax illis et nobis communis, wie Augustinus schrieb. Das künftige Europa wird nur dann eine Rechtsgemeinschaft sein können, in der alle Bürger der Länder europäischer Tradition ein gemeinsames Dach finden, wenn es Gemeinschaften mit gemeinsamen Wertschätzungen ermöglicht und schützt, selbst aber darauf verzichtet, eine Wertegemeinschaft zu sein."
Spaemann arbeitet hier sehr schön den Unterschied zwischen einer Rechts- und einer Werteordnung heraus und zeigt schlüssig den totalitären Charakter des Insistierens auf letzterer auf. An die Stelle des rechtsförmlich geregelten Umgangs miteinander treten sowohl innerhalb eines Staates als auch zwischen den Staaten bestimmter Überzeugungen, die zur Not auch mittels eines "Kreuzzugs" durchgesetzt werden.
Spaemanns Aufsatz ist eine weite Verbreitung zu wünschen, damit die Ideologen der "westlichen Wertegemeinschaft" in ihrem unseligen Tun dadurch behindert werden mögen. Aber ob diese - auch in der politischen Klasse Deutschlands - überhaupt das intellektuelle Niveau besitzen, um ihn zu verstehen? (Zumindest bei Richard Herzinger darf man daran zweifeln.)

Freitag, 11. Mai 2007

Rule of law in der Ukraine

Der Legal History Blog hat vor einer Woche eine Rezension von Brian Tamanahas Buch "On the Rule of Law" publiziert. Der Autor, Mortimer Sellers, führt darin u.a. aus:
"Human rights, democracy, and the rule of law are the three primary values of the new Western political consensus, proclaimed frequently through United States diplomacy, through the Organization for Security and Cooperation in Europe, through European Union institutions, and in many other formal treaties and declarations since the Second World War. The history of this rule of law ideology stretches back over two millennia of gradual progression toward modern liberal democracy. Brian Z. Tamanaha has written a clear, concise, accurate, and convincing history of the triumph of the rule of law, beginning in Greece and Rome, continuing through the Middle Ages, developing through the liberal enlightenment, expanding after the Second World War and Cold War victories, and resisting the retrograde challenges of communism, fascism, and other trendy authoritarian or relativist ideas. Tamanaha concludes that the rule of law is a universal human good, and that everyone is better off when government officials abide by the law as written, and accept the necessary limits of their power.

[...]

Tamanaha identifies three central themes or clusters of meaning among the various conceptions of the rule of law that have emerged over the centuries. First, the state and its officials should be limited by law. Second, "formal legality" should be respected, so that law is public, prospective, general, and obeyed. Third, particular individuals should not have too much discretion to interpret or apply the law: there should be a "government of laws and not of men."

[...]

Tamanaha wants to bring greater clarity to what he considers to be "the preeminent legitimating political ideal in the world today." But usage (as he rightly recognizes) has not always been clear. As with "democracy" and "human rights," there is a temptation (once the rule of law is recognized to be a universal good) to assert that all good things are part of the rule of law. Tamanaha sometimes submits to this temptation himself, when he describes democracy and human rights as necessary elements in the rule of law.

[...]"
Dieser Text ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein philosophisch fragwürdiges Konzept durch seine beständige Beschwörung weltweit Karriere machen kann - was vom Rezensenten im dritten Abschnitt implizit auch eingeräumt wird.

Das auf John Adams zurückgehende Konzept einer "Regierung durch Gesetze, nicht durch Menschen", wie sie der klassischen Definition der rule of law zugrundeliegt, ist eine der größten Augenwischereien der Philosophie- und Rechtsgeschichte. Sie negiert die offenkundige Tatsache, daß Gesetze - seien sie nun kodifiziert oder ungeschriebenes Naturrecht - von jemandem interpretiert und auf einen konkreten Sachverhalt hin angewandt werden müssen. Diese Aufgabe fällt regelmäßig den Richtern zu, so daß die rule of law in letzter Konsequenz zu einem Richterstaat führt, denn Herrschaft wird immer von Menschen ausgeübt, nie von abstrakten Regeln oder Prinzipien. Dies wurde auch von amerikanischen Juristen erkannt. Charles Hughes hat es in die Worte gekleidet: "We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is".

Im Gegensatz dazu steht, zumindest in seiner klassischen Form, der deutsche Rechtsstaatsbegriff, der von der menschlichen Machtausübung ausgegangen ist und sich darauf beschränkt hat, ihr Regeln vorzugeben und Grenzen aufzuzeigen. Vielleicht ist es auf diese im Vergleich größere Nüchternheit zurückzuführen, daß dieser Begriff niemals die schillernden Facetten seines angelsächsischen Pendants entwickelt hat. Und die kontinentaleuropäische Rechtsgeschichte hat auch demonstriert, daß sich der Rechtsstaat nicht nur begrifflich, sondern auch praktisch von anderen Staatsgrundsätzen wie Demokratie, Bundesstaatlichkeit oder Sozialstaatlichkeit unterscheiden läßt.

Doch wir wollen uns hier nicht in rechtsphilosophischen Erwägungen verlieren, sondern zu einem praktischen Fall der Anwendung dieses "universalen Gutes" kommen. Ein eurasisches Krisenfeld, welches in diesem Blog bisher nur wenig Beachtung gefunden hat, ist die Ukraine. Die gegenwärtige Staatskrise um die Auflösung des Parlaments durch den Präsidenten hat weithin Aufmerksamkeit hervorgerufen. Glaubt man dem Mainstream der europäischen Medien, so ist der gegenwärtige Präsident Juschtschenko ein fast schon heiliger Verfechter von "westlichen Werten", Demokratie, Menschenrechten - und Rechtsstaatlichkeit, während sein Kontrahent, Ministerpräsident Janukowitsch, das Land zurück in eine quasi-sowjetische Diktatur führen wolle. Die Rollen sind also - wieder einmal - klar nach dem Schwarz-weiß-Schema verteilt.

Doch - wieder einmal - ist die Wirklichkeit komplexer als die Manichäisten wahrhaben wollen. Nicht nur, daß das gängige Mantra vom pro-russischen Janukowitsch bezweifelt werden muß, in den vergangenen Wochen hat der Präsident drei Richter des ukrainischen Verfassungsgerichts entlassen (siehe hier, hier, hier, hier und hier). Und das mitten im dort laufenden Verfahren (!) über die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Parlamentsauflösung. Der angebliche Westler Juschtschenko ist also nicht bereit, einen möglichen Machtverlust der mit ihm verbundenen politischen Kräfte hinzunehmen und besetzt deshalb das Verfassungsgericht voraussichtlich solange neu, bis es eine ihm genehme Entscheidung fällen wird. Eine solche Einmischung der Exekutive in die Sphäre der Judikative ist eine offenkundige Mißachtung der Unabhängigkeit der Justiz und widerspricht klar der "westlichen" Tradition der Gewaltenteilung.

Angesichts dessen wird man die bisher übliche Annahme, daß Juschtschenko der 'Mann des Westens' in Kiew sei, endgültig verneinen müssen.

Bezeichnend für die derzeitige Lage ist auch, daß diese rüde Rechtsbeugung durch den ukrainischen Präsidenten in den überregionalen Blättern der deutschen Presse so gut wie keinen Widerhall gefunden hat. Während man sich dort beim Prozeß gegen den Steuerhinterzieher Chodorkowski über jede kleine Unregelmäßigkeit erregt hat, werden die jüngsten Ereignisse im ukrainischen Verfassungsgericht weithin totgeschwiegen. Der erregte Aufschrei, der sonst sofort zu hören ist, wenn "westliche Werte" oder "universale Güter" in Gefahr scheinen, fehlt vollständig. Das ist - erneut - die Anwendung von Doppelstandards; wir sind nur dann für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wenn diese zu Ergebnissen führen, die wir wünschen.
Alles, was dem eingefahrenen, medial vermittelten Ukrainebild widerspricht, wird konsequent ausgeblendet, damit der arme Leser nicht mit der Komplexität der Welt überfordert wird. Juschtschenko = gut, Janukowitsch = böse, alles andere ist von Übel. Damit hat sich die selbstgerechte 'freie westliche Presse' erneut ein Armutszeugnis für ihre Berichterstattung über die Staaten der früheren Sowjetunion ausgestellt. Willkommen im 'Neuen Deutschland' - Agitprop live.

Mittwoch, 9. Mai 2007

Miszellen VIII

Die CSU-Landesgruppe im Bundestag hat im Januar "Leitlinien für Auslandseinsätze der Bundeswehr" beschlossen, deren Ausrichtung für den Unions-Mainstream erstaunlich ist und die unbedingt zur Lektüre und Beachtung (durch die Politik) empfohlen werden.

Eine Studie der SWP vom März kommt beim Thema Raketenabwehr zu dem ernüchternden Ergebnis, daß eine entsprechende Bedrohung nicht existiert, ein Raketenabwehrsystem langfristig zur Prävention allerdings nicht schaden könnte. Alarmismus: Fehlanzeige.

Eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion im Bundestag befaßt sich mit den Auswirkungen der Anwendung von US-Recht außerhalb der USA - in wirtschaftlicher wie in rechtlichter Hinsicht. Auf die Antwort der Bundesregierung dürfen wir gespannt sein.

Gisbert Mrozek hat eine neue Sollbruchlinie in Europa ausgemacht, die von Tallin über Kiew bis nach Tiflis führt. Ausführlich dazu Heribert Schindler.

Mark Ames schreibt im Exile über die russische Opposition um Kasparow und über die Probleme, die er als Amerikaner mit diesem Thema hat. Zum gleichen Thema hat sich auch Gisbert Mrozek geäußert.

Die Financial Times hat jüngst ihren diesjährigen Länderreport zu Rußland vorgelegt.

Michail Chmeljow hat festgestellt, daß russische Unternehmen in Europa unerwünscht seien. Mit diesem Befund hat er m.E. leider Recht. Freihandel funktioniert aber nur mehrseitig.

Kartographische Darstellungen des Geltungsbereichs verschiedener völkerrechtlicher Verträge in und um Europa findet man auf dieser Seite.

Der Krusenstern-Blog hat die hier erstellte Liste der deutschen Rußlandkorrespondenten aufgegriffen und nun eine Liste aller deutschsprachigen Korrespondenten zusammengestellt, die dort auch weiter aktualisiert wird.

Nachtrag: Dieter Grimm beschäftigt sich im Spiegel mit der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit bei der Terrorismusbekämpfung.

Samstag, 31. März 2007

Kultur, Religion und Recht

Unter dem Titel "Das Recht steht über jeglicher 'Kultur'" hat Richard Herzinger einen Kommentar zum Verhalten einer Frankfurter Richterin, die mit dem Koran argumentiert hatte, geschrieben. Dieser Text ist - wie bei ihm üblich - nicht übermäßig lesenswert, enthält aber doch zwei Absätze, auf die hier kritisch eingegangen werden soll.

"[...]

Die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Menschen verstößt gegen die Menschenwürde und damit gegen die grundlegenden Menschenrechte. Diese sind universal und stehen absolut über allen Vorschriften, die aus einer bestimmten kulturellen Tradition abgeleitet werden. Wie Religionen sind Kulturen nur akzeptabel, wenn sie sich fähig zeigen, diese Vorherrschaft des universalen Rechts anzuerkennen und umzusetzen.

[...]"

Der erste Satz stimmt nicht, zumindest dann nicht, wenn man sich im Kontext des deutschen Rechts bewegt. Die körperliche Unversehrtheit ist genauso wie das Leben (und die Freiheit der Person) in Art. 2 II GG geschützt. Allerdings stehen diese Grundrechte sämtlich unter dem Gesetzesvorbehalt in Satz 3. D.h., in Deutschland darf in die körperliche Unversehrtheit ggf. eingegriffen werden. Die in Art. 1 I GG absolut geschützte Menschenwürde ist davon nicht notwendig tangiert. Anderenfalls wäre etwa der von der Polizei bei Geiselnahmen unter Umständen abgegebene finale Rettungsschuß verfassungswidrig. Das gleiche gilt für staatlich angeordnete medizinische Untersuchungen, z.B. nach dem Infektionsschutzgesetz. Diese Kette geht also nicht auf.
Im zweiten Satz unterstellt Herzinger eine Universalität der "Menschenrechte", die er (und viele andere) zwar behaupten, die aber nur sehr bedingt wirklich anerkannt ist.

Sodann leitet er auch schon zum dritten Satz über, in dem die Suprematie des "universalen Rechts" über jegliche kulturellen Regeln behauptet wird. Und an dieser Stelle erleidet er Schiffbruch, denn er übersieht das Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem Recht einerseits und Religion bzw. Kultur andererseits. Die These, daß ewige und überall geltende, also nach Zeit und Raum universale Menschenrechte existieren würden, ist ein Produkt der Aufklärung, mithin selbst das Ergebnis einer bestimmten Kultur und eines bestimmten Zeitgeistes. Herzinger kann oder will nicht begreifen, inwieweit das Recht (bzw. das, was er dafür hält) selbst durch kulturelle und religiöse Einflüsse geprägt ist, auch in Deutschland.
Der zweite in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Punkt ist die Forderung nach einer Überordnung des Rechts, für das Kultur und Religion nur eine dienende Funktion haben sollen. Also keine irgendwie geartete Zwei-Reiche-Lehre wie bei Augustinus oder Luther, keine getrennten Sphären von Staat und Religion, sondern der Staat (oder das "Recht") wird in Herzingers Modell selbst zur obersten Religion, die andere Götter nur bedingt neben sich dulden kann. Dieses wahrhaft totalitäre Modell hatte man im 20. Jahrhundert schon verschiedentlich ausprobiert - und es hat immer im Desaster geendet.

"[...]

Darüber wurde vergessen, dass Kulturen nicht voraussetzungslos schützenswert und unantastbar sind. Kulturen können vielmehr grausam, mörderisch und menschenunwürdig sein, und es ist die Pflicht der zivilisierten Menschheit, die Einzelnen vor der Unterwerfung unter brutale Gebote ihrer eigene Kultur zu schützen.

[...]"

Aber das Recht ist voraussetzungslos? Und Kulturen sind nur nach Maßgabe derjenigen schützenswert, die sich selbst für "zivilisiert" halten? Da erhebt sich auch spontan die Frage, welchem Bereich wohl die Todesstrafe bzw. die Forderung nach ihr zuzurechnen ist: der Zivilisation als Teil des Strafrechts oder der Kultur als Ausdruck des archaischen Verlangens nach Blutrache?

Mittwoch, 28. März 2007

Miszellen III

Die Wahlen zu den Regionalparlamenten in 14 russischen Föderationssubjekten am 11. März haben keine großartigen Überraschungen gebracht. Es scheint sich ein Zwei-Parteien-System mit einigen Kleinparteien am Rand des politischen Spektrums herauszukristallisieren. Eine der besten Analysen dazu hat Nikolaj Jerschow in seinem Blog.

Über Liberale und Journalisten in Rußland äußert sich auch Robert Bridge in den Moscow News.

Es ist schon erstaunlich, wie Boris Beresowski ("Godfather of the Kremlin") hierzulande mittlerweile als strahlender Held der Anti-Putin-Kräfte und Menschenrechtsaktivist gefeiert wird - natürlich von der FAZ. Wesentlich nüchterner geht es dagegen in diesem lesenswerten Text zu.

Es ist erfreulich, daß die Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und russischen Sicherheitsbehörden weitergeht: Two new U.S. Secret Service agents are to be stationed in Moscow this year [...].

Die aktuelle Ausgabe der Internationalen Politik widmet sich ebenso wie das vorletzte Heft der WeltTrends schwerpunktmäßig der deutschen Ostpolitik.

Nachdem eine Familienrichterin in Frankfurt a.M. mit dem Koran argumentiert hat, entbrannte allgemeine Entrüstung. Doch so neu ist dies nicht, sondern nur ein weiterer Schritt auf dem Weg in ein neues Mittelalter.

Uwe Volkmann hat einen interessanten Aufsatz über die symbolische Dimension des Rechts verfaßt: Demokratisches Schamanentum.