Dienstag, 27. Juli 2010

"Wostok – 2010"


Vom 29. Juni bis zum 8. Juli 2010 hat in den östlichen Gebieten der Rußländischen Föderation die Operativ-strategische Übung „Wostok-2010“ (dt.: Osten 2010) stattgefunden. Sie war nicht nur das größte Militärmanöver in Rußland seit 1991, sondern wies auch manche Neuerungen auf, die nicht einmal zu Sowjetzeiten üblich waren, denn damals waren die Streitkräfte erheblich größer als heute. Insgesamt nahmen 20.000 Soldaten, 40 Schiffe und Boote sowie 75 Flugzeuge und Hubschrauber an der Übung teil.




Handlungen von Überwasserkräften, Kampfschwimmern und Marineinfanterie.


Übungslage

Eigentlich handelte es sich um eine Übungsserie, denn es wurde kein großer Gesamtplan durchgespielt. Vielmehr wurden auf 19 Übungsplätzen zwischen Altaj-Gebirge und Wladiwostok eine Vielzahl kleiner und mittlerer Übungen absolviert, die oft in keinem direkten Zusammenhang zueinander standen. Die dabei zugrundegelegten Szenarien reichten von der Bekämpfung bewaffneter Banden (also den typischen LIC-Szenarien) über konventionelle Operationen zu Lande einschließlich dem Einsatz von Kampfpanzern und Artillerie bis hin zu See- und amphibischen Operationen, insbesondere Seelandungsabwehr und Durchführung einer eigenen Seelandung.



Eingesetzte Truppen

Am Manöver haben die Land- und Luftstreitkräfte des Fernöstlichen Militärbezirks, des Sibirischen Militärbezirks und der Pazifikflotte teilgenommen. Sie wurden durch Verbände aus den westlichen Teilen der RF verstärkt (Stichwort: force projection). Zur See waren dies die Raketenkreuzer „Peter der Große“ (Nordmeerflotte) und „Moskwa“ (Schwarzmeerflotte). Einige motorisierte Schützenbrigaden wurden ganz oder teilweise in den Fernen Osten verlegt; zum Teil per Bahn, zum Teil aber auch per Flugzeug. Letztere versahen sich erst in „frontnahen“ Mobilmachungslagern mit Fahrzeugen und Kampftechnik. Ebenso verlegten Kampfflugzeuge aus West- und Südrußland in den Übungsraum, wobei die in den russischen Luftstreitkräften wenig praktizierte Luftbetankung geübt wurde.

Diese Truppenverlegung war einer der wesentlichen Aspekte des Manövers. Denn die russischen Verbände, die in Ostsibirien und dem Fernen Osten disloziert sind, sind – verglichen mit den Streitkräften anderer Staaten der Region – relativ schwach und kaum fähig, Küste und Landgrenzen einigermaßen zu decken. Dies ist für das russische Militär eine neue Situation. Zu Sowjetzeiten ging man davon aus, daß für jeden potentiellen Kriegsschauplatz ein eigenes, den Gegebenheiten angepaßtes Truppenkontingent aufgestellt wird, welches dort selbständig handeln kann und nur bedingt auf Verstärkungen aus dem Rest des Landes angewiesen ist. Doch die massive Reduzierung der Armee seit 1991 hat diese Doktrin obsolet gemacht. Weder Land-, Luft- noch Seestreitkräfte in einem Teil Rußlands können heute ohne Verstärkungen aus anderen Landesteilen einen etwas größeren Konflikt bestehen. Diese neue Lage führt natürlich auch zu neuen Herausforderungen für Führung, Organisation und Logistik der Streitkräfte.

An einigen Übungsteilen haben neben den Truppen des Verteidigungsministeriums auch Spezialkräfte von Innenministerium und Föderalem Sicherheitsdienst sowie Einheiten der Bereitschaftspolizei und des Katastrophenschutzes teilgenommen. Dies ist in der RF seit Jahren üblich und entspricht dem, was man hierzulande unter dem Stichwort „erweiterter Sicherheitsbegriff“ versteht.



Führungsorganisation

Ein weiterer wesentlicher Aspekt war das praktische Üben der neuen Organisationsformen, namentlich in den Landstreitkräften, wie sie seit 2008 eingeführt worden sind (u.a. Übergang vom Divisions- zum Brigadesystem; siehe auch hier). Insofern scheinen die Ergebnisse positiv gewesen zu sein, d.h. daß die Startschwierigkeiten der ersten Jahre langsam überwunden werden. Das Übungsgebiet von Wostok-2010 entsprach in etwa dem Territorium des zukünftigen Operativ-strategischen Kommandos Ost.



Politischer Hintergrund

Kommen wir zu einer der interessantesten Fragen: Gegen wen hat sich das Manöver „Wostok-2010“ gerichtet? Offiziellen Erklärungen zufolge gegen keinen anderen Staat, was angesichts der quantitativen Schwäche der rußländischen Armee auch glaubhaft erscheint. Dennoch gibt es einen politischen Hintergrund, wenn man derzeit hypothetische, aber für die Zukunft keineswegs ausgeschlossene Konflikte mit Japan und der Volksrepublik China bedenkt.

Mit Japan herrscht de jure nach wie vor der Kriegszustand, auch wenn man fleißig miteinander Handel treibt. Grund ist die Weigerung Tokios, seinen Anspruch auf die 1945 von der UdSSR besetzten Südkurilen-Inseln aufzugeben. Und das japanische Militär ist in den letzten Jahren gewachsen, wohingegen die russischen Streitkräfte, gerade auch im Fernen Osten, reduziert worden sind. Russische Analysten halten daher mittel- bis langfristig eine japanische Militäroperation zur Rückgewinnung der Südkurilen für möglich.
Die Beziehungen zu China sind komplexer und diffiziler. Einerseits kooperieren beide Staaten politisch und ökonomisch auf vielen Gebieten. Andererseits fürchten nicht wenige in Rußland eine chinesische Expansion nach Norden – also in jene Gebiete der RF, die nur dünn besiedelt, dafür aber rohstoffreich sind. Sorgen bereitet insofern auch die Stärke des chinesischen Militärs, gegenüber dem die russische Armee hoffnungslos unterlegen ist. Zum Beispiel bei den Landstreitkräften: Den 12 Brigaden nördlich des Amur stehen auf dessen Südseite in der Militärregion Shenyang 9 Divisionen und weitere 11 selbständige Brigaden gegenüber.

Insofern ist Wostok-2010 vor allem als politische Demonstration zu verstehen: Rußland ist gewillt, seine östlichen Landesteile allen inneren Widrigkeiten und der schwierigen Verkehrsverbindungen zum Trotz gegen Begehrlichkeiten anderer Staaten zu schützen und sie ggf. aktiv gegen einen militärischen Angriff zu verteidigen. Die konventionellen Manöverelemente mechanisierter Truppen entsprachen somit einem eventuellen Konflikt mit China, während die amphibischen Übungen einem Szenario um die Kurilen entsprungen waren (erst Eroberung durch gegnerische Truppen, dann Seelandung der eigenen zwecks Rückeroberung).




Eine Mot. Schützen-Brigade in der Verteidigung.


Manöverkritik

Wie nicht anders zu erwarten, gehen die Bewertungen von Wostok-2010 in der russischen Presse weit auseinander. Manche Kommentatoren meinen, nunmehr sei die Wirksamkeit der neuen Militärorganisation (und damit der gesamten Armeereform) bewiesen. Diese geht von begrenzten lokalen und regionalen Konflikten aus, weshalb die Reduzierung der Armee und das damit im Konfliktfall notwendig werdende Hin- und Herschieben von Truppen durch das ganze Land kein sicherheitspolitisches, sondern nur ein logistisches Problem darstellt.

Die Gegenmeinung wird u.a. vom Politologen Alexander Chramtschichin (der u.a. regelmäßig für die Militärbeilage NWO der als liberal geltenden Nesawissimaja Gaseta schreibt) vertreten. Er sieht die gesamte Militärreform als gescheitert an, was durch das jüngste Großmanöver bewiesen worden sei. Verkleinerung und Umorganisation der Armee hätten zu einer erheblichen Schwächung der konventionellen Streitkräfte in den östlichen Teilen der RF geführt. Diese seien den beiden wahrscheinlichsten Gegnern in der asiatisch-pazifischen Region weit unterlegen. Deren Fähigkeiten seien während der Übung heruntergespielt, die der russischen Armee jedoch zu positiv gesehen worden. Die Mobilmachungsbasen und Flugplätze seien im Kriegsfall viel zu nahe an der Front und könnten somit leicht ausgeschaltet werden. Die Heranführung von Kräften und Mitteln aus anderen Gebieten Rußlands könne fast nur über die ebenfalls sehr verwundbare Transsibirische Eisenbahn geschehen.

Chramtschichin räumt zwar ein, daß viele der Einzelübungen von Wostok-2010 positiv verlaufen seien. Dennoch sieht er jetzt die politische Führung gefordert, ihre Verteidigungspolitik im Fernen Osten zu überdenken. Man brauche starke konventionelle Kräfte in der Region und eine Rückkehr zur Divisionsstruktur, um abschreckend wirken zu können. Die Option einer Verstärkung durch die seines Erachtens insgesamt zu wenigen Brigaden der übrigen Militärbezirke sei unzureichend. Das Manöver habe zwar gezeigt, daß Rußland dort stärkere Kräfte konzentrieren könne, jedoch sei dies sehr aufwendig gewesen und habe den Rest der russischen Streitkräfte – insbesondere die Schwarzmeer- und Nordmeerflotte – von wichtigen Einheiten entblößt.



Nachwort

Jedem, der die sicherheitspolitische und militärtheoretische Diskussion in den NATO-Staaten ein wenig verfolgt, werden viele Elemente von Wostok-2010 bekannt vorkommen. Das Ansinnen von politischer und militärischer Führung, das rußländische Militär zu verschlanken und gleichzeitig zu modernisieren erscheint löblich. Es gibt jedoch Grenzen der Übernahme von fremden Ideen, insbesondere wenn sie von Seemächten (im geopolitischen Sinne) wie den Vereinigten Staaten oder Großbritannien entwickelt wurden. Im Gegensatz dazu ist Rußland eine klassische Landmacht, mit großer territorialer Ausdehnung und langen Grenzen. Und zu Lande muß Logistik anders organisiert werden als zu Wasser.

Das diesjährige Manöver war die Fortsetzung von mehreren kleineren Übungen im vergangenen Jahr. „Sapad-2009“ (dt.: West 2009) wurde, wie der Name schon sagt, in den westlichen Landesteilen gemeinsam mit Belarus durchgeführt; „Kawkas-2009“ (dt.: Kaukasus 2009) u.a. waren hingegen eine rein russische Angelegenheit. Im nächsten Jahr wird sich dieser Kreis mit der Übung „Zentr-2011“ (dt.: Mitte 2011) schließen, die vermutlich in Westsibirien, dem Verantwortungsgebiet des zukünftigen OSK Mitte, stattfinden wird.



Bibliographie und weiterführende Links:

D. Gorenburg: Vostok-2010: Another step forward for the Russian military

I. Kramnik: „Wostok 2010“: Härtetest für erneuerte Armee

I. Kramnik: Seemanöver: Russland braucht mehr Kriegsschiffe

A. Chramtschichin: Njeadekwatnyj „Wostok“

N.N.: Serdjukow nje weljel ustrajwat wojnu dwuch armij

N.N.: Testing Army Reforms in Vostok-2010

N.N.: Battalion Travels Lighter in Mobilnost Redux

N.N.: Old Weapons Good Enough, or Worn Out?

N.N.: Not Enough Officers in ‘New Type’ Brigades?

I. Kramnik: Brennpunkt Zentralasien: Was Russlands Armee drohen kann

M. Chapman: Naturally Kurilly

O. Grizenko: Kurilskaja pretensija

Großmanöver „Ost-2010“ (weitere Materialien von RIA Nowosti)

Berichte und Videos des Fernsehsenders Swesda vom Manöver

A. Chramtschichin: Tschetyrje wektora rossijskoj oboronoj

A. Chramtschichin: Milliony soldat pljus sowremennoje woorushenije



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29.11.2008: Bilder des Tages

Karte: mapsof.net; Fotos: RIA Nowosti.

Samstag, 24. Juli 2010

Rückblende: Die Schützen-WM 1954

In einer Woche beginnt in München die 50. Weltmeisterschaft der ISSF (früher: UIT) im Sportschießen. Eine Gelegenheit, um 56 Jahre zurückzublenden und an die 36. Weltmeisterschaft zu erinnern, die 1954 in der venezolanischen Hauptstadt Caracas ausgetragen wurde.
Dabei dominierten erneut die sowjetischen Schützen, die erst zwei Jahre zuvor während der Olympischen Spiele in Helsinki das internationale Parkett betreten hatten. Man denke nur an bekanntere Namen wie z.B. Anatolij Bogdanow oder Lew Weinstein.

Dies wird auch durch die folgenden Artikel reflektiert, die im Winter 1954/55 in der GST-Zeitschrift Sportschießen und Reitsport erschienen sind. Da die ostdeutschen Schützen noch nicht in der UIT vertreten waren (und somit nicht an der WM teilnehmen konnten), schenkte man denen aus der UdSSR besondere Aufmerksamkeit. Dennoch sind die Berichte relativ sachlich gehalten. Und sie vermitteln einen Eindruck, wie Sportberichterstattung ablief, bevor Fernsehen und Internet Gemeingut geworden sind. Begeben wir uns also auf den Schießstand in Caracas:











Im Archiv des Spiegels findet sich ebenfalls ein Bericht über die WM, der etwas andere Schwerpunkte setzt als jener aus der DDR. Bemerkenswert ist der letzte Satz:
"[...]

Meint Schützen-Geschäftsführer Zimmermann: "Sobald mehr Nationen mit den neuen deutschen Läufen ausgerüstet sind, wird den Russen das Leben schwergemacht.""
Tja, der Kalte Krieg tobte auch im Sport. Bleibt zu hoffen, daß die diesjährige WM weniger stark politisiert wird.


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Dienstag, 20. Juli 2010

Aktuelles aus der russischen Waffenindustrie


In der Vergangenheit hatte ich über verschiedene Entwicklungen der Waffenindustrie in Rußland berichtet. Dazu zählte auch die - aus deutscher Sicht nur schwer nachvollziehbare - Preisentwicklung. So wurde im Forum Talks.guns.ru behauptet, daß Innenministerium und Föderaler Sicherheitsdienst derzeit nur Präzisionsgewehre des finnischen Herstellers Sako beschaffen würden, weil ihnen das in Ishewsk produzierte Modell SW-98 zu teuer geworden sei.
Dieser Tage habe ich nun einen Zeitungsartikel auf Gazeta.ru finden können, in dem konkrete Zahlen genannt werden. Es handelt sich um ein Interview mit dem Duma-Abgeordneten Igor Barinow, der zugleich Mitglied des Verteidigungsausschusses des Parlaments ist. Auf die Frage nach den Kosten des im Inland produzierten Rüstungsmaterials antwortet Barinow:
"[...]

Die Preise für die Produkte des militärisch-industriellen Komplexes wachsen stärker als die Inflation und die Löhne. Zum Beispiel [die Rakete] Topol ist innnerhalb von drei Jahren zweieinhalb mal teurer geworden, und das Scharfschützengewehr kostete zu Beginn der 2000er Jahre weniger als 30.000 Rubel und jetzt kauft das Ministerium für Verteidigung [die Gewehre] für 400.000 [Rubel].

[...]"
Rechnet man die eben genannten Rubelpreise für das SW-98 in Euro um, dann betrug der Preis zunächst knapp 770 € und ist später bis auf rund 10.250 € pro Waffe gestiegen. Den Hauptgrund für diese drastische Verteuerung sieht der Abgeordnete im Fehlen genügender Konkurrenz. M.a.W.: Es gibt in der RF zu wenige Anbieter, die somit als Monopolisten agieren können.

Dies treibt die staatlichen Nachfrager zu Käufen im Ausland. War man das schon seit Jahren von den diversen Sicherheitsbehörden gewöhnt, so sind die jüngsten Beschaffungsvorhaben des Verteidigungsministeriums ein Alarmsignal: Drohnen in Israel, evtl. Landungsschiffe in Frankreich (Stichwort: "Mistral") und u.U. sogar Panzerungen für SPWs in Italien oder Deutschland. Dieses Ministerium war bis dato eine sichere Bank, denn es hat grundsätzlich nur in Rußland selbst eingekauft. Jetzt sollte die russische Waffenindustrie jedoch aufwachen und sowohl an ihren Preisen als auch an ihrer Qualität arbeiten.

In die gleiche Richtung gehen auch die Bemerkungen, die Präsident Dmitrij Medwedew anläßlich der Amtseinführung des neuen stellvertretenden Verteidigungsministers Wladimir Popowkin gemacht hat:
"[...]

Aber hier wird die methodische, akribische Arbeit gefordert, insbesondere mit den Lieferanten der technischen Kampfmittel, weil sie manchmal verwöhnt werden, nicht die nötige Qualität liefern und für uns sehr unangenehme Preissteigerungen auftreten.

[...]"
Daß die rußländische Regierung dabei auch vor dem "Schlachten heiliger Kühe" in der Rüstungsindustrie nicht zurückschreckt, hat in den letzten anderthalb Jahren die Krise des unrentablen Waffenherstellers Molot bewiesen. Seit zwei Monaten wird mit der italienischen Firma Beretta über ein Joint Venture verhandelt, mit dem der Kernbereich von Molot - die Fertigung von Handfeuerwaffen - gerettet und modernisiert werden soll. Im Fokus sollen dabei Dienstpistolen sowie Jagd- und Sportwaffen stehen. Für die Umstrukturierung von Molot hat die Regierung im Juni 171 Mio. Rubel (ca. 4,39 Mio. €) bereitgestellt. Das Geld soll vor allem Umschulungsmaßnahmen für entlassene Mitarbeiter und ähnlichen Zwecken dienen.

Für die Waffenhersteller in Ishewsk, namentlich Izhmash und Izhmekh, wurden kürzlich in der Presse ebenfalls radikale Maßnahmen diskutiert. Die oben erwähnten hohen Preise und allgemeine Unrentabilität könnten dort mittelfristig zu größeren Umstrukturierungen führen. Izhmash hat kürzlich eine neue Webseite erstellt, auf der die zahlreichen Zivilwaffen des Unternehmens intensiv (und zweisprachig) beworben werden. Damit findet der Zivilmarkt neue Aufmerksamkeit, während der Behördenmarkt ein wenig zu stagnieren scheint - gerade auch hinsichtlich von Neuentwicklungen wie der AK-200.

Bleibt zu hoffen, daß sich für die Jagd- und Sportwaffen auch geeignete deutsche Importeure finden, die bereit sind, diese nicht gerade kleinen Sortimente bei uns zu vertreiben, ggf. auch auf eine Einzelbestellung hin. Denn eines ist kurios: Zivilwaffen aus einheimischer Produktion sind in Rußland selbst nicht teuer. Wenn sie jedoch in Deutschland auf den Markt kommen, dann liegen die Preise häufig bei 150 bis 250 Prozent des russischen Ladenpreises. Die oben behandelte Preisentwicklung der Behördenwaffen korreliert offenbar nicht mit jener des Jagd- und Sportsegmentes. Anders formuliert: Wenn russische Waffen hierzulande z.T. recht teuer sind, dann liegt das eher an den Importeuren als an den Herstellern.



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Die Fotos sind bei Izhmash entstanden (Quellen: venividi.ru, www.ej.ru).

Freitag, 16. Juli 2010

Erinnerungen an die gute alte Zeit


Der Spionageskandal in den Vereinigten Staaten hat vor einer Woche ein unerwartet schnelles Ende gefunden. Zehn verhaftete Personen haben sich schuldig bekannt, als nichtregistrierte Vertreter eines fremden Staates tätig gewesen zu sein; acht davon haben ferner zugegeben, unter falscher Identität gelebt zu haben. Auf die Stars der Affäre - Anna Chapman, Vika Pelaes und Michail Semenko - traf dies freilich nicht zu und es sind gerade diese beiden, wo die Beweise für die behauptete Agententätigkeit am dünnsten waren und wohl nur durch agents provocateurs des FBI gewonnen werden konnten.
Die Gründe für das schnelle Ende waren vielfältig: Die amerikanische Regierung hatte wohl kein Interesse an einem langwierigen Gerichtsverfahren, dessen Publizität in keinem Verhältnis zum verhandelten Straftatbestand gestanden hätte. Zudem wären darin unweigerlich Details aus der Arbeit der US-Nachrichtendienste offenbart worden. Letzteres wäre besonders pikant gewesen, sollen doch die entscheidenden Tips von einem ehemaligen GRU-Offizier gekommen sein, der vor zehn Jahren desertiert ist. Und die Gerichtsfestigkeit der Beweise dürfte z.T. zweifelhaft gewesen sein.

(In dieser Woche ist aber noch ein mysteriöser zwölfter "Spion" auf- und gleich wieder abgetaucht, dessen Geschichte wiederum Zweifel hinsichtlich der politischen Absichten weckt.)

Im übrigen verweise ich auf diesen Artikel der Washington Post, in dem u.a. dargelegt wird, daß die Festnahme einer langwierigen Vorbereitung, auch auf höchster Ebene, vorausging. Sonach könnte die Herbeiführung eines Agentenaustausches von Beginn an der eigentliche Zweck der Aktion gewesen sein, wobei in der RF wohl überraschend wenige verurteilte Spione im Gefängnis sitzen. Die Verhandlungen über den Austausch wurden dann auf höchster Ebene zwischen den Direktoren von CIA und SWR, Leon Panetta und Michail Fradkow, geführt.

Während die zehn, ausweislich der Anklage, keine Spionage betrieben haben, sieht das bei den vier Russen, gegen die sie ausgetauscht worden sind, schon anders aus. Drei davon sind ehemalige Nachrichtendienstoffiziere (Alexander Saporoschskij, Sergej Skripal und Gennadij Wassilenko), wovon einer für den MI-6 und zwei für die CIA gearbeitet haben.

Der vierte, Igor Sutjagin, ist ein Sonderfall. Er gibt zu, in seiner Funktion als Wissenschaftler verteidigungsrelevante Informationen seines Heimatlandes gesammelt und an eine britische Firma verkauft zu haben. Während Staatsanwaltschaft und Gericht darin eine Tätigkeit für die CIA sahen und ihn verurteilt haben, hat er immer behauptet, diese Informationen seien nicht geheim und der Empfänger sei kein Nachrichtendienst gewesen. An dieser Geschichte haben der Mann und seine Verteidiger bis zuletzt festgehalten; sogar Amnesty International hat sich eingeschaltet und vermeintliche Menschenrechtsverletzungen beklagt.
Dennoch geben zwei Punkte zu denken. Erstens: Warum versank die ominöse, in London ansässige Beraterfirma in der Versenkung, nachdem Sutjagin angeklagt worden war? Alles nur Zufall? Und zweitens: Warum hätten die USA ihn als Austauschobjekt in einem 10:4-Tausch akzeptieren sollen, wenn er angeblich nur der Spionagemanie rußländischer Sicherheitsbehörden zum Opfer gefallen ist? Fazit eines Beobachters: "So we are left to interpret his freeing as either a human rights campaign by the US/UK negotiators or as a successful effort to “not leave a man behind.”"

Die von AI behauptete Zwangsexilierung liegt übrigens nicht vor; alle Ausgetauschten sind begnadigt worden, verfügen über gültige Pässe und könnten daher ohne weiteres in die RF zurückkehren - als freie Menschen, wohlgemerkt. Die zehn in den USA festgenommenen wurden erst einmal zu mehrtägigen Haftstrafen verurteilt, um daraufhin ausgewiesen zu werden. Sie erhielten zudem ein lebenslanges Einreiseverbot für die Vereinigten Staaten, ihr gesamtes Eigentum wurde eingezogen und alle Einahmen, die sie in den USA aus einer eventuellen Verfilmung ihrer "Abenteuer" erzielen könnten, sollen dem amerikanischen Staat zufallen.

Die Agentenaffäre hat sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, Erinnerungen an das Spionagegeschäft des Kalten Krieges wurden wach. Es war diese Öffentlichkeitswirkung und ihre interessante Eigendynamik, mit der sich Sean Guillory in zwei lesenswerten Artikeln (siehe hier und hier) beschäftigt. Das verdeutlicht auch der Fall von Anna Chapman, deren in London lebender Ex-Mann die Gelegenheit nutzte, um seine Gewesene öffentlich bloßzustellen, indem er nicht nur aus ihrem Eheleben plauderte, sondern auch Nackfotos von ihr publizieren ließ.

Was bleibt politisch von der Affäre? Vermutlich nichts. Die Medien konnten das Sommerloch mit reißerischen Stories füllen. Das FBI konnte zehn Jahre lang seine Agenten in der Beobachtung fremder Agenten schulen, deren Gefährlichkeit sich auf das Infilitrieren kleinstädtischer Gartenfeste beschränkte. Manche Kommentatoren veruschen daraus noch Kapital schlagen, indem sie auf der angeblichen Spionagebesessenheit der Russen herumreiten - als ob die Mitarbeiter von CIA, NSA & Co. den lieben langen Tag nur in der Nase bohren und sinnlose Spesen produzieren würden. Doch dergleichen wird hoffentlich niemand ernstnehmen. Ach ja, Miß Chapman wird sich wohl in eine Gerichtsschlacht mit ihrem Ex-Mann stürzen. Aber das ist nur noch ein Thema für die Boulevardpresse.



Weiterführende Links:

U.S. seized opportunity in arrests of Russian spies

Craving Cold War

The Lords Of The Ring

Are your barbecues breeding Bolsheviks?

Wer sind die vier US-Spione?

Agententausch unter Freunden

Bettering the World 14 Spies at a Time

And Then There Were Twelve

Spioniert Obama für Russland?

Spy Swap Photos, Coverage in Russia




Abschließend möchte ich noch einen Aspekt vertiefen, der mit dem oben bereits erwähnten Igor Sutjagin zusammenhängt. Die Angelegenheit ist wirklich kurios: Erst verkaufte er geheime Informationen an einen fremden Staat (konkret GB - wo er zukünftig leben wird - und/oder die USA) und als es ihm dafür an den Kragen gehen sollte, wurde die Menschenrechtskarte ausgespielt: Er sei ein unschuldig verfolgter Wissenschaftler, der in einem politisch motivierten Prozeß verurteilt worden sei. So ließ sich nicht nur Amnesty, sondern auch die von der US-Regierung finanzierte Organisation Freedom House, an deren Spitze ein ehemaliger CIA-Cef steht, vernehmen. Ljudmilla Alexejewa von der Moskauer Helsinki-Gruppe schimpfte über die "Spionomanie", der Sutjagin angeblich zum Opfer gefallen sei. Und dreimal darf man raten, wer an der Fianzierung der Helsinki-Gruppe maßgeblich beteiligt ist - richtig, die Regierungen der USA und des Vereinigten Königreichs.
Diese Idee ist geradezu genial - erst vertrauliche Informationen abschöpfen und dann den Informanten nach seiner Enttarnung als Symbol der "Unfreiheit" im Gefängnis vor sich hin rotten lassen.

Sutjagin ist nicht der einzige, bei dem nach diesem Strickmuster verfahren wurde. Der bekannteste ist wahrscheinlich Alexander Nikitin. Der Marineoffizier hatte Mitte der 1990er Jahre Unterlagen aus seiner Dienststelle entwendet und einer norwegischen Umweltschutzorganisation übergeben. Er hat dies auch nie bestritten, sondern darauf bestanden, daß diese Unterlagen nicht geheim gewesen seien. Nach mehreren Gerichtsverfahren wurde er schließlich freisgesprochen, weil das Strafrecht der RF insofern lückenhaft ist (wenn man es etwa mit dem deutschen vergleicht). Nikitins Beispiel hat Schule gemacht.
Nächster Fall: Grigorij Pasko, ebenfalls Marineoffizier. Er hatte für eine Militärzeitung gearbeitet und als geheim eingestuftes Material an Japan übergeben. Auch er bestreitet die ihm zur Last gelegten Handlungen nicht, sondern behauptet, es hätte sich nicht um Staatsgeheimnisse gehandelt. In seinem Fall haben sich die "Menschenrechtler" zusätzlich auf die Pressefreiheit berufen - wohl in dem Mißverständnis, daß Paskos Dienstpflichten als Staatsdiener durch seine Zeitungstätigkeit aufgehoben worden seien.
Oder Valentin Danilow. Der Physiker hatte Forschungsergebnisse von Geheimprojekten an China weitergegeben. Auch hier ist das Strickmuster wie gehabt: Die Tat an sich wird nicht bestritten, der Angeklagte behauptet nur, daß es keine Geheimnisse gewesen seien. Und wieder sind die unvermeidlichen Menschenrechtler zu seinen Gunsten aufgetreten.

(Ironischerweise sind es dieselben russischen "Liberalen" wie z.B. Julia Latynina, die jedem, der ihre bizarren Vorstellungen nicht teilt, unterstellen, er arbeite für rußländische Geheimdienste.)

Diese Befunde, die ich erst infolge des jüngsten Agentenskandals recherchiert habe, bestärken mich in meiner kritischen Haltung gegenüber der sog. russischen Opposition. Wenn man die Verlautbarungen von Memorial, der Helsinki-Gruppe u.a. liest, dann wird man als durchschnittlicher Deutscher viel hahnebüchenes feststellen. Das heißt nicht, daß es in der RF keine Menschenrechtsverletzungen gäbe! Mitnichten, dergleichen passiert in jedem Land (sonst hätte das deutsche BVerfG nichts zu tun). Aber die von diesen Gruppen hochgeschossenen Fälle von Landesverrätern sind nicht geeignet, auf tatsächlich vorhandene Bürgerrechtsprobleme hinzuweisen.

Die Verurteilten haben hoch gepokert und verloren. Pech gehabt, ich kann kein Mitleid mit einem Offizier empfinden, der aus seiner Dienststelle Unterlagen stiehlt, um sie einem fremden Staat zu übergeben. Daß man so etwas als Staatsdiener nicht tun darf, sollte sich von selbst verstehen. Es ist schon eine Weile her, als ich letztmalig eine Geheimhaltungserklärung unterschreiben mußte, doch soweit ich mich entsinne, ging deren Text sehr weit und läßt sich auf den Tenor bringen: Über alle dienstlichen Vorgänge ist - unter Strafandrohung - Stillschweigen zu bewahren. Punkt. Dies ist weder in Deutschland noch in Rußland eine Menschenrechtsverletzung, sondern gesunde Normalität. Eine öffentliche Verwaltung kann anders nicht funktionieren.



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Fotos: www.russiablog.org.

Samstag, 10. Juli 2010

Ein großer Tag für Anhalt

Am Freitagmorgen, noch während des Frühstücks, haben mich die Nachrichten auf Radio Kultura an das am Abend des 9. Juli 2010 anstehende Großereignis erinnert: In der anhaltischen Kleinstadt Zerbst wurde gestern das deutschlandweit erste Denkmal für Katharina II. enthüllt. Katharina, auch „die Große“ genannt, wurde im Jahre 1729 als Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst-Dornburg in Stettin geboren. In Zerbst lebte sie nur wenige Jahre, bis sie anno 1744 nach Rußland kam, um den Thronfolger Peter III. (welcher ebenfalls deutscher Herkunft war) zu heiraten und später selbst Kaiserin in St. Petersburg zu werden. Sie war, das kann man wohl ohne Übertreibung sagen, das weltgeschichtlich bedeutendste Mitglied der Familie Anhalt und die berühmteste Tochter der Stadt Zerbst.

So nimmt es nicht Wunder, daß man sich dort besonders mit ihr identifiziert. Seit 1992 pflegt ein internationaler Förderverein ihr Erbe und hat auch eine kleine Dauerausstellung eingerichtet. Seit 1995 wurde die Idee eines Katharinendenkmals für Zerbst ventiliert, mit unterschiedlichen Konzepten, Künstlern, Standorten und Finanziers. Schließlich einigte man sich nach langem hin und her auf den Entwurf des Moskauer Bildhauers Michail Perejaslawez. Dieser hat seine Statue der Stadt Zerbst zum Geschenk gemacht.



Gestern konnte das Denkmal eingeweiht werden. (Es war auf den Tag genau 248 Jahre her, daß Katharina II. ihren geistesschwachen Gemahlen mittels eines Staatsstreichs gestürzt und selbst das Ruder übernommen hat.) Bereits um 19 Uhr hatten sich hunderte Gäste in der Zerbster Stadthalle nahe der Schloßruine eingefunden, um dem Festakt beizuwohnen. Darunter waren offenkundig auch viele Russen.
Bürgermeister Helmut Behrendt würdigte das Denkmal als Symbol für die deutsch-russischen Beziehungen. Es sei keine Verherrlichung des von ihr gepflegten Regierungsstils, sondern eine Würdigung der komplexen und keineswegs eindimensionalen Persönlichkeit Katharinas, die sowohl aufgeklärte Monarchin als auch autokratische Herrscherin war.



Als Vertreter der Botschaft der Rußländischen Föderation hat (leider) nur der Gesandte Alexander Petrow erscheinen können. Er entschuldigte das Fehlen des angekündigten Botschafters. Der alte Botschafter Wladimir Kotenjew hat seine Amtsgeschäfte bereits abgegeben, sein Nachfolger Wladimir Grinin befindet sich jedoch erst seit wenigen Tagen in Berlin und konnte sich nicht freimachen.
In seinem Grußwort erinnerte Petrow (der fließend Deutsch spricht) daran, daß Zerbst eine große Bedeutung für die Geschichte Europas hat. Die Zarin Katharina II. habe Rußland zur europäischen Großmacht gemacht und im Innern grundlegend reformiert, insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Frucht der Arbeit dieser aufgeklärten Herrscherin sei allerdings erst im frühen 19. Jahrhundert aufgegangen, als russische Kunst und Literatur eine erste Blüte erlebten. (Man denke nur an Puschkin.) Während ihrer Regierungszeit sind viele Deutsche nach Rußland gekommen und haben zu dessen Entwicklung entscheidend beigetragen.
Damit schlug Petrow die Brücke zur Gegenwart: Auch heute biete sein Land für die deutsche Wirtschaft viele Chancen. Schließlich erinnerte er daran, daß Mitte Juli die deutsch-russischen Regierungskonsultationen in Jekaterinburg stattfinden werden – also in einer Stadt, die nach der Zarin benannt worden ist. Neben den offiziellen Veranstaltungen wird es dort auch solche von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem Petersburger Dialog geben. Die deutsch-russischen Beziehungen haben heute viele Ebenen.



Der sachsen-anhaltische Staatsminister und Chef der Staatskanzlei Rainer Robra begann seine Rede mit der Bemerkung, daß der 9. Juli ein historischer Tag für Zerbst sei. Die große Tochter der Stadt war eine historische Ausnahmeerscheinung und hat ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen. Katharina sei eine der ersten Karrierefrauen gewesen; insofern gebe es Ähnlichkeiten mit Angela Merkel, die aus ihren Sympathien für die Zarin auch keinen Hehl mache. In der Geschichte Anhalts habe es viele bemerkenswerte Fürsten gegeben, doch Katharina überrage sie alle. Sie war eine hochgebildete Frau, zugleich Autokratin und Reformerin.
Robra sieht im neuen Denkmal ein Zeugnis der deutsch-russischen Beziehungen; es sei eine Brücke von Zerbst nach St. Petersburg. (Der Petersburger Vorort Puschkin, früher Zarskoje Selo, ist eine Partnerstadt von Zerbst.) Er erinnerte besonders an die große wechselseitige kulturelle Anziehungskraft. Nach einer wechselvollen Geschichte, deren Schatten nicht vergessen werden, sind unsere beiden Staaten nun in die Ära des friedlichen Miteinanders eingetreten, sind Freunde und Partner geworden.



Der Festakt klang mit fünf Musikstücken Peter Tschaikowskijs aus, die von der Anhaltischen Philharmonie in gewohnt hoher Qualität vorgetragen und vom Publikum mit starkem Applaus bedacht wurden.




Gegen 21 Uhr schritt man dann zum Höhepunkt des Abends: der Enthüllung des Denkmals und der anschließenden Weihe durch den russisch-orthodoxen Erzbischof Feofan (Berlin) sowie den evangelisch-landeskirchlichen Propst Siegfried Kasparick (Wittenberg). Dies habe ich im folgenden Video festgehalten (wobei ich um Pardon für die etwas magere Qualität bitte):





Darauf folgten noch eine kurze Ansprache des Bildhauers sowie Dankesworte des Fördervereins an die an der Errichtung des Denkmals beteiligten Personen, wobei die gegenseitigen Freundschaftsbekundungen immer wortreicher und herzlicher wurden. Als Zuschauer habe ich empfunden, daß dies nicht nur hohle Phrasen waren, die man dem Protokoll schuldig war. Und das tat gut, ist doch die Stimmung in der veröffentlichten Meinung bisweilen eine andere.



Zu dem festlichen Anlaß hatten sich, soweit ersichtlich, weit über tausend Bürger der Stadt und andere Gäste eingefunden. Es herrschte (gemäßigte) Volksfestatmosphäre, die durch den anschließenden Auftritt einer russischen Musikgruppe noch verstärkt wurde. Den Abschluß der gelungenen und angemessenen Feierlichkeiten bildete ein Feuerwerk am späten Abend.




Die starke Medienpräsenz hat mich erstaunt, immerhin ist Zerbst nur eine kleine Provinzstadt. Trotzdem waren allein während des Festaktes sieben Kamerateams im Saal. (Es wäre schön, wenn die deutschen Journalisten lernen würden, sich dem Anlaß angemessen zu kleiden.) In Rußland war das Denkmal ein nationales Ereignis. Ich kam zufällig neben dem Team des Fernsehsenders NTW zu sitzen und später zu stehen worden (danke für die Benutzung des Stativs! ;-)), weshalb ich beispielhaft deren Bericht hier wiedergeben möchte:






Abschließend zum Denkmal selbst: Die 4,70 m hohe Skulptur steht im Zerbster Schloßgarten, unmittelbar vor dem Haupteingang der ehemaligen Reithalle, die heute als Stadthalle dient. Ein deutscher Reporter hat sich über den historistischen Stil des Künstlers mokiert. Meinen Geschmack trifft es hingegen voll und ganz – genau so muß ein würdiges Herrscherdenkmal aussehen. Und nach all den Verirrungen der modernen Kunst tut die Betrachtung einer so gediegenen Arbeit richtig gut. :-) Wer mag, kann auch Vergleiche mit dem Katherinendenkmal im Herzen Petersburgs anstellen.









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Freitag, 9. Juli 2010

Zwei Schützengenerationen


Das obige Bild zeigt zwei Generationen Spitzenschützen aus Rußland bzw. der früheren Sowjetunion. Links Allan Richardowitsch Erdmann (manchmal auch Alan Erdman geschrieben). Er war in den 1950er Jahren ein erfolgreicher Gewehrschütze. Er gewann u.a. olympisches Silber in Melbourne 1956 (Dreistellungskampf, 300 m). Geboren im Jahr 1933 ist er seiner Herkunft nach Jude oder Rußlanddeutscher (wie übrigens auch ein späterer sowjetischer Top-Schütze und Cheftrainer, Ludwig Lustberg), doch genaueres über seine Biographie konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen. Später schlug Erdmann die Trainerlaufbahn ein und betreut seit Beginn der 1990er Jahre die rechts abgebildete Dame: Ljubow Wladimirowna Galkina.

Sie wurde am 15.03.1973 in Alapajewsk im Ural geboren. Bereits während ihrer Schulzeit betrieb sie, neben anderen Sportarten, das Schießen und hat in der DOSAAF trainiert. Ihre erste Serie hatte sie im Alter von zwölf Jahren geschossen und dabei aus dem Stand 91 von 100 Ringen erzielt. Nach dem Abschluß ihres Ingenieurstudiums an der Staatlichen Technischen Universität des Uralgebietes in Jekaterinburg ist sie seit 1997 de facto Profisportlerin; derzeit gehört sie einem Sportklub der Armee an und bekleidet den Rang eines Majors.
Sie ist mit Jewgenij Alejnikow verheiratet, der ebenfalls Olympaischütze war und heute als Trainer arbeitet. Die beiden haben einen Sohn und wohnen in Domodedowo nahe Moskau. Zuhause unterhalten sie sich jedoch nicht über ihren Sport, es reiche, wenn man sich tagsüber damit beschäftigt. Von der Jagd hält Galkina übrigens - im Gegensatz zu vielen ihrer Schützenkollegen - nicht viel.



Ljubow Galkinas Training gestaltet sich bisweilen etwas umständlich, muß sie doch mit dem Luftgewehr auf einem anderen Stand schießen als mit dem Kleinkalibergewehr und verbringt deshalb täglich mehrere Stunden im Auto. Ihre sportliche Erfolge können sich dennoch sehen lassen: 2004 bei den Olympischen Spielen in Athen Gold im Dreistellungskampf über 50 m sowie Silber mit dem Luftgewehr über 10 m; 2008, nach ihrer Babypause, bei der Olympiade in Peking ebenfalls Silber mit dem LG. Dazu kommen ein Weltmeistertitel aus dem Jahre 2006 sowie mehrere EM-Medaillen. Bei den diesjährigen rußländischen Meisterschaften stand sie ebenfalls auf dem Treppchen. Und sie wird auch an der Ende Juli in München beginnenden WM teilnehmen, wobei sie auf Waffen der deutschen Firma Walther vertraut.

Wünschen wir Galkina (wie allen Sportschützen) einen erfolgreichen Verlauf der Weltmeisterschaft und ihrem erfahrenen Trainer Erdmann ein langes Leben. Es wäre schön, wenn er noch die Zeit fände, ein Interview zu geben oder ein Buch zu schreiben ... Sein Schützling ist überhaupt nicht öffentlichkeitsscheu und hat zahlreiche längere Interviews gegeben, die von Mainstreammedien gedruckt wurden und sich ohne Probleme im Netz finden lassen.



Bibliographie:

Interview (Moskwitschka)

Interview (Krasnaja Swesda)

Interview (Shooting UA)

Interview mit Galkina und Alejnikow (Shooting UA)

Ein Tag mit Ljubow Galkina

Wikipedia




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Fotos: moscvichka.ru, www.shooting-ua.com, www.turin2006.com.

Freitag, 2. Juli 2010

Spionagevorwurf: Der Berg kreißte ...


... und gebar eine Maus. Auf diese Formel läßt sich wohl der Spionageskandal bringen, in den angeblich russische Spione in den USA verwickelt sein sollen. Als die ersten Meldungen darüber veröffentlicht wurden, dachte ich spontan, daß es angesichts des Getöses wahre Super-Spione sein mit Kontakten ins Pentagon oder Weiße Haus sein müßten. Mittlerweile ist klar, daß es selbst nach Meinung der US-Staatsanwaltschaft eben keine Spione waren. Ja, das ist richtig, denn man legt den Festgenommenen nicht etwa Spionage zur Last! In den Dokumenten der Staatsanwaltschaft heißt es vielmehr:
"[...]

In total, 11 defendants, including the 10 arrested, are charged in two separate criminal complaints with with conspiring to act as unlawful agents of the Russian Federation within the United States. Federal law prohibits individuals from acting as agents of foreign governments within the United States without prior notification to the U.S. Attorney General.

[...]"
Also weder Spionage noch Geheimnisverrat, sondern angebliche Tätigkeit als Vertreter eines fremden Staates, ohne dies zuvor beim US-Justizminister angezeigt zu haben. In einem amerikanischen Blog wurde schon gemunkelt, daß dies im Ergebnis auf eine Verurteilung wegen politischen Lobbyings ohne vorherigen Eintrag in die Lobbyliste hinauslaufen könnte. Pardon, aber die Vorwürfe gegen Super-Spione sehen anders aus.
Um der Anklage mehr Gewicht zu verleihen - der o.g. Straftatbestand trägt nur eine Höchststrafe von fünf Jahren - wird einigen außerdem Geldwäsche vorgeworfen, was die Betreffenden immerhin für zwanzig Jahre ins Gefängnis bringen könnte.

Wenn man den Nebel aufgewühlter Berichterstattung beiseitewischt, so treten reichlich banale Fakten zutage, die - wenn die Anklagebehörde nicht demnächst noch dramatische Beweise vorlegt - die Aufregung kaum wert sein dürften. Einem der Beschuldigten ist wohl zum Verhängnis geworden, daß er vor Jahren in China studiert hat. Eine peruanische Journalistin scheint aufgrund ihrer kritischen Artikel ins Visier der US-Behörden geraten zu sein. Bei anderen wird der Beweis für ihre "Agententätigkeit" darin gesehen, daß sie mehrfach mit Botschafts- oder Konsularbeamten der Rußländischen Föderation Kontakt hatten. Wenn es nach dieser paranoiden Anschuldigung ginge, wäre auch ich ein "russischer Spion", habe ich doch schon Attachés und anderen Offiziellen die Hand geschüttelt. Wobei es vielleicht doch nicht ganz so absurd ist, wenn die Staatsanwaltschaft vor Gericht keine Spionage, sondern lediglich die Tätigkeit als "unangemeldeter Vertreter" Rußlands beweisen will.
Dennoch mutet das ganze recht absonderlich an. Zudem wurde ein Teil der Beweise von agents provocateurs des FBI gesammelt. D.h. die Beschuldigten haben erst nach Aufforderung durch die Polizei Handlungen begangen, welche die Staatsanwaltschaft als illegal ansieht. Fragt sich nur, wie das Gericht dieses Vorgehen einschätzen wird.

Welche hochbrisanten Informationen sollen die Beschuldigten denn gewonnen haben? Haben sie Ministerien oder die Streitkräfte infiltriert? Davon ist keine Rede, vielmehr sollen sie über allgemeine politische Fragen nach Moskau berichtet haben: Die Verhandlungspositionen bezüglich des START-Vertrages, die US-Politik in Afghanistan usw. usf. Was haben sie getan, um an diese Informationen zu kommen? Vielleicht Zusammenfassungen der amerikanischen Presse geschrieben oder Newsletter diverser Think-tanks abboniert? Pardon, aber einem "Spion", der diesen Namen verdient, sollte man schon echte geheimdienstliche Tätigkeit nachweisen können.
Sollten die Beschuldigten tatsächlich Informationen nach Rußland übermittelt haben, dann dürfte das kaum mehr als "open source intelligence" gewesen sein. Echte "Deep-cover"-Spione (so werden die Festgenommenen in den USA genannt) würden jedenfalls nicht in einem "Spionagering" zusammenarbeiten, der sämtlichen Regeln der Konspiration widerspricht.

Und dann taucht der unvermeidliche Oleg Gordievsky auf. Dieser Mann lebt seit seiner Fahnenflucht 1985 (!) in Großbritannien, doch wird er immer wieder von den Medien als vermeintlicher Experte für die Nachrichtendienste Rußlands bemüht. Woher sollte jedoch sein angebliches Hintergrundwissen stammen? Aus Rußland wohl kaum, vielmehr dürfte ihm der SIS etwas souffliert haben, was er nun an die Öffentlichkeit bringen soll. So auch dieser Tage mit der so furchtbaren Nachricht, daß in den USA angeblich 50 russische "Spionagefamilien" leben sollen. Behauptungen eines alten Wichtigtuers ohne Belege.

Mancherorts wurde dieser Tage auch darauf hingewiesen, daß die Aktivitäten der rußländischen Nachrichtendienste eine Intensität wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges erreicht hätten. Abgesehen davon, daß diese Behauptung in keinster Weise überprüfbar ist (nicht einmal für Mitarbeiter der Spionageabwehr - warum sollten sie alle Aktivitäten anderer Dienste kennen?), so ist sie außerdem naiv und/oder heuchlerisch. Staaten versuchen immer, Informationen über die politische "Hinterbühne" anderer Staaten zu gewinnen und sie bedienen sie zu diesem Zweck - neben anderen Instrumenten wie den diplomatischen Vertretungen - auch ihrer Nachrichtendienste. Das war immer so, das ist so und das wird auch immer so sein. Ferner gilt: Solange CIA, BND & Co. fleißig gegen Rußland spionieren (Norbert Juretzko berichtet in seinen Publikationen nicht ohne Stolz davon), haben sie kein Recht, sich über ähnliche Aktivitäten russischer Dienste zu beklagen. Man und sollte derartige Operationen natürlich abwehren, aber man kann schlechterdings nicht darüber jammern.
(Des weiteren vermisse ich ebenso deutliche Auftritte deutscher Politiker gegen die Aktivitäten der US-Dienste in und gegen Deutschland - Stichwort: Echelon. Hier wird doch nicht etwa mit zweierlei Maß gemessen?)

Die Anschuldigungen sind, wie wir gesehen haben, nach jetzigem Stand reichlich dünn. Der Berg kreißte - und gebar eine Maus. Da erhebt sich natürlich die Frage, weshalb so viel Getöse veranstaltet wird. Warum schreiben manche Zeitungen trotz der dürren Fakten von einem Fall im Ausmaß des Kalten Krieges, obwohl es damals dergleichen nicht gegeben hat? Warum erfolgte die medienwirksame Festnahme kurz nach dem gemeinhin als positiv bewerteten Besuch Dmitrij Medwedews in den Vereinigten Staaten, wo das FBI den vermeintlichen Spionagering doch schon zehn Jahre lang observiert haben will? Da liegt der Verdacht nahe, daß es Beamte in den amerikanischen Sicherheitsbehörden gibt, die den Republikanern nahestehen und die Rußlandpolitik ihres Präsidenten torpedieren wollen, indem sie gerade zum jetzigen Zeitpunkt diese "Verschwörungen" aus dem Hut zaubern. Selbst wenn dies in der großen Politik nicht gelingen sollte, dann wird wenigstens der amerikanischen Öffentlichkeit das "Reich des Bösen" (Ronald Reagan) als ewiger Feind präsentiert. Wen kümmern da schon Fakten.
(BTW: Reagan hat im Jahre 1988 die Kraft gefunden, seine berühmt-berüchtigte Äußerung zurückzunehmen. Anderen US-Politikern fehlt diese jedoch bis heute.)

Welche internationalen Folgen wird der "Spionageskandal" voraussichtlich haben? Da die Beschuldigten vermutlich weder Spione noch sonstige "Agenten" sind, wird es wohl auch keine Retorsion - etwa in Form einer Ausweisung von US-Diplomaten oder ähnlichem - geben. Allerdings dürfte sich der Stil, mit dem solche Fälle behandelt werden, ändern. Bisher war es in Rußland üblich, überführte Spione - alleine 149 im Jahr 2008 - aus dem Verkehr zu ziehen, ohne daraus einen öffentlichen Skandal zu machen. Die Gerichtsverhandlungen fanden hinter verschlossenen Türen statt und die Beschuldigten wurden - je nach ihrer Kooperationsbereitschaft mit dem Gericht - zu mehr oder minder kurzen Haftstrafen verurteilt und Ausländer danach einfach abgeschoben. In der russischen Presse wurde zwar bisweilen gemunkelt, der Angeklagte habe etwa für den deutschen BND oder für einen chinesischen Dienst gearbeitet, doch wurde dergleichen in fast keinem Fall offiziell bestätigt. In der RF geht man damit pragmatisch um: Die spionieren gegen uns und wir spionieren gegen sie. Ergo werden die ertappten "Kundschafter" verurteilt, ohne die Beziehungen zu jenen Staaten, für die sie tätig waren, zu belasten. Das könnte sich in Zukunft ändern. Ob sich die USA mit dieser aufgeblasenen Affäre einen Gefallen getan haben?

Was bleibt also von der ganzen Aufregung? Zunächst die Erinnerung an eine Lachnummer. Und, wie ein amerikanischer Jurist und Blogger bemerkt, vielleicht die politische Karriere eines nachrangigen Staatsanwalts:
"yeah, i think there is a prosecutor in NY who has his eye on a political career ... based on the allegations in the complaints, this was apparently the most half-assed "espionage" operation ever - they met a former nuclear scientist ... oh noes!"
Andernorts begründet er diese Hypothese wie folgt:
"[...]

The career hypothesis was an inescapable conclusion after reading how the prosecutor Michael Farbiarz gesticulated at Chapman and exclaimed, “This is a Russian agent!” Fabiarz isn’t a nobody – he led the Oil for Food scandal prosecutions – but he’s only an Assistant U.S. Attorney and AUSA’s in NY’s southern district often try to springboard off of major cases into politics or leadership positions at main justice. You’re right, though, the “espionage” charges are extremely weak (“oooo, you didn’t register with the state department”), and a bright middle school student could bring a successful money laundering case. To me, it seems like they hadn’t amassed anything significant on these people over years of surveillance, and the prosecutor hastily arranged fake meetings with “Russian officials” – literally last Saturday in Chapman and Semenko’s cases."

Weiterführende Links:

Spy vs. Spy! Feds Bust SVR "Deep Cover" Espionage Ring

Russia Is Laughing at Us

FBI arrests of 10 "Russian spies" reveal a sloppy operation

Why Weren't the Russian 'Spies' Charged with Espionage?

Spionage-Affäre: Schlechtes Timing

Are the Russians Really Coming?

Obama is a Bum, Quick Bring Out the Bad Russians

The Empire Strikes Back?

Spy Ring’s Ripple Effects: Will the Arrests Hurt Other Operations?

Not-Quite-Secret Agents: the Spy Scandal

The rank naivete of the BBC: or, states spy on each other!



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Bild: AP.

Donnerstag, 1. Juli 2010

Jefim Chajdurows Erstlingswerk


Die Freie Pistole TOZ-35 ist Sportschützen auf der ganzen Welt ein Begriff. Seit 1962 wird sie im Tulaer Waffenwerk gefertigt und hat Standards für das 50-m-Kurzwaffenschießen gesetzt (ausführlich zu dieser Waffe und ihrer Geschichte vgl. den hervorragenden Artikel von Ulrich Eichstädt in Visier 5/2008).
Schon etwas weniger bekannt ist der Name ihres Konstrukteurs: Jefim Leontjewitsch Chajdurow (manchmal auch Efim Khaidurov geschrieben). Am 16.01.1925 im burjatischen Dorf Molta geboren, begann er 1948, nach fünfjährigem Militärdienst (zuletzt als Chiffrieroffizier im Generalstab), ein Ingenieurstudium in Moskau. Während seines Studiums war Chajdurow zum Sportschießen gekommen und sogar in eine Auswahlmannschaft aufgenommen worden. Während die besten Schützen mit Pistolen von Hämmerli schossen, mußte er mit einer MZ-2 aus Tula Vorlieb nehmen. Diese stellte ihn jedoch nicht zufrieden, erschien ihm unausgewogen.

Also versuchte er sich an der Verbesserung dieser Pistole. Nach Gesprächen mit seinem Trainer Schgutowym kam Chajdurow zu der Überzeugung, daß eine vollständige Neukonstruktion vonnöten sei. Der Trainer ging zum Dekan der Fakultät, um das bereits vergebene Thema für Chajdurows Diplomarbeit dahingehend abzuändern, daß er nun eine Pistole konstruieren sollte. Nach einigem Hickhack hat die Hochschule diesem Ansinnen schließlich zugestimmt. Es handelte sich um die berühmte Staatliche Technische Universität Moskau, welche seit 1930 den (typisch russischen ;-)) Namen des Berufsrevolutionärs Nikolaj Ernestowitsch Baumann trägt.



Deshalb wird die hier vorgestellte Pistole auch als "Baumanez" bezeichnet. Ihr korrekter Titel ist allerdings Ch-1MT (russ.: Х-1МТ, eng.: Kh-1MT) und sie ist einer von drei Prototypen, die 1959 von Chajdurow in den Werkstätten der Uni hergestellt worden sind. Sie wurde vollständig aus Stahl gefertigt, während bei den beiden anderen Prototypen mit Duralaluminum experimentiert wurde. Letztendlich hat sich diese gewichtssparende Technologie aber nicht durchgesetzt, weshalb in der Serienfertigung, die 1962 in Tula unter dem Namen TOZ-35 anlief, für die Metallteile nur Stahl verwendet wurde.

Der Konstrukteur selbst hat mit seiner Pistole ausgezeichnete Resultate geschossen. Nach 1959 haben sich auch viele andere Schützen positiv über die Ch-1MT geäußert, was den Ausschlag für ihre industrielle Fertigung gegeben hat. Kurzum: Eine Waffe von Schützen für Schützen.

Jefim Chajdurow war ein sehr umtriebiger Mensch. Während seines ganzen Lebens (das noch andauert!) ist er sowohl der Waffenindustrie als auch dem Schießsport verbunden geblieben, war zugleich Schütze und Konstrukteur. Er hat sowohl in Tula als auch in Ishewsk an der Entwicklung von Sportpistolen und -revolvern gearbeitet. Seine Ideen wurden auch bei ausländischen Modellen wie der Feinwerkbau AW93 aufgegriffen. Derzeit ist Chajdurow als Chefingenieur an der neuen Demjan SP-08 beteiligt.
Während seiner Laufbahn als aktiver Schütze hat er in verschiedenen Disziplinen mit Groß- und Kleinkaliberkurzwaffen Medaillen auf sowjetischen, Europa- und Weltmeisterschaften gewonnen. Danach war er als Trainer tätig und außerdem von 1972 bis 1986 Mitglied der UIT-Pistolenkommission. In Kaluga wird seit einigen Jahren im Januar anläßlich seines Geburtstages der Chajdurow-Pokal in den olympischen Kurzwaffendisziplinen ausgetragen, an dem Jefim Leontjewitsch zumeist als Ehrengast teilnimmt. Ein kleiner Artikel von ihm in deutscher Sprache ist hier zu finden.



Bibliographie:

Talks.guns.ru (Waffengeschichte und -bilder)

Toz35.blogspot.com (Waffengeschichte und Foto von Je.Ch.)

Shooting-ua.com (Biographie)

Wiki.buryatia.org (Biographie)

U. Eichstädt: Besuch der alten Dame, in: Visier 5/2008, S. 38 ff.




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24.05.2009: Video des Tages