Samstag, 31. März 2007

Kultur, Religion und Recht

Unter dem Titel "Das Recht steht über jeglicher 'Kultur'" hat Richard Herzinger einen Kommentar zum Verhalten einer Frankfurter Richterin, die mit dem Koran argumentiert hatte, geschrieben. Dieser Text ist - wie bei ihm üblich - nicht übermäßig lesenswert, enthält aber doch zwei Absätze, auf die hier kritisch eingegangen werden soll.

"[...]

Die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Menschen verstößt gegen die Menschenwürde und damit gegen die grundlegenden Menschenrechte. Diese sind universal und stehen absolut über allen Vorschriften, die aus einer bestimmten kulturellen Tradition abgeleitet werden. Wie Religionen sind Kulturen nur akzeptabel, wenn sie sich fähig zeigen, diese Vorherrschaft des universalen Rechts anzuerkennen und umzusetzen.

[...]"

Der erste Satz stimmt nicht, zumindest dann nicht, wenn man sich im Kontext des deutschen Rechts bewegt. Die körperliche Unversehrtheit ist genauso wie das Leben (und die Freiheit der Person) in Art. 2 II GG geschützt. Allerdings stehen diese Grundrechte sämtlich unter dem Gesetzesvorbehalt in Satz 3. D.h., in Deutschland darf in die körperliche Unversehrtheit ggf. eingegriffen werden. Die in Art. 1 I GG absolut geschützte Menschenwürde ist davon nicht notwendig tangiert. Anderenfalls wäre etwa der von der Polizei bei Geiselnahmen unter Umständen abgegebene finale Rettungsschuß verfassungswidrig. Das gleiche gilt für staatlich angeordnete medizinische Untersuchungen, z.B. nach dem Infektionsschutzgesetz. Diese Kette geht also nicht auf.
Im zweiten Satz unterstellt Herzinger eine Universalität der "Menschenrechte", die er (und viele andere) zwar behaupten, die aber nur sehr bedingt wirklich anerkannt ist.

Sodann leitet er auch schon zum dritten Satz über, in dem die Suprematie des "universalen Rechts" über jegliche kulturellen Regeln behauptet wird. Und an dieser Stelle erleidet er Schiffbruch, denn er übersieht das Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem Recht einerseits und Religion bzw. Kultur andererseits. Die These, daß ewige und überall geltende, also nach Zeit und Raum universale Menschenrechte existieren würden, ist ein Produkt der Aufklärung, mithin selbst das Ergebnis einer bestimmten Kultur und eines bestimmten Zeitgeistes. Herzinger kann oder will nicht begreifen, inwieweit das Recht (bzw. das, was er dafür hält) selbst durch kulturelle und religiöse Einflüsse geprägt ist, auch in Deutschland.
Der zweite in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Punkt ist die Forderung nach einer Überordnung des Rechts, für das Kultur und Religion nur eine dienende Funktion haben sollen. Also keine irgendwie geartete Zwei-Reiche-Lehre wie bei Augustinus oder Luther, keine getrennten Sphären von Staat und Religion, sondern der Staat (oder das "Recht") wird in Herzingers Modell selbst zur obersten Religion, die andere Götter nur bedingt neben sich dulden kann. Dieses wahrhaft totalitäre Modell hatte man im 20. Jahrhundert schon verschiedentlich ausprobiert - und es hat immer im Desaster geendet.

"[...]

Darüber wurde vergessen, dass Kulturen nicht voraussetzungslos schützenswert und unantastbar sind. Kulturen können vielmehr grausam, mörderisch und menschenunwürdig sein, und es ist die Pflicht der zivilisierten Menschheit, die Einzelnen vor der Unterwerfung unter brutale Gebote ihrer eigene Kultur zu schützen.

[...]"

Aber das Recht ist voraussetzungslos? Und Kulturen sind nur nach Maßgabe derjenigen schützenswert, die sich selbst für "zivilisiert" halten? Da erhebt sich auch spontan die Frage, welchem Bereich wohl die Todesstrafe bzw. die Forderung nach ihr zuzurechnen ist: der Zivilisation als Teil des Strafrechts oder der Kultur als Ausdruck des archaischen Verlangens nach Blutrache?

Miszellen IV

Kürzlich sind mehrere Texte publiziert worden, die sich mit der Frage nach der zukünftigen Weltordnung beschäftigen: The New New World Order in Foreign Affairs und Das Weltsystem im Jahr 2020 in der Zeit. Einige Monate älter ist die EU-Studie The New Global Puzzle (pdf).

Ein Kommentator in der von mir grundsätzlich präferierten Tageszeitung glaubt doch tatsächlich, die Multipolarität in der Weltordnung sei kein Ist-Zustand, sondern nur eine Zukunftsvision.

Henry Kissinger hat einen lesenswerten Text über die russisch-amerikanischen Beziehungen in der IHT: The icon and the eagle.

Michael Ludwig meint in der FAZ, daß die russisch-chinesische Zusammenarbeit auf tönernen Füßen stehe.

Nicht nur deutsche politische Zeitschriften beschäftigen sich derzeit schwerpunktmäßig mit Rußland, auch der Washington Quarterly tut dies.

Nachtrag: Der Blog des Teheran-Korrespondenten Martin Ebbing widmet sich exklusiv der Iran-Krise.

Ist es Zufall, ...

... daß häufig die gleichen Personen, die russophobe Positionen vertreten, auch in ihrem Denken über Fragen der internationalen Politik (und der Innenpolitik fremder Staaten) etwas ... nun ja, beschränkt ... oder infantil ... oder einfach nur dumm zu sein scheinen? Leute, die wie im Sandkasten die Welt nur manichäisch in gut und böse unterteilen können? (Das ist kein Phänomen 'bildungsferner Schichten', denn die Beschreibung trifft selbst auf Menschen mit Hochschulabschluß zu.)
Ein Beispiel dafür ist der Blogger von A Step At A Time, der sich selbst wie folgt charakterisiert:
"Reflections on the world post-9/11, by a British writer, translator and musician who engaged for many years in the debates of the Cold War, and who tends to see the world’s present troubles as a continuation of the old common struggle with tyranny and oppression."

Wie ließe sich ferner erklären, daß Robert Amsterdam (seines Zeichens Rechtsbeistand von Michael Chodorkowski und gleichfalls Blogger) durch die europäische und nordamerikanische Presse als Sachverständiger für das russische Rechtssystem herumgereicht wird und sich dort nahezu unwidersprochen mit seiner Geschichte verbreiten darf? Das ist in etwa dasselbe, als hätte man in den 70ern die RAF-Anwälte Mahler, Schily und Ströbele zu ultimativen Autoritäten bezüglich bundesdeutscher Gerichte und Gefängnisse erhoben.
Aber wir halten fest: Offenkundig hat auch die "freie Presse" keine Probleme mit einer hidden agenda.

Freitag, 30. März 2007

Selektive und fiktionale Wahrnehmung

Aus einem Artikel über die Leipziger Buchmesse:
"[...]

Gerade in Leipzig, der Messestadt der alten DDR, so sagte Ryklin, dürfte noch gut in Erinnerung sein, wie eine forcierte "Freundschaft" mit dem großen Bruder in Moskau zu einer weitgehend fiktionalen oder selektiven Wahrnehmung der Gesellschaft und Kultur des anderen Landes führe, ja eigentlich einer gegenseitigen Missachtung gleichkomme."

Recht hat er! Fragt sich nur, wessen Wahrnehmung Rußlands hierzulande selektiv und fiktional ist. Wohl eher die der Laudatorin Kerstin Holm u.a. FAZ-Korrespondenten, deren Texte - wie etwa ihr Lobpreis auf A. Politkowskaja als vermeintlich letzter Hoffnung des russischen Volkes, deren Tod zu allgemeiner Depression geführt habe - oft so weit von der Wirklichkeit in Rußland entfernt sind, daß man als 'Insider' nur lachen kann, gleichzeitig aber diejenigen Menschen bedauert, welche nur aus solchen Quellen (des-)informiert werden.

Ein weiteres Beispiel für die von Holm transportierten Mythen ist dieser Satz:
"[...] Die russische Demokratie der neunziger, so erscheint es aus heutiger Sicht, verdankt sich auch einem Machtvakuum und der zivilisierenden Altersmilde der Sowjetgesellschaft, die noch nachwirkte. [...]"

Wir erinnern uns: Die so gerühmte "Demokratie" im Rußland der 90er Jahre hatte zwei besondere Höhepunkte: 1993 die Außergefechtsetzung des legitimen Parlaments durch Militär (die man auch als Staatsstreich bezeichnen könnte) und 1996 die Präsidentenwahlen, bei denen der (im "Westen" gefürchtete) KP-Chef Sjuganow nur verloren hat, weil ihm der Zugang zu staatlichen und staatsnahen Medien beschnitten worden ist und weil Jelzin von den Oligarchen und aus dem Ausland massiv finanziell unterstützt wurde. Vom autokratischen Regierungsstil Jelzins mit der damit einhergehenden Marginalisierung der Staatsduma, der undemokratischen Macht der Oligarchen u.a. ganz zu schweigen.
Also wahrhaft kein verklärungswürdiger Zustand, weshalb schon das Wort Demokratie noch heute bei nicht wenigen Russen diskreditiert ist. Aber davon bekommt der durchschnittliche deutsche Medienkonsument nichts mit, stattdessen werden ihm eine goldene Vergangenheit und eine im Vergleich dazu schrecklich finstere Gegenwart vorgegaukelt.

PS: Leider beschränken sich diese Probleme nicht auf deutsche Medien.

Donnerstag, 29. März 2007

Abhängigkeiten

Vor einigen Tagen hat Klaus Naumann ein Interview gegeben, in welchem er sich - auch dank einer geschickten Gesprächsführung - zu Abhängigkeiten in der deutschen Außenpolitik geäußert hat:
"[...]

Klein: Ist es denn politisch auch nicht nachzuvollziehen aus Ihrer Sicht und auch nicht klug von Seiten der deutschen Außenpolitik, sich jetzt ja doch ein wenig solidarisch schützend vor Moskau zu stellen?

Naumann: Also ich meine, die deutsche Außenpolitik wäre gut beraten zu überlegen, wo denn der Bündnispartner ist und von wem man mehr braucht und von wem man stärker abhängig ist. Auf Gedankenspiele zu setzen, dass man, wie es ja auch mal in der deutschen Politik gewesen ist, dass man Achsen zwischen Moskau und Berlin und vielleicht noch verlängert nach Paris schmiedet, von diesem strategischen Unsinn sollte man möglichst rasch Abschied nehmen. Ich glaube, das hat auch die Bundesregierung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bundeskanzlerin auch nur im Entferntesten an derartigen Unsinn denkt. Was man tun muss, ist mit Russland reden und mit Russland darüber sprechen, dass man nichts tut, was die gegenseitigen Interessen beeinträchtigt. Aber wenn die Generale in Moskau sich nicht ihr Schulgeld wiedergeben lassen wollen, dann müssen sie ihrem Präsidenten schon mal die richtigen Sachen aufschreiben und nicht über das falsche Pferd nun ein Geschrei entfachen.

Klein: Sie sprechen davon, man solle sich überlegen, von wem man abhängig ist. In Washington hat man sehr stark den Eindruck, dass Europa und auch Deutschland sich vor allen Dingen stark von Russland abhängig fühlen, nämlich in der Energiefrage, und dass dies auch im Hintergrund das zentrale Motiv dafür ist, sich jetzt auch in dieser Frage genau so zu verhalten. Eine Abhängigkeit, auf die wir keine Rücksicht nehmen sollten?

Naumann: Also wir sind sicherlich mit Russland in einem Verbund, in einem Energieverbund, den wir aus eigener Kraft nicht auflösen können, noch dazu nicht, wenn wir auf die einzige Energiequelle, die uns Unabhängigkeit geben würde, die Kernenergie, aus eigenem Entscheid heraus verzichten. Wir müssen eine Partnerschaft mit Russland anstreben, aber Partnerschaft heißt eben auch für Russland, dass man nicht den Partner versucht willfährig zu machen und seine Entscheidungen nahezu erpresserisch zu beeinflussen. Ich glaube, hier müssen beide Seiten noch lernen. Es ist niemand daran interessiert, eine Konfrontation mit Russland zu beginnen, und ich meine, wenn hier auf beiden Seiten mit Augenmaß und Vernunft geredet wird und von Russland respektiert wird, dass jede Nation frei ist in ihren Entscheidungen, über ihre Sicherheit die Entscheidung zu treffen, die sie für notwendig hält, das heißt, wenn es keinen Einspruch Russlands gegen Entscheidungen Polens und Tschechiens und der USA gibt, wohl aber gegenseitige Beratung, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

[...]"

Diese Sätze sind wiederum ein typisches Exempel für das Denken (oder besser: die Glaubenssätze) unserer Atlantiker: Die Allianz mit den USA ist ewig, fast götzengleich feststehend und über eventuelle Alternativen dazu darf nicht nachgedacht werden, sie sind generell "strategischer Unsinn".

Nett sind auch Naumanns Einlassungen zur Souveränität. Während er Rußland jede Einflußnahme auf die Entscheidungen der osteuropäischen Staaten untersagen möchte, nehmen es sich zahlreiche europäische Staaten ebenso wie die USA als selbstverständlich heraus, auf die innenpolitische Entwicklung postsowjetischer Staaten Einfluß zu nehmen und ggf. offen Oppositionsgruppen zu unterstützen. Aber das Imperium darf das natürlich.

Was gibt es zum eigentlichen Thema des Interviews, der Debatte über die Installation von Raketenabwehrsystemen in Osteuropa, zu sagen? - Nichts. Die National Missile Defence ist derzeit - bestenfalls - rudimentär einsatzfähig und es ist fraglich, ob jemals alle geplanten Elemente realisiert werden. Daher ist die derzeit geführte Diskussion eine Scheindebatte. Und selbst wenn alle Planungen umgesetzt werden sollten, droht wohl kaum ein neuer Rüstungswettlauf.

Zum Abschluß noch ein Wort zu der von Naumann angesprochenen Modernisierung der russischen Interkontinentalraketen. Deren Einführung geht einher mit einer erheblichen Reduzierung der strategischen Streitkräfte insgesamt. Ferner sind die von Naumann und Joffe genannten vierstelligen Zahlen für Raketen nicht nachvollziehbar. Mit Stand 2006 verfügten die russischen Streitkräfte über 503 landgestützte ICBM und 180 seegestützte SLBM, dazu kamen 79 strategische Bomber.

Mittwoch, 28. März 2007

Miszellen III

Die Wahlen zu den Regionalparlamenten in 14 russischen Föderationssubjekten am 11. März haben keine großartigen Überraschungen gebracht. Es scheint sich ein Zwei-Parteien-System mit einigen Kleinparteien am Rand des politischen Spektrums herauszukristallisieren. Eine der besten Analysen dazu hat Nikolaj Jerschow in seinem Blog.

Über Liberale und Journalisten in Rußland äußert sich auch Robert Bridge in den Moscow News.

Es ist schon erstaunlich, wie Boris Beresowski ("Godfather of the Kremlin") hierzulande mittlerweile als strahlender Held der Anti-Putin-Kräfte und Menschenrechtsaktivist gefeiert wird - natürlich von der FAZ. Wesentlich nüchterner geht es dagegen in diesem lesenswerten Text zu.

Es ist erfreulich, daß die Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und russischen Sicherheitsbehörden weitergeht: Two new U.S. Secret Service agents are to be stationed in Moscow this year [...].

Die aktuelle Ausgabe der Internationalen Politik widmet sich ebenso wie das vorletzte Heft der WeltTrends schwerpunktmäßig der deutschen Ostpolitik.

Nachdem eine Familienrichterin in Frankfurt a.M. mit dem Koran argumentiert hat, entbrannte allgemeine Entrüstung. Doch so neu ist dies nicht, sondern nur ein weiterer Schritt auf dem Weg in ein neues Mittelalter.

Uwe Volkmann hat einen interessanten Aufsatz über die symbolische Dimension des Rechts verfaßt: Demokratisches Schamanentum.

Samstag, 24. März 2007

Christian Hackes Ausfälle

In letzter Zeit hat Christian Hacke mehrere Beiträge publiziert, die in mehrfacher Hinsicht bedeutsam sind. In seinem Aufsatz "Die Außenpolitik der Bundesregierung Schröder/Fischer in zeitgeschichtlicher Perspektive" (in: Politische Studien Nr. 402, 2005) geht er mit der früheren Bundesregierung ins Gericht. Neben den in der Tat angebrachten Hinweisen auf deren ursprünglich linkspazifistische Traditionen und das unkluge Agieren in der Frage der UN-Reform finden sich dort (wie auch in seinem Beitrag zu diesem Sammelband) nicht nur atlantische (sprich: pro-amerikanische) Stellungnahmen, sondern auch antifranzösische und antieuropäische Ausfälle, wie man sie aus dem Umfeld der CDU/CSU sonst überhaupt nicht kennt:
"Bis 1998 agierte Bonn klüger: Man verfolgte in der UNO eine ausgleichende Politik, suchte also gleichermaßen Amerikas, Europas und deutsche Interessen zu stärken, also zwischen amerikanischem Unilateralismus und multilateraler Weltordnungspolitik auszugleichen. Diese Rolle korrespondierte bis 1998 mit der entsprechenden regionalen Vermittlerrolle der Bonner Republik im Kräfteviereck Washington, London, Paris und Bonn. Bonn wusste jahrzehntelang die Begehrlichkeiten nach einem angelsächsisch dominierten Europa ebenso zu verhindern wie die Ambitionen aus Paris auf ein neogaullistisches Europa. Auf die USA wurde, wenn nötig, auch in der Vergangenheit couragiert, aber sensibel eingewirkt, doch immer unter dem Primat der Vertraulichkeit.

Außenpolitisch unerfahren haben Schröder und Fischer gar nicht bemerkt, wie Chirac in der Tradition von Richelieu, Talleyrand, de Gaulle und Mitterand jetzt Deutschland gänzlich unter seine Fittiche nimmt und eine neue europäische Sicherheitsstruktur in Distanz zu den USA anstrebt. Diesen Sirenen haben alle Bundesregierungen seit den 50er-Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts widerstanden. Doch seit dem Sommer 2002 ist sinnvolle deutsch-französische Freundschaft zu einem unwürdigen einseitigen Abhängigkeitsverhältnis degeneriert, das den außenpolitischen Handlungsspielraum Deutschlands nachhaltig einengt und dem deutschen Selbstverständnis in Europa und der Welt widerspricht. Frankreich lacht sich ins Fäustchen, das alte Europa schüttelt verständnislos den Kopf und die neuen europäischen Demokratien sind über Deutschland enttäuscht und erschüttert."

Aha. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu Frankreich ist also unwürdig; wenn dergleichen - oder sogar ein Untertanenverhältnis - zu den USA besteht, ist es das natürlich nicht. Denn die sind per se die Guten, wie Hacke uns weiter demonstriert, haben sie doch ganz selbstlos den Diktator in Bagdad gestürzt. Aber dann bekommt es der Autor mit der blanken Angst zu tun:
"Auch deshalb vertiefen sich die Gräben im Atlantik, wird der transatlantische Verbund brüchig mit möglicherweise schwer wiegenden Folgen, denn mittel- und langfristig droht Washington seine schützende Hand über Deutschland abzuziehen."

Ich sehe den Einfall barbarische Horden aus Paris und Moskau schon vor meinem geistigen Auge. :) Und auch über die Charakterisierung Putins als linkem Spätkommunisten, der "russische Weltmachtansprüche" verfolge, kann man eigentlich nur herzhaft lachen.

Neben dieser sicher verzeihlichen Polemik verdient Hackes Text auch eine ernsthafte Betrachtung. Er konstatiert eine faktisch unipolare Weltpolitik unter Führung der USA, gegen die erst eine multipolare Weltordnung aufgebaut werden soll (S. 82). Dabei übersieht er allerdings, daß es eine solche Unipolarität faktisch spätestens seit 2003 nicht mehr gibt (wahrscheinlich hat sie auch nach 1990 nur in der Phantasie einiger amerikanischer Ideologen existiert).
Die Bedeutung weltpolitischer Akteure wie China und Rußland wird moralisierend kleingeredet oder lächerlich gemacht, die der Vereinigten Staaten hingegen überzeichnet:
"Die USA als größte, bewährteste und mächtigste Demokratie der Welt wird in der eigenen moralisierenden Selbstüberhöhung negiert, ja in ihrem historischen weltpolitischen Wert gemindert. Die historische Bedeutung der USA für die demokratische und freiheitliche Entwicklung in der Welt im 20. Jahrhundert und besonders die unverzichtbare Rückendeckung aus Washington für Deutschlands Interessen wird sowohl werte- wie auch interessenmäßig aufgegeben, stattdessen werden zweifelhafte neue Machtachsen mit autoritären Regimen geschmiedet, nicht nur mit ökonomischen Argumenten. Wohin ist Deutschlands Außenpolitik geraten?"

Dazu paßt, das Hacke die "bewährten Traditionen" bundesrepublikanischer Außenpolitik vor 1989 bzw. 1998 beschwört, ohne freilich zu bemerken, daß die Lage Deutschlands, Europas und der gesamten Welt damals eine gänzlich andere war als heute. Das die veränderte deutsche Außenpolitik nur der Reflex einer veränderten Lage sein könnte, kommt ihm nicht in den Sinn.
Er wirft der Regierung Schröder vor, in einem manichäischen Weltbild befangen zu sein, obwohl das gleiche auch auf ihn zutrifft: Die "Guten" sind die USA und andere europäische Staaten, soweit sie sich den USA unterordnen, die "Bösen" sind der Irak, China, Rußland und andere. Es ist immer wieder befremdlich, mit ansehen zu müssen, wie Professoren das Denken einstellen.

Insgesamt sind Hackes Einlassungen ein schönes Beispiel für das Denken unserer Atlantiker. Über die bedingunglose Unterordnung unter die USA wird auch die europäische Verständigung und Einigung aufs Spiel gesetzt. Damit hat Hacke in schöner Offenheit etwas mitgeteilt, was sonst häufig peinlich verschwiegen wird: Die Frage nach der weltpolitischen Orientierung Deutschlands - Bindung in Europa oder an die USA - läßt sich nur noch alternativ beantworten. Die Zeiten eines 'sowohl - als auch' sind vorbei, der Begriff der "euroatlantischen Strukturen" ist eine Chimäre.
Nur daß dies die Außenpolitiker der CDU/CSU nicht wahrhaben wollen, zu stark hängt man dort noch an den alten Reflexen aus den Kalten Krieg. Doch diese Zeiten sind - glücklicherweise - vorbei. Nun muß man auch in der Union erwachsen werden. Die Außenpolitik der Regierung zeigt, daß, auch unter dem Einfluß abstruser ideologischer Prämissen, eine ansehnliche Bilanz zustande kommen kann. Aber vielleicht sind die 'unideologischen Konservativen' in Wirklichkeit viel verbohrter als es die Marxisten je waren?

Donnerstag, 22. März 2007

"Failed Crusade"

Heute soll wieder eine der Lesefrüchte der vergangenen Tage vorgestellt werden.

Ähnlich der bereits erwähnten Arbeit von Koenen beschäftigt sich Stephen Cohen in seinem Buch "Failed Crusade" (New York/London 2000) nicht nur mit der russischen Politik während der 90er Jahre, sondern auch (und viel stärker) mit den Einstellungen von amerikanischen Politikern, Journalisten Ökonomen und anderen Wissenschaftlern gegenüber Rußland. Er kommt dabei zu dem für mich mittlerweile nicht mehr überraschenden Ergebnis, daß dabei Vorurteile und selbstgebastelte Traumwelten wichtiger waren als die komplizierte Wirklichkeit in der früheren Sowjetunion - treffend zusammengefaßt in den kurzen Satz "Russian Studies without Russia".
Seine - hinlänglich belegte - Hauptthese: Nach 1991 haben amerikanische Politiker und (Wirtschafts-)Berater in einer kreuzzugsähnlichen Kampagne versucht, ihre eigenen Konzepte von 'Demokratie' und 'Marktwirtschaft' nach Rußland zu verpflanzen - und sind damit spätestens 1998 gescheitert. Was folgte, war ein großer Katzenjammer. Zum zweiten Mal seit 1917 hatte in Rußland eine aus dem Ausland importierte Ideologie, die ohne Rücksicht auf Verluste vorgegangen war, versagt.
Fast schon prophetisch muten diese 1992 von ihm verfaßten Sätze an (S. 103):
"But what will be the reaction of our own opinion shapers and policymakers when Russian realities explode the prevailing myths about America's post-Communist friend and partner, as they soon will? If missionary dogmas persist, the American backlash is easy to foresee - at best, cynism and indifference to Russia's plight; at worst, a sense of betrayal and a revival of reflexive Cold War attitudes."

War man damals - nicht nur in den USA! - hyperoptimistisch, so scheint man mir heute überpessimistisch bezüglich der russischen Politik zu sein. Ein Beispiel: Jelzins Amtsführung hatte viel stärker autokratische Züge als oftmals angenommen, etwa indem vom Parlament nicht angenommene Gesetzesvorlagen in die Form eines Präsidentendekretes gekleidet wurden, während sich unter dem 'autoritären' Putin die Arbeit der Staatsduma verstetigt und konsolidiert hat. Nur für solche detaillierten Betrachtungen bleibt den neuen Kalten Kriegern keine Zeit. :(

Doch zurück zum Thema. Alles in allem ist Cohens Buch - trotz seines Alters - überaus lesenswert und man lernt viel über die Jelzin-Ära aus Sicht eines Amerikaners, muß aber gleichzeitig mit der (nachvollziehbaren) Fixierung auf das Verhältnis Rußland-USA und dem etwas insistierenden Stil in den ersten Kapiteln leben.

Freitag, 16. März 2007

Die polnische Perspektive

Es ist immer wieder überraschend, wie viel Rücksicht auf Polen man in Deutschland zu nehmen bereit ist. So konnte man heute aus der Feder von Peter Frei folgendes lesen:

"[...]

Wir in Deutschland müssen die Traumata der Polen verstehen lernen, nach wie vor mit viel Geduld. Deutschland hat Polen 1939 überfallen, von Hitler befohlen, aber vom Volk bejubelt. Dann, 14 Tage später, wie vereinbart im Hitler-Stalin-Geheimpakt, haben sich die Sowjets Polens Osten einverleibt. Polen war als Staat ausradiert. Millionen von Polen, Juden und Nichtjuden, bekamen den Naziterror und seine stalinistische Variante zu spüren. Beim Warschauer Aufstand 1944 gegen das deutsche Regime, nicht zu verwechseln mit dem zeitlich früheren Aufstand im Warschauer Juden-Ghetto, sind allein 200 000 Polen im Kampf gegen SS und Wehrmacht ums Leben gekommen.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hätte sich Polen fast befreit fühlen können, wieder auferstanden, hätten nicht die Sowjets weitergemacht und Polen als ihr Souterrain betrachtet. An ihrer Westgrenze das damalige DDR-Regime zu wissen, wirkte auf die Polen obendrein wie Zynismus der Geschichte. Diesem Regime in Ostberlin war auch später die polnische Solidarność höchst suspekt mit ihren Versuchen, Freiheit zurück zu gewinnen.

Erst mit der großen Wende in Europa 1989 wurde Polen frei in den von den Kriegsalliierten in den Konferenzen von Jalta und Potsdam zugewiesenen neuen Grenzen einschließlich der ehemaligen deutschen Ostgebiete.

[...]"


Ähnlich Richard Herzinger, allerdings mit einem aktuellen politischen Hintergrund: "Hört auf die Polen!", der der Bundesregierung die rußlandfeindliche Position der polnischen Regierung aufnötigen möchte, um die aktuelle polnische Politik in der Ukraine, Weißrußland und dem Kaukasus (die frappierend an die 20er Jahre erinnert - s.u.) zu stützen (was sollte man von einem notorisch US-freundlichen Welt-Autoren auch anderes erwarten? ;)).
(Auch die Kritik an der Ostsee-Pipeline folgt ja dem strategischen Kalkül, Deutschland auf Gedeih und Verderb an die Ergebnisse der polnischen Ostpolitik zu binden und derselben so mehr Gewicht zu verleihen. Angesichts der polnischen Rolle als Agent der USA in Europa und 'Spaltpilz' in der EU muß man sich in Berlin allerdings fragen, ob dies deutschen Interessen dient.)

Gemeinsam ist beiden Autoren, daß die typisch polnische Sichtweise, wonach die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges erst 1939 mit dem Hitler-Stalin-Pakt begonnen hätte, völlig unkritisch übernommen wird. Kein Wort von der aggressiven polnischen Außenpolitik nach 1918: Feindschaft gegen Deutschland und die Sowjetunion, die auch schon einmal gewaltsame Formen annehmen konnte (wie z.B. 1920 im polnisch-sowjetischen Krieg oder 1921 in Oberschlesien); Gebietsforderungen gegen alle Nachbarstaaten, die gegen Litauen (Wilnaer Gebiet 1920) und die Tschechoslowakei (1938 infolge des Münchner Abkommens) auch durchgesetzt werden konnten; Pläne für einen unter polnischer Führung stehenden Staatenbund von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer usw. usf.
Bedauerlicherweise haben etwa die Arbeiten Stefan Scheils (siehe z.B. diese Zusammenfassung) oder, populärwissenschaftlicher, Gerd Schultze-Rhonhofs hierzulande noch nicht die notwendige und wünschenswerte Aufnahme gefunden.

Es ist m.E. nicht übertrieben, festzustellen, daß die Lage Polens nach 1945 das Ergebnis einer politischen Entwicklung war, die es selbst nicht unwesentlich beeinflußt hat. Daß sich dabei nicht alle Wünsche polnischer Politiker aus der Zwischenkriegszeit erfüllt haben, war - Pech. Deswegen aber deutscherseits, dem polnischen Leidensgestus folgend, besondere, aus Schuldgefühlen resultierende Sympathien zu entwickeln oder gar seine eigenen Interessen zu vergessen, ist falsch.
Polen betreibt heute eine Außenpolitik, die - auf eine fast schon ironische Weise (hatte Marx vielleicht doch recht?) - an die Zwischenkriegszeit erinnert: man sei aggressiv gegen seine beiden großen Nachbarn (Deutschland und Rußland) und hoffe dafür auf den Beistand eines weit entfernten Dritten (früher Frankreich, heute die USA). Die europäische Solidarität, welche heute zugunsten Polens von Berlin eingefordert wird, ist in Warschau selbst unbekannt! Die Probleme der polnischen Außenpolitik resultieren nicht nur aus den Eigenarten der Regierung Kaczinsky, sondern sind z.T. auch struktureller Natur. Solange sich daran nichts ändert, werden die deutsch-polnischen Verstimmungen wohl nicht enden.

Mittwoch, 14. März 2007

Russisches Erdgas für Europa

Spätestens seit dem Konflikt um eine Erhöhung der Gaspreise zwischen Rußland und der Ukraine im Winter 2005/2006 geht in Europa die Angst vor einer Unterbrechung der Erdgasversorgung um. Neben einer hysterischen und einseitigen Berichterstattung ist auch die europäische Energiepolitik dafür verantwortlich; beispielhaft sei hier nur der deutsche Ausstieg aus der Atomenergie genannt. Jerome Guillet hat darüber einen nüchternen und ausgewogenen Aufsatz verfaßt:

"Don’t Blame Gazprom for Europe’s Energy Crunch

[...]

Not a day goes by without a new article critical of Russian President Vladimir Putin’s increasingly authoritarian regime, or of his country’s supposedly aggressive use of the “energy weapon.” The target of all this ire is Gazprom, the quasi monopoly and energy behemoth that controls 25 percent of the world’s reserves of natural gas. For some, Gazprom has now joined Iran and North Korea as a top threat to the West—turning “security of supply” into a catch phrase in Washington, London, and Brussels. Gazprom triggered this hysteria when it picked highly public fights with its clients in Ukraine, Georgia, and Belarus over gas prices in 2005 and 2006, culminating in gas delivery cuts that temporarily disturbed European imports during the cold of winter.

But Gazprom is getting a bad rap. Rightly or wrongly, the management of the company is trying to do what businesses do: maximize its income. Putin’s brand of realpolitik may be less than subtle, but it’s driven by rational motivations. “We’re not obliged to subsidize the economies of other countries,” Putin has said. “Nobody does that, so why are they demanding it of us?” He’s got a point—it’s a bit rich to see the supposedly pro-market Westerners calling for heavy subsidies. And a country like Ukraine that’s angling to join NATO (an organization that Russia understandably perceives as anti-Russian) can hardly expect a discount on its gas. So why is Russia getting demonized for defending its interests? The answer lies with European leaders, who are trying to distract the public from the mess they’ve made of European energy policy. Europeans themselves are to blame for their dependency on Gazprom, which is doing what any company would do in its place.

Gazprom’s business tactics do appear to be heavy-handed. The energy company’s demands for more money for its gas have often looked like ultimatums. In 2005, after months of negotiations and deadlock, Gazprom did cut off the taps when the Ukraine refused to agree to an immediate quadrupling of gas prices. (Ukrainians then siphoned off gas in transit to Europe, as they have done several times before, and Gazprom actually relented before an agreement was found.)

But it’s important to understand why Gazprom chose to provoke a showdown when it did and in the way that it did. There are public reasons and private reasons. On the public level, the former Soviet Republics usually receive gas on the basis of annual contracts with fixed prices negotiated at the highest levels. These contracts can become extremely favorable to the importing countries when market prices for gas skyrocket, as they have in Europe. Officially, Gazprom was merely trying to ensure that it wouldn’t get ripped off as market prices rose. (On the private level, there’s a fierce battle for control between local Ukrainian oligarchs and Russians with access to Gazprom pipelines. These fights have been going on for the past 15 years, but they usually remain hidden; this time, they spilled over into public view.) Gazprom’s public rationale may have been just a diversion, but it was nevertheless true that the company was leaving money on the table.

As for European leaders, they have no one but themselves to blame for turning worrying domestic gas problems into a major international crisis. Europe, led by the United Kingdom, has made a conscious choice to rely on gas as its main new source of energy at a time when its domestic supplies are declining—and declining a lot faster than everybody expected. And Europe’s economic liberalization encourages market players to build easier-to-finance gas-fired plants, thus feeding demand for more gas. If political leaders were really worried about gas supplies from Russia, they should change that structural feature of the market rather than wailing about Gazprom’s clumsy—but ultimately harmless—fights with its neighbors.

There has been no actual energy crisis yet in Europe, just the manufactured perception of one. And it is quite striking to note that the “Russia is unreliable” theme appeared exactly at the time when Britain was becoming a net gas importer, after years of enjoying its North Sea bonanza. France, Germany, Italy, and others have been fully dependent on imports for decades, but have built up an array of long-term contracts with diversified suppliers (including, but not limited to, Russia). Britain did not have the same foresight, and its government has consequently gone into panic mode. After trying to blame other European countries for lack of solidarity, it went after Gazprom and “rediscovered” Putin’s authoritarian behavior.

Gazprom has nonetheless always fulfilled its contractual obligations to European customers. During the crisis with Ukraine, Gazprom restored gas deliveries before any solution was found, as soon as it saw that the Ukrainians were diverting gas meant for Europe from the transit pipelines on their territory. Last year, supplies to Europe were actually more disturbed by a long, intense cold wave that struck Eastern Europe and Russia, causing demand for gas within Russia to skyrocket and putting strains on Gazprom’s delivery network. But, at all times, Gazprom has fulfilled its contracts.

It’s true that Russia has agreed in the past to lower prices for gas in exchange for political or diplomatic quid pro quos with the importing country. But it’s also true that Russia can cancel such favorable terms when it wants. That’s the very nature of quid pro quo bargains. And the fact that Russia raised prices on Belarus, a cooperative satellite of Moscow, lends weight to Putin’s argument that his goal is to increase Gazprom’s revenues more than it is, as some critics would have it, to use energy policy to resurrect the Soviet Empire for the 21st century.

In any case, the real long-term worry is not about geopolitics: It’s about whether Europeans will be able to heat their homes two decades from now. By then, Russia might not have enough gas to supply Europe’s endlessly increasing demand, as well as its own burgeoning needs. It has more than enough gas to fulfill its existing contracts and has always made these commitments its first priority. But it may not have enough in its reserves to fully cover Europe’s expected demand beyond 2020. The problem is not Gazprom or Vladimir Putin, but my fellow Europeans’ extraordinary expectation that Russia must deliver its gas to us, on the cheap. It may feel good to blame Putin for our problems, but it doesn’t make us right."


PS: Im Heft Nr. 23 (November/Dezember 2006) der Zeitschrift "Diplomatie" findet sich auf S. 71 diese Karte der russischen Erdgasindustrie.

Miszellen II

Die unterschiedlichen Ansätze bezüglich der Terrorismusbekämpfung in den USA und Europa hat Bret Stephens analysiert. Gerade der französische Ansatz erscheint mir vorbildhaft. Besonders Stephens' letzter Absatz sollte dem Leser aber auch zu denken geben.

Eine psychologische Betrachtung außenpolitischer Entscheidungen haben Daniel Kahneman und Jonathan Renshon vorgestellt: Why Hawks Win. Siehe auch die weitere Diskussion hier.

Mit dem russischen Verhältnis zum Islam beschäftigt sich der Spengler-Kommentar der Asia Times: Russia's hudna with the Muslim world.

Hat die heutige Globalisierung wirklich die exorbitanten Ausmaße angenommen, die man ihr allgemein zuschreibt? Pankaj Ghemawat ist skeptisch.

Die National Security Advisors beschäftigen sich mit dem Kriegsrecht (nicht zu verwechseln mit dem Kriegsvölkerrecht) im Gefüge des innerstaatlichen Rechts der USA.

Montag, 12. März 2007

Warum ist Terrorismus gefährlich?

Worin besteht eigentlich die besondere Gefährlichkeit des (islamistischen) Terrorismus? Diese Frage sollte man nicht von vornherein als absurd abtun, schließlich könnte man von einem freiheitlichen Standpunkt aus durchaus argumentieren, daß trotz der teilweise hohen Opferzahlen bei einzelnen Anschlägen die Zahl der Opfer insgesamt ziemlich gering sei, so daß sie nicht geeignet seien, die z.T. erheblichen Grundrechtseinschränkungen, welche es seit 2001 in vielen Staaten gegeben hat, zu rechtfertigen. (Schließlich kommen im Straßenverkehr erheblich mehr Menschen zu Tode, aber niemand erwägt ernsthaft ein Verbot von Autos. ;))

Die entscheidende Antwort ist m.E. die indirekte Gefahr, die dem Staat und seinen Institutionen droht.
Dem Staat als ganzes, wenn er seine wichtigste Funktion, nämlich die Gewährung von Schutz für seine Bürger, nicht mehr erfüllen kann. Und den Institutionen, indem sie vom Terrorismus unterminiert werden. Dies ist im März 2004 bei den spanischen Parlamentswahlen der Fall gewesen, deren Ergebnis von den drei Tage zuvor stattgefundenen Anschlägen in Madrid und deren Bewältigung durch die Regierung Aznar nicht unerheblich beeinflußt worden ist. Die wichtigste internationale Wirkung war der Abzug des spanischen Truppenkontingents aus dem Irak. Angesichts dessen sollte niemand mehr behaupten, bei den Islamisten handele es sich um irrationale, nicht politisch denkende und strategisch handelnde Spinner!

Sonntag, 11. März 2007

Tyrannei der Werte?

An die gleichnamige Schrift Carl Schmitts erinnert dieser lesenswerte Feuilletonbeitrag von Eberhard Straub über die Grundrechte als integrierende Wertordnung der EU. Und, wie sich zeigt, ist Schmitt hochaktuell: Sind Werte verhandelbar und der Abwägung zugänglich? Was sind die Inhalte einer europäischen oder "westlichen" Wertegemeinschaft? Droht im Gewand der Zivilreligion ein neuer Totalitarismus?
Die gleichen Fragen muß man übrigens auch bezüglich der vom BVerfG erfundenen "objektiven Werteordnung des Grundgesetzes" stellen. Die prononciertesten Kritiken daran finden sich in Karl A. Bettermanns Streitschrift "Hypertrophie der Grundrechte" (Hamburg 1984) und in Josef Schüßlburners "Demokratie-Sonderweg Bundesrepublik" (Fulda 2004).

Völkergewohnheitsrecht

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes hat eine Zusammenfassung der gewohnheitsrechtlichen Teile des Kriegsvölkerrechts erarbeitet (siehe auch hier und hier) und 2005 veröffentlicht. Dieses Projekt ergänzt die schon recht umfangreichen Kodifikationen, insbesondere in der Haager Landkriegsordnung von 1907, den vier Genfer Abkommen von 1949 und deren beiden Zusatzprotokollen von 1977. Gerade für die Rechtsanwender, primär also die Soldaten, ist es hilfreich, die relevanten gewohnheitsrechtlichen Normen in einem Kompendium zu finden. So weit, so gut.

Nun äußern Rechtsberater der US-Regierung Bedenken gegen das Werk:
"The top lawyers in the State Department and DoD have sent a letter to the International Committee of the Red Cross criticizing the methodology authors used in compiling a study that purports to be a definitive explanation of the laws of war.

[...]

“We recognize that a significant number of the rules set forth in the study are applicable in international armed conflict because they have achieved universal status,” Bellinger and Haynes wrote in their letter. “Nonetheless, it is important to make clear - both to you and to the greater international community - that, based upon our review thus far, we are concerned about the methodology used to ascertain rules and about whether the authors have proffered sufficient facts and evidence to support those rules.”
The study is an ICRC attempt to define “customary international humanitarian law.” Even this term is somewhat contentious, officials said. In the letter to the ICRC, the U.S. officials state that the preferred term for this body of law is “the law of war” or “the law of armed conflict.”
The ICRC tried to pull together the practices of all nations with respect to the law of war and compile rules that the ICRC concludes reflect customary international law binding on nations, said Charles A. Allen, DoD’s deputy general counsel for international affairs.“
In doing so, however, they approached it in a way that was problematic, and we think, in terms of process and approach, they did some things wrong, as explained by Mr. Haynes and Mr. Bellinger, that call into question the validity of many of the rules articulated,” Allen said.

[...]

The main problem with the study is what appears to be a lack of rigor and discrimination in assessing information that was gathered, Parks said. He likened the methods the authors used to performing an Internet search and then not assessing the results for applicability or accuracy. The authors took information from many sources without judging whether it accurately mirrored that state’s practice. For example, Parks said, one source the authors cited was a study prepared by an Air Force judge advocate for a class he was teaching. That study certainly was not official U.S. government policy, he said.
The study also fails to take into consideration what a country does, rather than what its officials say the country does. How military forces operate on the ground and how they put the law of war in practice are certainly more important than a “pie in the sky” government statement that does not reflect actual practices, Allen said.
The authors also seemed to give equal weight to statements of all countries. The statements by a country that hasn’t been in a war in a century is given the same weight as those of countries that have participated in armed conflicts through the 20th century, Parks said. U.S. officials believe the authors should have given the positions of countries with experience in the law of war on the field of battle more weight than those whose armed forces haven’t been involved in armed conflict, he said.
The U.S. letter detailed only four of the 161 rules the study published. “But there are problems with many others,” Parks said, “and we anticipate further work to identify the more serious additional shortcomings of the study.”

[...]"

Und diese Kritik ist vollauf berechtigt, thematisiert sie doch die Wege und Irrwege der Völkerrechtswissenschaft. Seit Jahrzehnten ist sie zu einer Spielwiese von Personen geworden, die, um ihren ideologischen Zielen von "Weltstaat", "Weltgesellschaft", "Weltfrieden" usw. näherzukommen, es an wissenschaftlicher Redlichkeit mangeln lassen. Der gute Zweck rechtfertigt für sie auch die haarsträubendsten Konstruktionen und Theorien.
Offenbar ist auch mit den Autoren der genannten Studie der missionarische Eifer durchgegangen. Das ganz zu Recht kritisierte Vorgehen ist doch mittlerweile - leider - usus.
Gerade beim Nachweis der Existenz einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm wird bisweilen sehr oberflächlich vorgegangen. Eine opinio iuris zu entdecken fällt meist weniger schwer, aber die ebenso erforderliche allgemeine Übung ist in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger beachtet worden, so daß manche Autoren mittlerweile sogar eine "spontane" Entstehung von Völkergewohnheitsrecht zulassen wollen - ein klarer Widerspruch zu Art. 38 I lit. b des IGH-Statuts. Auch liegt es in einer Zeit, in der Theorien von der "Konstitutionalisierung des Völkerrechts" im Schwange sind, nahe, die vermeintlich antiquierten Methoden hintanzustellen und sich der Erschaffung einer schönen neuen Welt zuzuwenden. Der Wunsch wird zum Vater der Wissenschaft, die eigentlich nur auffinden soll, was vorhanden ist. Und wer dagegen Einspruch erhebt, kann eigentlich nur ein Reaktionär sein oder Böses im Schilde führen. Oder beides.

Bleibt nur zu hoffen, daß die Kritik aus Washington auf fruchtbaren Boden fällt. Man kann von der Außenpolitik der Bush-Administration halten, was man will, aber viele der seit 2001 aufgeworfenen und objektiv gegebenen völkerrechtlichen Fragen müssen dringend geklärt werden. Was bedeutet etwa das völkerrechtliche Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta) beim Auftreten nichtstaatlicher Akteure in den internationalen Beziehungen, die im Friedenssicherungssystem der UN einfach nicht vorgesehen sind? Oder wie muß mit den Kämpfern solcher (terroristischen) Gruppen umgegangen werden (Stichwort: Guantanamo): sind sie Kriegsgefangene, ordinäre Kriminelle oder eine dritte Kategorie sui generis?
Auch muß man sich ehrlich die Frage vorlegen, ob die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts in den vergangenen 100 Jahren wirklich als Fortschritt zu bewerten ist, oder ob unter dem Stichwort der Humanisierung nicht vielmehr versucht worden ist, den Krieg wenn schon nicht abzuschaffen, so doch durch ein enges Regelwerk fast unmöglich zu machen. Manche Regeln werden sich trotz besten Willens nur schwer beachten lassen. Oder ist die große Distanz zwischen Sollen und Sein im Kriegsvölkerrecht quasi systemimmanent erforderlich, um in der Praxis wenigstens einen gewissen Mindeststandard zu erreichen? (Dann darf man freilich bei Verstößen nicht überempfindlich reagieren.)

All diese Fragen drängen und die übliche Reaktion "alter Europäer", der Verweis auf das geltende, aber den aktuellen Anforderungen nur bedingt genügende Völkerrecht, bremst die notwendige Weiterentwicklung des Rechts. Dieser Reflex ist ebenfalls ideologisch begründet und hinterläßt den Eindruck, man glaubte daran, daß wir heute in der besten aller Welten leben würden, wenn, ja wenn der böse Bush nicht wäre. Die sicherheitspolitische Sondersituation nach 1945 hat bei vielen Deutschen den Hang zur Realitätsverweigerung in der Politik genährt, doch mit frommen Wünschen allein ist es nicht getan. Und ein "Ende der Geschichte" ist nicht absehbar!

Update (13.04.2007)

Samstag, 10. März 2007

Die guten alten Zeiten

Nach der Rede Putins vor der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar haben sich die Stimmen verstärkt, die entweder einen neuen Kalten Krieg postulieren oder sich zumindest die guten alten Zeiten der einfachen Weltsicht und reduzierten Komplexität zurückwünschen. Ihnen ist nun Paul Kennedy in der L.A. Times entgegengetreten:

"It was funny, in a grim sort of way. Last week, Secretary of Defense Robert M. Gates responded to Russian President Vladimir V. Putin's polemical attack on the United States by remembering the 50-year Cold War as a "less complex time" and saying he was "almost nostalgic" for its return.
Gates should know. He himself is the quintessential Cold Warrior, having served nearly 27 years in the Central Intelligence Agency (facing off against the likes of Putin, who was for 17 years an agent in the foreign intelligence branch of the Soviet KGB). So we should take him seriously when he suggests that the problems of 20 or 30 years ago were in some ways more manageable than our current global predicament.
Nor is he alone. There is a palpable sense of nostalgia these days for the familiar contours of that bygone conflict, which has been replaced by a much more murky, elusive and confusing age.

The argument goes as follows: The Cold War, although unpleasant, was inherently stable. It was a bipolar world - centered on Washington and Moscow - and, as UC Berkeley political scientist Kenneth Waltz argued, it was much more predictable than, say, the shifting, multipolar world of the 1910s or 1930s, decades that were followed by calamitous wars. Yes, it's true that the two sides possessed masses of nuclear weapons aimed at each other's biggest cities, but the reality is that they were constrained by a mutual balance of terror.
They had divided Europe and divided Asia, and no one, except in the Korean War, crossed those lines. Even that conflict confirmed the essential stasis. Of course, they carried out surrogate wars - in Asia, Africa and Central America, in Vietnam and Afghanistan - but they never came into direct conflict. Hot lines, summit conferences and SALT treaties kept things under control. Polish and Czech dissidents might get tossed into prison but, hey, that was not a cause for an international crisis. Those were indeed the good old days. East was East and West was West.

Today's world is far less stable and indeed much less favorable to the comfortable Western democracies. It is not just that we face an almost-impossible-to-manage "war on terrorism," with all of its capacities for asymmetrical damage to ourselves, our allies and everyone else, even as we swat the occasional terrorist group. It is not just that we are deeply mired in Iraq and Afghanistan and that the whole Middle East may totter because of the failure (one hopes not, but let's not blink) to win on the ground. It is not just that we haven't a clue how to deal with the present, disturbing Iranian regime. It is not just that we haven't the energy to block Venezuelan President Hugo Chavez from his arrogant anti-American policies across Latin America.

[...]

It is the unnerving fact that all of this is happening at the same time, though at different speeds and different levels of intensity.

So is it true? Was the Cold War era, on the whole, a safer era? Ponder the following counterarguments:
First, however tricky our relationships with Putin's Russia and President Hu Jintao's China are nowadays, the prospect of our entering a massive and mutually cataclysmic conflict with either nation are vastly reduced. We seem to have forgotten that our right-wing hawks argued passionately for "nuking" communist China during the Korean War and again during the Taiwan Straits crisis of 1954. We also have apparently forgotten — although newly released archival evidence overwhelmingly confirms this — how close we came to a nuclear Armageddon during the Cuban Missile Crisis.
Likewise, we've forgotten the shock of the Soviet invasion of Afghanistan in 1979, which prompted then-German Chancellor Helmut Schmidt to ask, "Is this the new Sarajevo?" a reference to the outbreak of World War I. And who still remembers 1984-85, when we were riveted by Jonathan Schell's argument in the New Yorker that even a few nuclear explosions would trigger such dust storms as to produce a "nuclear winter"?

Those were really scary times, and much more dangerous than our present circumstance because the potential damage that could be inflicted during an East-West conflagration was far, far greater than anything that Al Qaeda can do to us now. No one has the exact totals, but we probably had 20,000 missiles pointed at each other, often on high alert. And the threat of an accidental discharge was high.

[...]

Yet what if, for example, Josef Stalin had prevented American and British supply aircraft from flying into Berlin in 1948-49? Phew! The years 1945 to, say, 1990 were horrible on other accounts. China's Mao Tse-tung's ghastly Great Leap Forward led to as many as 30 million deaths, the greatest loss of life since the Black Death. The Soviet Union was incarcerating tens of thousands of its citizens in the gulags, as were most of the other members of the Warsaw Pact. The Indo-Pakistan wars, and the repeated conflicts between Israel and its neighbors, produced enormous casualties, but nothing like the numbers that were being slaughtered in Angola, Nigeria, the Congo, Vietnam and Cambodia. Most of the nations of the world were "un-free."

[...]

Let us not, then, wax too nostalgic about the good old days of the Cold War. Today's global challenges, from Iraq to Darfur to climate change, are indeed grave and cry out for solutions.
But humankind as a whole is a lot more prosperous, a great deal more free and democratic and a considerable way further from nuclear obliteration than we were in Dwight Eisenhower and John F. Kennedy's time. We should drink to that."

Miszellen

Im Zuge der Diskussionen über die Ordnung der internationalen Beziehungen tauchen seit den 90er Jahren immer wieder die Begriffe "failed state" und "failing state" auf. Douglas Farah hat nun einen interessanten Text über deren Unterscheidung von kriminellen Staaten verfaßt.

Bezugnehmend auf die jüngsten Entwicklungen in der irakischen Ölindustrie informiert Tim Newman über Production Sharing Agreements.

Georgien wird die Zahl seiner in den Irak entsandten Truppen demnächst von 850 auf über 2000 Mann erhöhen. Fragt sich nur, wie die amerikanische Gegenleistung für diese Unterstützung in einer schwierigen Lage aussehen wird. Carte blanche in Abchasien und Südossetien?

Schließlich hat uns FAZ heute darüber unterrichtet, daß sich Stalin im 2. Weltkrieg erst 1945 die polnische Forderung nach einer Westausdehnung bis an Oder und Neiße (die dann allerdings zu einer Westverschiebung des polnischen Staates wurde), zu eigen gemacht hat: Niederschlesien wäre deutsch geblieben.

Donnerstag, 8. März 2007

"Die Grenzen der Lehrmeisterei"

Via PERManent kam heute der Hinweis auf einen hervorragenden Artikel von Sonja Margolina aus der NZZ vom 13. Februar:

"Die Grenzen der Lehrmeisterei

Während es Russland immer besser geht, betrachtet Europa das Land immer mehr als Bedrohung

Die Russen blicken so optimistisch in die Zukunft wie schon lange nicht mehr. Für einen grossen Teil der Bevölkerung hat sich der Lebensstandard verbessert. Iwan Normalverbraucher kümmert sich wenig um Demokratie und Menschenrechte und befürwortet die neue selbstbewusste Politik des Kremls. Der Westen muss sich von der Illusion lösen, dem Land seine eigenen Werte aufzwingen zu können. Der Wandel muss von innen kommen.

Igor Awerkijew leitet die Zivilkammer beim Gouverneur in der Industriestadt Perm, eine von Präsident Putin ins Leben gerufene Institution. Viele Regimekritiker sehen diese als Versuch, einen machtkonformen Ersatz für die Zivilgesellschaft zu schaffen. Dabei scheint gerade im Gebiet Perm etliches anders zu sein. In Perm befindet sich zum Beispiel ein einzigartiges Straflager-Museum, Perm-36, das aus dem regionalen Etat finanziert wird. Und bei den letzten Wahlen zur regionalen Duma hat die liberale Partei Union Rechter Kräfte (SPS), dem administrativen Druck seitens des Kremls zum Trotz, über sechzehn Prozent der Stimmen holen können. Für die liberale Öffentlichkeit gilt Perm deshalb als Ausnahme, welche die Regel bestätigt: Seine lebendige Zivilgesellschaft scheint ihr lediglich Beweis dafür, dass die Zivilgesellschaft im übrigen Land erwürgt wird.

Auch in Deutschland, wo besonders viele Verbände sich für die russische Zivilgesellschaft engagieren, sieht man den in Russland wachsenden Autoritarismus mit Sorge. Awerkijew versteht diese Schwarzmalerei nicht. «Wenn ich im Ausland bin», sagte er auf einer Berliner Tagung über Xenophobie in Russland, «habe ich das Gefühl, dass ich aus einem faschistischen Staat eingereist komme und ein Opfer bin. Russland ist aber kein faschistischer Staat, und ich bin kein Opfer. Mir geht es gut, und ich tue das, was ich für richtig halte. Und überhaupt», fügte er hinzu, «man sollte aufhören, uns Geld zu geben. Wir kommen schon selbst zurecht.»

Neues Selbstbewusstsein

Manche unter den Anwesenden reagierten mit Unmut auf solche Selbstgerechtigkeit. Die einen unterstellten dem engagierten Menschenrechtler, er sei ein Sprachrohr des Regimes geworden; die anderen erschraken angesichts der Perspektive, sie könnten ihre Existenzberechtigung als «Demokratie-Promoter» verlieren. Dabei kam in Awerkijews irritierender Replik sowohl ein neues Selbstbewusstsein als auch ein Vertrauen in die eigenen Kräfte zum Ausdruck. Diese Zuversicht teilt Awerkijew mit einer wachsenden Anzahl seiner Landsleute. Und viele im Westen können damit wenig anfangen.

Tatsächlich steht die zunehmend kritische Einstellung der westlichen Öffentlichkeit zur Entwicklung in Russland im krassen Widerspruch zur Selbsteinschätzung der russischen Bevölkerung. So war laut Umfragen des Lewada-Zentrums das vergangene Jahr eines der ruhigsten und glücklichsten. 46 Prozent der Russen blicken optimistisch in die Zukunft. Die Ursache ist eine reale Verbesserung der Lebensstandards eines bedeutenden Teils der Bevölkerung. Die Ergebnisse der Reformen, die Anfang der neunziger Jahre in Gang gesetzt wurden, kommen endlich auch dem Durchschnittsmenschen zugute. Iwan Normalverbraucher, der dank billigen Krediten nun seine lange angestauten Konsumträume verwirklichen kann, interessiert sich kaum für Demokratie und Menschenrechte, er ist auch durch die Ermordung von Anna Politkowskaja oder Alexander Litwinenko nicht aus der Laune zu bringen und pfeift auf die westliche Kritik. Nach der Niederlage im Kalten Krieg hat er an Selbstbewusstsein gewonnen und heisst die Politik des Kremls, auch dessen Grossmachtgebärden, gut.

Normative Optik

Das aus russischer Sicht erfolgreiche Jahr 2006 erscheint in der Wahrnehmung der westlichen Öffentlichkeit indes als eines der beunruhigendsten nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion. Allerdings gab es schon lange nicht mehr so viele Ereignisse in so kurzer Zeit, die ein so heftiges Unbehagen an Russland und Zweifel an seiner aussenpolitischen Berechenbarkeit hatten aufkommen lassen.

[...]

Aber je kritischer die westliche Berichterstattung wird, desto mehr verschwindet das reale Leben des weiten Landes hinter den Politkrimis, und desto unverständlicher erscheint die Haltung von Leuten wie Igor Awerkijew. Die normative Optik, die ganz auf «Werte» ausgerichtet ist, beeinträchtigt die Erkenntnis des Anderen. Seit der Aufklärung beansprucht die westliche Sicht universalistische Geltung. Als Europa und dann die USA die Welt dominierten, setzte sich ihre Sicht als alternativlos durch. Heute jedoch schrumpft der Einfluss des Westens und mit ihm die Anziehungskraft seiner Werte.

«Sonderweg» ist kein blosses Etikett mehr für eine von der Demokratie abweichende Entwicklung, sondern wird wahrgenommen als legitime Besonderheit der Modernisierung bei vielen Nationen, die zum Erfolg gelangen, ohne sich um Gewaltenteilung und Menschenrechte zu scheren. Der Ölsozialismus eines Hugo Chávez, der chinesische Kommuno-Kapitalismus, zahlreiche Pseudodemokratien und staatskapitalistische Autokratien (was häufig dasselbe ist) werden von der eigenen Bevölkerung und den Nachbarn danach beurteilt, ob sie Erfolge vorweisen können.

Freilich sind die meisten dieser Länder weit weg und zivilisatorisch anders als die europäische Peripherie Russland, die schon seit Jahrhunderten versucht, den Westen einzuholen. Die russische Elite hat westliche Bildung und Wissenschaft übernommen und definiert ihre Identität mit Blick auf die europäische Kultur. Aus dieser kulturellen Affinität heraus träumten die russischen «Westler» vom «gemeinsamen Haus Europa». Der Westen fordert von Russland seinerseits eine «Transformation», die deterministisch in dessen Europäisierung gipfeln soll. Der unlängst verstorbene Moskauer Soziologe Juri Lewada zweifelte an dieser Art von Entwicklungsteleologie. «Transformation», pflegte er zu sagen, «ist kein Prozess, sondern ein Zustand».

Ein schwieriger Brocken

Mit der Erkenntnis, dass es in die Irre führt, wenn die russischen Zustände mit der westlichen Messlatte gemessen werden, wäre schon viel gewonnen. Die EU-Politiker scheinen zu glauben, dass die «Integration» Russlands in den Westen zu einer «wertebasierten Partnerschaft», das heisst zu Beziehungen, die auf den westlichen Normen basieren, führen würde. Die Integration eines so gewaltigen Gemeinwesens wie Russland in die EU würde den Import seiner «Werte», wie sie in der politischen und wirtschaftlichen Kultur ihren konzentrierten Ausdruck finden, massiv beschleunigen. Die bekannteste Verkörperung dieser Kultur ist die vom Kreml geführte Gazprom.

Russland ist ein schwieriger Brocken. Der Westen tut gut daran, sich nicht länger als Lehrmeister aufzuspielen, von der russischen Bevölkerung die Übernahme westlicher Werte abzuverlangen und sich darüber zu empören, wenn der Wertetransfer nicht so leicht funktioniert. Es ist die Sache von Igor Awerkijew und seinesgleichen, Russland voranzubringen. In seiner Stadt hat er damit Erfolg. Dass er auch scheitern kann, weiss er selber nur allzu gut."

Glückwunsch, Frau Margolina (nicht nur wegen des heutigen Frauentages ;))! Es ist schön zu sehen, wie nüchtern und sachlich Rußlandberichterstattung sein kann.

Freiheit, die sie meinen

Der Eintrag über Medienfreiheit hat mich dazu veranlaßt, noch einmal nach Äußerungen sogenannter Menschenrechtler in Rußland zu suchen und ihr Freiheitsverständnis zu ergründen.

Da hätten wir zum Beispiel diese Einlassungen zur Rede- und Medienfreiheit:
"Es ist erforderlich, das russische Anti-Terror-Gesetz zu einer effektiveren Bekämpfung extremistischer Webseiten abzuändern.

Diese Ansicht vertrat der Direktor des Moskauer Büros für Menschenrechte, Alexander Brod, am Donnerstag in der russischen Hauptstadt. "Das ist weder eine Zensur noch ein Verstoß gegen demokratische Normen. Das ist eine Gewährleistung der Sicherheit und der Integrität Russlands", sagte der Experte in einem RIA-Novosti-Gespräch.

[...]

Beobachtungen des Moskauer Menschenrechtsbüros führten vor Augen, dass es im russischen Internet knapp 800 Webseiten mit nationalistischer Ausrichtung gebe.

"In diesem Zusammenhang muss eine umfassende Diskussion unter Teilnahme von Abgeordneten, Vertretern gesellschaftlicher Organisationen und von Experten aufgenommen werden. Das Ziel besteht darin, Änderungen zur gültigen Gesetzgebung zu formulieren. Das betrifft sowohl das Strafgesetzbuch als auch das Gesetz über Massenmedien", sagte der Menschenrechtler."

Überhaupt fordert man gern ein "härteres Vorgehen gegen Fremdenfeindlichkeit und Extremismus", also das Vorgehen des Staates gegen einzelne Bürger, die eine bestimmte politische Meinung (!) vertreten. Natürlich müssen neben den Sicherheitsbehörden auch das Kulturministerium und das Bildungsministerium in diese Arbeit einbezogen werden.

Und dann wird gegen Eduard Limonow schweres Geschütz aufgefahren:
"Das Moskauer Büro für Menschenrechte hat die Rechtsschutzorgane aufgerufen, die Äußerungen des Chefs der National-bolschewistischen Partei, Eduard Limonow, auf den Tatbestand einer Anstiftung zum Fremdenhass zu überprüfen.

"Bei dem täglichen Monitoring von Erscheinungen der Xenophobie und des ethnischen Extremismus in der Russischen Föderation haben wir festgestellt, dass die NBP auch weiterhin radikale nationalistische Gedanken verkündet", heißt es in einer Erklärung des Büros, die am Donnerstag bei RIA Novosti eingegangen ist.

Darin wird unterstrichen, dass in den programmatischen Dokumenten zur gewaltsamen Veränderung des Staatssystems und zur Schaffung eines Staates aufgerufen wird, der auf der Herrschaft der russischen Nation begründet ist.

"Nach der Machtergreifung wird die NBP weitgehende revolutionäre Veränderungen in Russland durchführen. Sie wird einen totalitären Staat errichten. Menschenrechte müssen den Rechten von Nationen den Vorrang lassen. Im Lande wird eine eiserne russische Ordnung hergestellt, ein Klima der Disziplin, der Unversöhnlichkeit und der Arbeitsliebe geschaffen", zitieren die Menschenrechtler aus dem Parteiprogramm.

Die Menschenrechtler meinen, Limonow provoziere unter Minderjährigen nationalen Hass und setze sie durch seine Handlungen einer Gefahr für ihr Leben aus.

"Außerdem sollten einige Massenmedien öffentlich verurteilt werden, die dem Chef der NBP eine Tribüne für die Propagierung seiner radikalen Ideen bieten, Ideen, die Gewalt, Fremdenhass und Feindschaft in der Gesellschaft provozieren", heißt es in der Erklärung des Büros."

Wir erinnern uns: Limonow gehört mit seinen Nationalbolschewisten zum Oppositionskreis um Garry Kasparow, der auch hierzulande mittlerweile fast gänzlich unkritisch hofiert wird. Was ist Limonow nun - ein verfolgter Künstler, der hin und wieder politische Happenings veranstaltet oder eine Bedrohung für die Menschenrechte?

Die russischen Menschenrechtler haben von ihren europäischen und amerikanischen Kollegen gut gelernt, daß man mit dem Kampf für durchaus ehrenwerte Ziele jedes Grundrecht fast beliebig einschränken kann, ohne auf Widerstand zu stoßen, denn wer will schon "Rassismus" befürworten? Auch die Berichterstattung der Medien, deren Unfreiheit man sonst beklagt, muß entsprechend beschränkt werden.

Das ist sie, die Freiheit, die sie meinen. 'Wir haben immer recht (denn wir sind die Guten), also darf es auch ruhig etwas Zensur sein.' Das Eintreten für "universale Menschenrechte" hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.

Russische Medien

Krusenstern hat einen interessanten Beitrag über die russische Medienlandschaft veröffentlicht: 80.000 Medientitel in Russland - aber keine Meinungsvielfalt.

Die dargebotenen Informationen sind nicht ganz neu; sowohl die Russlandanalysen als auch die BBC haben bereits ähnliches publiziert:
Russlandanalysen 118 (pdf),
The press in Russia,
Country profile: Russia - Media.

Zwei Kritikpunkte habe ich aber doch. Zwar wird mit den Adjektiven halbstaatlich und regierungsnah gearbeitet, aber bei Radio Swoboda ignoriert, daß es sich bei Radio Free Europe / Radio Liberty um eine Agentur der amerikanischen Regierung handelt, weshalb auch die russische Tochter höchstens der Rechtsform nach privat ist. Auch ist die Nowaja Gaseta m.E. nicht so unabhängig, wie weithin behauptet wird, denn Gorbatschows eigenes (partei-)politisches Engagement liegt noch nicht so lange zurück.

Ferner ist es schwer nachvollziehbar, warum die regionalen Blätter und Sender als so wenig vertrauenswürdig eingestuft werden. Sowohl in Deutschland als auch in den USA können sie bisweilen Glanzpunkte setzen, auf die man bei den "Großen" vergeblich wartet. Worin soll die Kontrolle, der sie unterworfen seien, bestehen?

Abschließend noch zur aufgeworfenen Frage der Meinungsvielfalt. Als jemand, der in der DDR aufgewachsen ist, reagiere ich hier sehr sensibel.
Es gibt auch in Deutschland zahlreiche Themen, über die in den großen elektronischen Medien und Tages-/Wochenzeitungen nur in einer sehr engen Bandbreite noch für zulässig erachteter Meinungen berichtet wird (z.B. beim Thema EU). Auch hierzulande müssen sich Abweichler ihre eigenen Foren suchen. Dazu kommt dann noch die über Gesetze gegen "Volksverhetzung" oder "Haßrede" staatlicherseits hergestellte Meinungseinheit. Die Political Correctness läßt grüßen.

Und wer die im übelsten Agitprop-Stil stattfindende Russlandberichterstattung der letzten Monate beobachtet hat, die ebenfalls zu einer seltsamen Einheitsmeinung führte, vermag dem allseitigen Lob auf den westeuropäischen Pressepluralismus (der dem vermeintlichen russischen Einheitsbrei gegenübergestellt wird) nur schwerlich zu folgen. Bezeichnend ist auch hier, daß Gegenpositionen vor allem in Internetmedien, insbesondere in Blogs, publiziert werden mußten.

Nachtrag: Überhaupt scheint mir im Krusenstern-Text zuviel Gewicht auf die Eigentumsverhältnisse an Medienunternehmen gelegt zu werden. Der nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA festzustellende linksliberale Mainstream in den Medien wird doch nur selten vom Eigentümer diktiert. Mit Sicherheit bei der WAZ und der FR. Aber sonst? Also: Wie stark ist die Kausalbeziehung zwischen der politischen Orientierung eines Mediums und der Eigentümerstruktur?
Und wenn selbst der Schweizer Presserat meint, daß es keine berufsethische Pflicht zu objektiver Berichterstattung gäbe - so what? Let propaganda have its way.

Sonntag, 4. März 2007

Zur Abwechslung ...

... (und um einige Funktionen dieses Blogs zu testen ;)) nachfolgend ein Musikvideo von Oleg Gazmanow mit dem Titel "Nowaja zarja" (Neues Morgenrot). Es sieht zwar etwas kindisch aus, hat aber einen ernsten Hintergrund.



http://www.youtube.com/watch?v=VfyYZ9Q2vHI