Samstag, 31. März 2007

Kultur, Religion und Recht

Unter dem Titel "Das Recht steht über jeglicher 'Kultur'" hat Richard Herzinger einen Kommentar zum Verhalten einer Frankfurter Richterin, die mit dem Koran argumentiert hatte, geschrieben. Dieser Text ist - wie bei ihm üblich - nicht übermäßig lesenswert, enthält aber doch zwei Absätze, auf die hier kritisch eingegangen werden soll.

"[...]

Die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Menschen verstößt gegen die Menschenwürde und damit gegen die grundlegenden Menschenrechte. Diese sind universal und stehen absolut über allen Vorschriften, die aus einer bestimmten kulturellen Tradition abgeleitet werden. Wie Religionen sind Kulturen nur akzeptabel, wenn sie sich fähig zeigen, diese Vorherrschaft des universalen Rechts anzuerkennen und umzusetzen.

[...]"

Der erste Satz stimmt nicht, zumindest dann nicht, wenn man sich im Kontext des deutschen Rechts bewegt. Die körperliche Unversehrtheit ist genauso wie das Leben (und die Freiheit der Person) in Art. 2 II GG geschützt. Allerdings stehen diese Grundrechte sämtlich unter dem Gesetzesvorbehalt in Satz 3. D.h., in Deutschland darf in die körperliche Unversehrtheit ggf. eingegriffen werden. Die in Art. 1 I GG absolut geschützte Menschenwürde ist davon nicht notwendig tangiert. Anderenfalls wäre etwa der von der Polizei bei Geiselnahmen unter Umständen abgegebene finale Rettungsschuß verfassungswidrig. Das gleiche gilt für staatlich angeordnete medizinische Untersuchungen, z.B. nach dem Infektionsschutzgesetz. Diese Kette geht also nicht auf.
Im zweiten Satz unterstellt Herzinger eine Universalität der "Menschenrechte", die er (und viele andere) zwar behaupten, die aber nur sehr bedingt wirklich anerkannt ist.

Sodann leitet er auch schon zum dritten Satz über, in dem die Suprematie des "universalen Rechts" über jegliche kulturellen Regeln behauptet wird. Und an dieser Stelle erleidet er Schiffbruch, denn er übersieht das Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem Recht einerseits und Religion bzw. Kultur andererseits. Die These, daß ewige und überall geltende, also nach Zeit und Raum universale Menschenrechte existieren würden, ist ein Produkt der Aufklärung, mithin selbst das Ergebnis einer bestimmten Kultur und eines bestimmten Zeitgeistes. Herzinger kann oder will nicht begreifen, inwieweit das Recht (bzw. das, was er dafür hält) selbst durch kulturelle und religiöse Einflüsse geprägt ist, auch in Deutschland.
Der zweite in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Punkt ist die Forderung nach einer Überordnung des Rechts, für das Kultur und Religion nur eine dienende Funktion haben sollen. Also keine irgendwie geartete Zwei-Reiche-Lehre wie bei Augustinus oder Luther, keine getrennten Sphären von Staat und Religion, sondern der Staat (oder das "Recht") wird in Herzingers Modell selbst zur obersten Religion, die andere Götter nur bedingt neben sich dulden kann. Dieses wahrhaft totalitäre Modell hatte man im 20. Jahrhundert schon verschiedentlich ausprobiert - und es hat immer im Desaster geendet.

"[...]

Darüber wurde vergessen, dass Kulturen nicht voraussetzungslos schützenswert und unantastbar sind. Kulturen können vielmehr grausam, mörderisch und menschenunwürdig sein, und es ist die Pflicht der zivilisierten Menschheit, die Einzelnen vor der Unterwerfung unter brutale Gebote ihrer eigene Kultur zu schützen.

[...]"

Aber das Recht ist voraussetzungslos? Und Kulturen sind nur nach Maßgabe derjenigen schützenswert, die sich selbst für "zivilisiert" halten? Da erhebt sich auch spontan die Frage, welchem Bereich wohl die Todesstrafe bzw. die Forderung nach ihr zuzurechnen ist: der Zivilisation als Teil des Strafrechts oder der Kultur als Ausdruck des archaischen Verlangens nach Blutrache?

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