Mittwoch, 28. März 2012

Die strategischen Streitkräfte der RF


Anfang März hat die Federation of American Scientists einen Bericht unter dem Titel "Russian nuclear forces 2012" vorgelegt. Das interessante Papier geht auf den derzeitigen Zustand und die Entwicklungsperspektiven der atomar bewaffneten strategischen Streitkräfte der Rußländischen Föderation ein. Aus der Fülle von Informationen seien an dieser Stelle einige wichtige Punkte herausgegriffen.

1. Landgestützte Interkontinentalraketen

Die Strategischen Raketentruppen haben derzeit 322 ICBMs mit etwa 1090 Sprengköpfen im aktiven Bestand. Ein erheblicher Teil der Trägerraketen muß jedoch in den nächsten Jahren ausgesondert werden, da sie ihr Lebensalter erreicht haben. Die Produktion neuer Systeme geht nur langsam vonstatten, ein auch nur annähernd vollständiger Ersatz der außerdienstgestellten Trägermittel ist nicht möglich. Mithin wird die Zahl der ICBMs in den nächsten zehn Jahren auf etwa 250 Stück sinken.

2. Seegestützte Interkontinentalraketen

Die Seekriegsflotte verfügt über 9 Atom-U-Boote, die Interkontinentalraketen tragen können (6 in der Nordflotte, 3 in der Pazifikflotte). Zusammen sind dies im Höchstfall 144 SLBMs mit bis zu 528 Sprengköpfen. Von diesen Schiffen sind in der Regel jedoch nicht mehr als sieben tatsächlich bewaffnet.

3. Strategische Bomber

Im Bestand der Fernfliegerkräfte befinden sich 72 strategische Bomber, die mit insgesamt 820 Atomsprengköpfen, getragen von Flügelraketen oder Bomben, bestückt werden können.

In den vergangenen Jahren mußten mehrere Bomber ausgemustert werden. Dasselbe trifft für den Großteil der raketentragenden U-Boote zu. Während die Zahl der landgestützten Systeme allerdings weiter drastisch sinken wird (s.o.), werden sich die maritimen und fliegenden Systeme wohl auf dem jetzigen niedrigen Niveau stabilisieren.

Abschließend noch einige Zahlen zum Vergleich: Auch in den NATO-Staaten ist die Zahl der Atomwaffen und ihrer Trägersysteme in den zurückliegenden 20 Jahren erheblich gesunken. Zur Zeit verfügen die USA über folgende strategische Streitkräfte: 420 einsatzbereite ICBMs, 14 SLBM-tragende Atom-U-Boote und 60 strategische Bomber. In Frankreich und Großbritannien stellen jeweils 4 SLBM-bestückte U-Boote den Hauptteil der strategischen Streitkräfte dar.



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Fotos: Wikipedia.

Sonntag, 25. März 2012

Protestanten in St. Petersburg


Was weiß man in Deutschland über evangelische Christen in Rußland? Wohl nicht viel, das Land wird primär mit der Orthodoxie und vielleicht noch mit dem Islam assoziiert. Juden, Buddhisten, Katholiken und Protestanten tauchen, wenn überhaupt, nur am Rande auf. Dabei war und ist Rußland multireligiös. Und gerade die Lutheraner wirkten in den zurückliegenden Jahrhunderten oft prägend, so daß für viele Russen das Wort Protestant identisch ist mit Lutheraner. Allein in Sankt Petersburg existierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere lutherische Gemeinden, deren größte 20.000 Glieder hatte. Gemeint ist die St. Petri-Gemeinde mit ihrer berühmten Kirche am Newskij-Prospekt im Zentrum der Stadt.

Anläßlich des dreihundertjährigen Gemeindejubiläums ist eine reich bebilderte Festschrift unter dem Titel "St. Petri 1710-2010 - Drei Jahrhunderte evangelischen Gemeindelebens in St. Petersburg" erschienen (Bezug über die Fachbuchhandlung Hein, Preis: 16 €). Sie informiert über die Anfänge evangelischen Gemeindelebens in Piter. Die erste Kirche befand sich 1704 in der Peter-und-Pauls-Festung und wurde vor allem von ausländischen Soldaten und ihren Familien besucht. Weitere Gemeindegründungen und Kirchenbauten folgten, so daß es fast ein Dutzend Gemeinden in Petersburg gab. Selbige wuchsen vor allem durch die Zuwanderung von Deutschen und Niederländern in das Kaiserreich. Nicht vergessen darf man auch die Gemeinden der ebenfalls lutherischen Finnen und Esten in der Stadt.

Ausführlich wird die wechselvolle Geschichte der Petrikirche beleuchtet. 1728/30 wurde die erste Kirche am Newskij-Prospekt errichtet; 1838 wurde dann der heute noch stehende klassizistische Bau geweiht. Seit den 1920er Jahren erschwerten die Bolschewiki die Gemeindearbeit immer weiter, 1937 wurde die Kirche geschlossen, 1938 fanden die beiden Pastoren den Märtyrertod. Das Gebäude wurde zunächst als Lager genutzt, 1962 folgte der Einbau eines Schwimmbades. Erst zu Beginn der 1990er gelang es der 1988 wiederkonstituierten evangelisch-lutherischen St.-Annen- und St.-Petrigemeinde, die Rückgabe der Kirche zu erwirken.

Seither wurde das Bauwerk umfassend saniert. Die Petrikirche ist außerdem Sitz des Bischofs der Ev.-Lutherischen Kirche in Rußland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien. Des weiteren beherbergt das Gelände ein Begegnungszentrum und seit kurzem auch eine deutsche Schule mit angeschlossenem Kindergarten.

Das Buch enthält auch einige überraschende Details über die lutherischen Gemeinden zur Zarenzeit. Wie die Orthodoxen so waren auch die Lutheraner Staatskirche, d.h. ihre Post wurde vom staatlichen Kurierdienst befördert, sie stellten Militärgeistliche usw. Insoweit bestand kaum ein Unterschied zur bevorrechtigten Stellung der evangelischen Staatskirchen in Deutschland. Von einer einflußreichen Stellung, wie sie sie vor einhundert Jahren innehatten, sind die Petersburger Protestanten schon mangels Masse weit entfernt. Dennoch pulsiert das Gemeindeleben, wenn auch in bescheidenem Umfang. Davon kann man sich auch als Besucher der Stadt überzeugen, wenn man die Petrikirche besichtigt.


Die Petrikirche anno 1909, vom Newskiprospekt aus gesehen.


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Dienstag, 13. März 2012

Wahlnachlese IV: Wählerbeschimpfung

Die Kundgebung auf dem Neuen Arbat

Die seit Dezember 2011 entstandene und für rußländische Verhältnisse relativ breite Protestbewegung ist zusammengebrochen. Sie ist weder an Polizeiknüppeln oder anderen Maßnahmen des "Regimes" gescheitert, sondern an ihrer eigenen Heterogenität, die den deutlichen Wahlsieg Wladimir Putins am 4. März nicht überlebt hat. Das reale Volk wollte etwas andere als das imaginierte.

Besonders deutlich zeigte sich dies bei der Kundgebung (oder besser: den Kundgebungen) am vergangenen Samstag. Zunächst hatten sich etwa 10.000 Menschen auf dem Neuen Arbat im Zentrum Moskaus versammelt, um die aus ihrer Sicht unfairen Wahlen zu beklagen. Die Veranstalter gaben - wie gewöhnlich - eine weitaus höhere Zahl an und sprachen von 25.000 Teilnehmern. Egal, welche Zahl man für glaubwürdiger hält - es waren sehr wenige dafür, daß in Moskau und Umland 18 Millionen Menschen leben. Ursprünglich war die Demonstration vom 10.03. sogar für 50.000 Teilnehmer angemeldet worden, aus heutiger Sicht eine utopische Zahl.

Dementsprechend zerknirscht waren auch die Wortführer der Opposition. Für die nächste Zeit sind keine neuen Kundgebungen geplant. Der Linksextremist Udalzow hat zwar für den 1. Mai zu einem "Marsch der Millionen" aufgerufen, doch dieses Projekt dürfte sich wohl ebenso als Hirngespinst erweisen wie Nawalnyjs großspurige Ankündigung, im zuende gehenden Winter eine Million Demonstranten auf die Straße zu bringen.

Die Opposition, numerisch ohnehin immer eine Minderheit, ist zerfallen. Während die Hauptkundgebung am Samstag friedlich und ohne Probleme verlief, sonderten sich zwei radikale Gruppen, die mit den "Bürgerlichen" nicht mehr gemeinsame Sache machen wollten, ab und begannen eigene, nicht angemeldete und somit auch nicht genehmigte Demonstrationen. Zunächst verließ eine Gruppe von etwa 100 Nationalisten um den rechtsextremen Dmitrij Djomuschkin den Neuen Arbat und zog mit einer riesigen schwarz-gelb-weißen Flagge durch die Straßen. Sie sähen keinen Sinn in ihrer weiteren Teilnahme an der Demo, so ihr Anführer. Später nahm die Polizei 25 von ihnen vorläufig fest.


Die Kundgebung auf dem Neuen Arbat

Eine zweite Gruppe von rund 60 Personen scharte sich später um Udalzow. Sie wollte zum Puschkinplatz ziehen, um dort eine Kundgebung anzuhalten und Putin aus dem Amt zu jagen. Nachdem Udalzow die Umzäunung des Verteidigungsministeriums erklommen hatte, um eine Ansprache an die "revolutionären Massen" zu halten, griff die Polizei zu und nahm ihn sowie zwei seiner Mitstreiter fest. Damit war auch diese nicht angemeldete Demonstration der Linksaußen-Kräfte beendet.

Der Samstag hat gezeigt, daß die bürgerliche Protestbewegung in ihrer bisherigen Form am Ende ist. Eine Zukunft haben nur noch zwei Gruppen: diejenigen, die bereit sind, konstruktiv in der Politik mitzuarbeiten, und die Radikalen von links und rechts, die womöglich zunehmend zu illegalen Aktionen greifen werden, um die Behörden zu einem (u.U. harten) Durchgreifen zu provozieren. Insoweit hat der Nationalbolschewist Limonow nicht unrecht, als er in einem Interview sagte, daß das Herangehen der "Führer der Bourgeoisie" "kindisch" sei (sofern man eine Revolution wolle). Damit sind wir wieder bei dem schon früher erörterten Hang von Teilen der Opposition zum Bürgerkrieg. Allerdings ist eine solche Methode nur für eine absolute und radikale Minderheit akzeptabel.

Kehren wir noch einmal zurück zur Präsidentenwahl vom 4. März. An die Behauptung, Wladimir Putin habe infolge grober Wahlfälschung gewonnen, glauben nicht einmal mehr seine Gegner. Gewiß, einige von ihnen plärren noch in den Medien herum. Doch wenn man in den Blogs und Foren der Aktivisten liest, dann findet man dort eine große Ernüchterung. Sie mußten zu ihrem Erstaunen feststellen, daß Putin im Volk tatsächlich so beliebt ist. Einige zogen daraus die Schlußfolgerung, daß Straßenproteste sinnlos geworden seien und man stattdessen neue Parteien gründen und sich in diesem Rahmen engagieren müsse.


Kundgebung auf dem Neuen Arbat: Unter den Symbolen der Sowjetunion auf dem Weg zu mehr Demokratie und Freiheit?

Andere hingegen - selbst wenn sie nicht zu den o.g. Radikalen zählen - können ihre Niederlage nur schwer verwinden. Sie beschimpfen die Wähler Putins in übelster Weise: "käufliche Mißgeburten", "Schmarotzer", "Abschaum" und Ausdrücke aus der Fäkalsprache gehören zu den gängigen Formulierungen. Insbesondere Rentner und Angestellte im öffentlichen Sektor sind zu einem neuen Feindbild geworden. Die neue APO, die sich selbstbewußt "kreative Klasse" nennt und stolz darauf ist, sich zugleich ein iPhone, ein iPad und einen Mercedes oder Lexus leisten zu können, sich stilvoll zu kleiden und um die Welt zu reisen, nimmt für sich das Recht in Anspruch, dem Rest des Volkes vorzuschreiben, wen es zu wählen hat. Solche Statements waren auch vor Jahren schon zu hören. Anstatt die Wähler von ihrem eigenen Programm zu überzeugen, sollte den "Armen" das Wahlrecht entzogen werden, da sie angeblich keine "vernünftigen" Entscheidungen treffen könnten.

Das sind die Leute, die in den deutschen Medien als Graswurzelbewegung, Musterdemokraten und Menschenrechtsaktivisten dargestellt werden. Tatsächlich handelt es sich um eine relativ kleine Schicht mit einem gewaltigen Selbstgefühl. Sie seien künftig die herrschende Klasse, sie allein wären die kreativen Köpfe, der "beste Teil des Volkes", das "Gewissen der Nation" und nur von ihnen hänge die weitere wirtschaftliche Entwicklung Rußlands ab. Deshalb sei ihre Meinung auch besonders zu berücksichtigen. Ihre politischen Auffassungen wären "moralischer" und besäßen demzufolge mehr Wert als die anderer Bürger.

Was dieser Teil der Opposition fordert ist mithin gerade keine Demokratie mit einem allgemeinen Wahlrecht, sondern eine Oligarchie - verstanden als unumschränkte Herrschaft der Vermögenden und Intellektuellen über den Rest des Volkes.

Sonach ist jeder "degeneriert", "verrückt" oder (das wurde wirklich gesagt!) aus "minderwertigem genetischen Material", der es sich wagt, eine von der Kleingruppenmeinung abweichende Auffassung zu vertreten. Daraus strömt der gesamte aufgestaute Haß einer kleinen Minderheit, die erstmals zu der schmerzlichen Einsicht gelangte, daß sie in ehrlichen Wahlen unterlegen ist. Der Ökonom Kirill Martynow hat den Katzenjammer der "nicht-systemischen Opposition" treffend beschrieben:
"Die Opposition lebt in einer Märchenwelt und jetzt ist sie in die Realität zurückgekehrt. In dieser märchenhaften Welt existierte das gute und schöne, aber unterdrückte russische Volk, und wartete darauf, befreit zu werden. Wenn sie ein solches Volk nicht vorfindet, dann taugen die Menschen nur noch als Arbeitsvieh und eine dritte Variante gibt es nicht.

[...]"
Diese absonderliche und höchst undemokratische Weltsicht wurde auch durch deutsche Medien verbreitet, die z.T. davon sprachen, daß Putin die "falsche Mehrheit" bekommen habe. Thomas Fasbender hat diese moralinsaure Bigotterie auf folgende Formel gebracht:
"[...]

Wohlgemerkt – Demokratie ist nicht, wenn man wählen darf; Demokratie ist, wenn man richtig wählt.

[...]"

Udalzows Ansprache an seine Gefolgschaft vor dem Verteidigungsministerium

Der Journalist Sergej Stillwalin hat in einem Kommentar die offenkundigen Mängel der neuen Opposition benannt, welche sie für die Durchschnittswähler inakzeptabel mache. Zum einen sind viele Leitfiguren höchst unsympathisch. Sie würden sich wie z.B. Udalzow als Berufsoppositionelle gebärden, niemals lächeln und so niemanden positiv für sich einnehmen. Zudem gleite die Bewegung ins Showbusiness ab, wenn ernsthaft darüber diskutiert werde, ob es eine "oppositionelle Mode" gebe. Und drittens würden sie durch ihre demonstrative Verachtung der Orthodoxie die religiösen Gefühle vieler Bürger verletzen und wären auch deshalb für die Mehrheit nicht wählbar.

Nach den wüsten Beschimpfungen der letzten anderthalb Wochen dürfte es ohnehin unwahrscheinlich sein, daß viele derzeitige Putin-Wähler in den nächsten Jahren zur APO, ihren Kandidaten und Parteien überschwenken. Wer die Mehrheit der Durchschnittsbürger derart vergrault, darf sich über seine Unbeliebtheit nicht wundern.

An dieser Stelle lohnt ein Blick zurück in die Geschichte Rußlands. Nachdem 1905 im Zarenreich erstmals ein Gesamtparlament eingerichtet worden war, zeigte sich, daß viele Liberale und Sozialisten zu einer konstitutionellen Arbeit gar nicht fähig waren. In dem 1911 erschienenen Sammelband "Wechi" (dt.: Wegzeichen) kritisieren mehrere Intellektuelle diese Unfähigkeit ihrer "Genossen". Darin befaßt sich der Jurist Bogdan Kistjakowskij mit dem Rechtsbewußtsein der Intelligenzija, welches er für unterentwickelt hält. Als Beweis zitiert er u.a. aus einem Parteitagsprotokoll der SDAPR von 1903:
"[...]

Wenn das Volk in einer Woge des revolutionären Enthusiasmus ein sehr gutes Parlament wählt - eine Art chambre introuvable -, dann sollten wir es erhalten; gingen die Wahlen allerdings ungünstig aus, so müßten wir es möglichst nicht erst nach zwei Jahren, sondern schon nach zwei Wochen auseinanderjagen.

[...]" (Berdjajew/Schlögel (Hrsg.): Wegzeichen, Frankfurt/M. 1990, S. 231.)
Wie man sieht, hatten die, die vorgaben, das Volk befreien zu wollen, in Rußland schon immer sehr eigenwillige Ansichten. Es lohnt sich, die "Wegzeichen" zur Hand zu nehmen, wenn man die derzeitige Opposition mit all ihren Widersprüchen besser verstehen will.

Doch zurück in die Gegenwart. Die anstehende Vereinfachung des Parteienrechts in der RF hat schon jetzt zu zahlreichen Neugründungen geführt. Künftig muß eine Organisation nur noch 500 Mitglieder haben, um sich als politische Partei registrieren zu lassen. Zum jetzigen Zeitpunkt haben 68 (mehr oder minder) neue Parteien diese Registrierung beantragt. Fragt sich nur, ob dies zu einer weiteren Fragmentierung der politischen Landschaft führen wird. Die Entstehung zahlreicher Kleinstparteien wirkt sich in der Regel nicht gut auf deren Wahlchancen aus. Und wenn sie nicht in den Parlamenten vertreten sind, wird wohl auch in Zukunft die Mär vom bösen Putin dafür herhalten müssen, die Ursachen der eigenen Mißerfolge zu vernebeln.

Die rußländische Innenpolitik der nächsten Monate und Jahre wird spannend, aber mein Instinkt sagt mir, daß es trotz allem Getöse kurz- und mittelfristig keine grundstürzenden Veränderungen geben wird. Und zwar nicht aus böser Absicht, sondern weil die meisten Bürger sie nicht wünschen und weil ein Teil der politischen Akteure - namentlich aus dem "liberalen" bzw. "demokratischen" Spektrum - sich noch im Stadium der Infantilität befindet und erst erwachsen werden muß. Dazu dient die "Schule des zivilsatorischen Prozesses", die das Land seit vier Monaten durchläuft und in dessen Verlauf hoffentlich auch die Heißsporne lernen, sich angemessen zu benehmen. Ein Ort dafür können die Kommunal- und Regionalparlamente sein, die teilweise ebenfalls am 4. März neu gewählt wurden. Dort können die "Nichteinverstandenen" zeigen, daß sie es besser machen.


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Fotos: RIA Nowosti, mn.ru.

Donnerstag, 8. März 2012

Wahlnachlese III


Dem deutschen Beobachter der Präsidentenwahl vom vergangenen Sonntag stellt sich die Frage, ob er weiter die Vorgänge in Rußland selbst erörtern oder sich lieber mit der oft stark verzerrten Darstellung derselben in den deutschen Medien befassen soll. Da letzteres wenig spannend ist, habe ich mich (vorerst) für die erste Alternative entschieden.

In der Debatte wurde immer wieder erwähnt, daß Wladimir Putin sich seinen Wahlsieg hart erarbeiten mußte. Einen derart intensiven Wahlkampf wie 2012 habe er noch nie geführt, nie zuvor habe er so viele Aufsätze zu verschiedenen politischen Themen veröffentlicht (in diesem Jahr waren es sieben). Viele seiner Wähler hätten eine doppelte Erwartung an ihn: Einerseits soll das Positive am bestehenden Zustand erhalten werden, andererseits trauen sie ihm zu, als notwendig empfundene Reformen durchzuführen (wie es in den vergangenen Jahren schon geschah - Stichwort: Militärreform). Deshalb wird der gemeinsame Auftritt von Putin und Medwedew am Wahlabend auch als Ausdruck echter Emotionen gewertet; der Noch-Premier habe die richtigen Worte gefunden. In diesem Geist soll er seine neue Amtszeit beginnen.

Schon nach den Verlusten seiner Partei bei der Parlamentswahl im Dezember fiel mir auf, daß Putin die ihm zugeschriebene Rolle des allumfassenden Landesvaters verlassen hat und in die des (Partei-)Politikers geschlüpft ist, der weiß, daß er nur einer von mehreren Akteuren in der Arena ist. Und er kam mit diesem Rollenwechsel besser zurecht als manche Bürger und Beobachter, die nicht glauben wollten, daß der vermeintliche Autokrat das Vorhandensein abweichender Meinungen tatsächlich akzeptieren kann. Noch am vergangenen Sonntag hat im Fernsehen jemand gefordert, Putin solle der Präsident aller Bürger der RF werden, worauf der Moderator mit der spöttischen Bemerkung reagierte, diese Aufgabe könne höchstens "Djed Moros" (also der Weihnachtsmann) erfüllen, nicht jedoch ein Politiker.

In der politischen Landschaft kündigen sich größere Veränderungen an, man diskutiert über die Zukunft von Parteien und Politikern. Besondere Aufmerksamkeit hat das gute Abschneiden von Michail Prochorow mit fast 8 % der Wählerstimmen gefunden. Der Publizist Maxim Kononenko hat eine interessante Analyse über prochorows Ergebnis verfaßt. Darin betrachtet er zunächst die schlechten Wahlergebnisse rechtsliberaler Parteien nach 1999 (damals kam die Partei SPS auf einen Höchstwert von 8,5 %). Das Problem der Parteien sieht er vor allem in deren unklaren Programm und Propaganda, worin oft diametral entgegengesetzte Forderungen erhoben wurden. Zunächst machten sie (zuletzt im Herbst 2011) mit klassisch liberalen Positionen Wahlkampf, doch dann merkten sie, daß die Umfragewerte schlecht blieben. Also wurden wenige Wochen vor der Wahl die Wahlkampfmanager ausgetauscht. Diese haben den Parteiverantwortlichen dann klar gemacht, daß es im Land viel mehr Renterinnen als typisch liberale Wähler gäbe. Also wurde der Wahlkampf kurzfristig auf sozialistische Parolen umgestellt ("höhere Renten" etc.). Dadurch wurden die klassisch liberalen Wähler jedoch verschreckt und haben ihr Kreuz entweder bei Putin gemacht oder blieben zu Hause. Und die Rentner hatten ohnehin andere Parteipräferenzen.

Doch mit Prochorows Betreten der politischen Bühne hat sich das geändert. Der Mann ist selbst reich genug, weshalb er im Wahlkampf keine Rücksicht auf die Meinungen von Sponsoren oder Parteifunktionären nehmen mußte. Ein wahrhaft unabhängiger Kandidat. Mithin konnte er seine rechtsliberale Position durchgängig vertreten. Und prompt tauchten die liberalen Wähler, deren Potential von Soziologen auf eine Größenordnung von 15 bis 20 % geschätzt wird, aus der Versenkung auf. Diese Wählergruppe war vorher nur theoretisch existent, doch dank Prochorow hat sie sich materialisiert. Sie ist jetzt in Rußland eine Größe, mit der gerechnet und gearbeitet werden kann. Kononenko prognostiziert, daß der politische Liberalismus in den nächsten Jahren einen Aufschwung erleben und in der nächsten Staatsduma auch eine liberale Partei in Fraktionsstärke vertreten sein werde. Zudem ist Prochorow ein unverbrauchtes Gesicht, das frischen Wind in die Politik gebracht hat.

Das gesamte Parteiensystem dürfte mittelfristig vor großen Veränderungen stehen. Die bei den Dumawahlen im Dezember angeschlagene Partei Einiges Rußland könnte im Laufe des Jahres umgebaut werden. Möglicherweise hat sich die Idee einer umfassenden Partei der rechten Mitte überlebt, vielleicht kommt es sogar zu Spaltungen.

Etwas konkreter sind die Umbaupläne bei den Sozialdemokraten vom Gerechten Rußland. Nach dem deutlichen Mißerfolg von deren Präsidentschaftskandidaten Mironow wird nun parteiintern an dessen Stuhl gesägt. Andere Funktionäre wollen die Partei anders ausrichten und aggressivere Oppositionsarbeit betreiben. Zudem wollen sie, daß GR mit anderen linken Parteien fusioniert. Wer damit gemeint ist, bleibt zwar vorerst offen, doch dürfte es sich nur um die KPRF oder Teile davon handeln.
Allerdings ist unklar, warum die Kommunisten, die im Land als zweitstärkste Kraft (anders als GR) über eine solide Wählerbasis verfügen, sich darauf einlassen sollten. Aber vielleicht ändert sich ebenfalls in der KPRF die Stimmung, denn der Abgang von Parteichef Sjuganow dürfte absehbar sein. Damit könnte, wie die Zeitung Moskowskij Komsomolez schreibt, "in der Perspektive [...] eine 'normale' sozialistische Partei entstehen, die sich nicht mehr nach der Sowjetunion sehnen und nicht mehr von einer durchgehenden Verstaatlichung träumen würde. Wie aber eine solche Partei entstehen könnte und wer an ihrer Spitze stünde, kann vorerst nicht einmal geraten werden."

Wie schon am Montag ausgeführt, stehen vermutlich auch in der LDPR personelle Veränderungen an, die vielleicht auch zu programmatischen Veränderungen führen. Dann könnten sich ER und die Liberaldemokraten auf dem Feld des Konservatismus Konkurrenz machen.

Zur außerparlamentarischen Opposition hatte ich mich schon am Dienstag geäußert. Sie steht an einem Scheideweg. Die für den kommenden Samstag auf dem Neuen Arbat angemeldete Demonstration wird wohl die letzte in dem Format, das sich seit Dezember entwickelt hat, sein. Die Organisatoren rechnen mit 50.000 Teilnehmern, doch diese Zahl wird m.E. nicht erreicht werden. Der größere Teil der (ehemaligen) Demonstranten und Aktivisten wird sich einen Platz für politisches Engagement im Rahmen des politischen Systems suchen (den Weg dafür hat schon Jawlinskij gewiesen), einige wenige werden jedoch den Gestus des Revolutionärs beibehalten wollen. Für die alte Garde wie Nemzow, Ryshkow & Co. gilt jedoch das gleiche wie für Sjuganow und Shirinowskij - ihre Uhr ist nach zwei Jahrzehnten in der Politik abgelaufen.

Damit verbunden ist eine der wichtigsten Fragen, nämlich die nach der parteipolitischen Zukunft des Liberalismus (der in der RF oft als "rechts" gilt). Prochorow will demnächst eine eigene Partei gründen. Fraglich ist hierbei, ob damit tatsächlich eine solide Partei entstehen wird, die nicht von den typischen Krankheiten der rußländischen Liberalen wie Egomanie und Spaltertum befallen ist. Eine neue liberale Partei müßte auf jeden Fall ein ernsthaftes Programm vorlegen und dann versuchen, in den nächsten Jahren bei Regionalwahlen erfolgreich zu sein. Sonst klappt es nicht mit dem Erfolg auf Föderationsebene. Der MK schreibt dazu:
"[...]

Nach der Präsidentenwahl haben die Rechten in Russland viel bessere Erfolgschancen als jemals zuvor. Sie werden nicht mehr mit den Reformern der 1990er Jahre identifiziert, die in den frühen 2000ern die Macht verloren haben und sich jetzt danach sehnen. Das ist gut für die liberale Idee, die Politik und Russland im Allgemeinen."
Bleibt abschließend noch die Frage, was Wladimir Putin in der Zukunft tun wird. In der ausländischen Presse wurde verschiedentlich die Befürchtung geäußert, jetzte würden "die Daumenschrauben wieder angezogen", es drohe gar eine neue Diktatur. Dieser Dramatik entbehrt allerdings jegliche Basis in der Realität. Warum sollte der neue Präsident das tun? Weshalb sollte das, was er kurz vor der Wahl in einem langen Pressegespräch gesagt hat, nicht mehr gelten? Warum sollten die Reformen, welche z.T. schon als Gesetzesprojekte in der Duma verhandelt werden, wieder rückgängig gemacht werden?

Ich kann keinen Grund für einen solchen "roll-back" erkennen. Zudem erinnere ich mich noch sehr gut, wie in den Jahren 2006 bis 2008 dieselben Journalisten, Aktivisten und Politiker, die jetzt Panik schüren, hektisch und hyperventilierend durch Veranstaltungen und Medien gezogen sind. Damals hieß es, Putin würde niemals die Macht als Präsident abgeben und aus dem Kreml ausziehen. Eher gäbe es eine Verfassungsänderung oder einen Staatsstreich. Das, was 2007/2008 tatsächlich geschehen ist - nämlich das verfassungsmäßige Ausscheiden des Präsidenten aus dem Amt -, war für die Alarmisten und ihre Satrapen unvorstellbar.
Dasselbe passierte danach während der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 bis 2010. Auch da gab es immer wieder Stimmen, die behaupteten, Putin könne dem unerfahrenen Medwedew nicht das Ruder überlassen und würde sich mit irgendwelchen Tricks zurück in den Kreml befördern. Ist dieser Fall eingetreten? Nein. Die Machtwechsel vollziehen sich in Rußland ganz legal nach Wahlen.
Mittlerweile habe ich gelernt, nicht auf diese Alarmisten und ihre hechelnden Schriften zu hören. Zu oft haben sie etwas gesagt oder geschrieben, was sich später bei einer Überprüfung an den Quellen in Rußland selbst als falsch erwies. Die regelmäßigen schlimmen Vorhersagen sind ebenso regelmäßig ausgeblieben.

Nun nachfolgend meine Einschätzung der politischen Zukunft des Wladimir Putin. Die bereits eingeleiteten politischen Reformen (Direktwahl der Gouverneure, leichtere Registrierung von Parteien, Änderungen am Wahlrecht etc.) werden fortgesetzt. Was sich daraus entwickeln wird, hängt jedoch von allen gesellschaftlichen und politischen Akteuren ab. Putin ist kein dämonischer allmächtiger Diktator und war es auch zu keinem Zeitpunkt, Politik ist auch in Rußland ein Spiel mit vielen Mitspielern.
Putin wird voraussichtlich bis zum Ende der Wahlperiode im Jahr 2018 im Präsidentenamt bleiben. Für mich ist kein Grund ersichtlich, weshalb er wesentlich früher zurücktreten sollte (manche spekulieren auf einen Rücktritt 2014). In dieser Zeit wird er jedoch einen Nachfolger aufbauen, den er 2018 den Wählern empfehlen wird. Wer das sein könnte, ist natürlich noch unklar, es gibt jedoch schon Spekulationen darüber, daß es 2018 zu einem "Showdown" zwischen Prochorow und Dmitrij Rogosin kommen könnte.

Interessanter ist die Frage, wer in den nächsten Jahren Ministerpräsident und Minister werden wird. Dmitrij Medwedew wird voraussichtlich im Sommer ins Moskauer Weiße Haus einziehen, doch glaube ich nicht, daß er dort lange verbleiben wird. Für Putin ist es wichtig, die liberal gesinnte Mittelschicht, die sich in der Protestbewegung der letzten Monate artikuliert und jetzt bei den Präsidentenwahlen für Prochorow gestimmt hat, einzubinden. Das wird vermutlich geschehen, indem er den ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin erneut ins Kabinett beruft oder ihn sogar zum Premierminister ernennt.
Spekulationen über einen Eintritt Prochorows in die Regierung halte ich für wenig wahrscheinlich, auch wenn Putin sich so geäußert hat. Denn damit würde Prochorow seine längerfristigen politischen Pläne sabotieren und sich möglicherweise im Tagesgeschäft verbrauchen.
Und für Medwedew wird sich schon ein angemessener Posten finden lassen, etwa in einer akademischen Einrichtung, von dem aus er als "elder statesman" wirken kann. Schließlich war er vor seiner politischen Karriere Uni-Dozent.

Die nächsten Jahre werden auf jeden Fall spannend. Die politische Landschaft in Rußland wird sich verändern. Die Gesichter (und Parteien?) der 1990er Jahre werden von der politischen Bühne abtreten, viele neue werden hinzukommen. Die gesellschaftlichen Veränderungen wie das Erstarken der Mittelschicht, die eine Folge von Putins Regierungspolitik sind, werden sich noch stärker in der politischen Szenerie widerspiegeln. Ebenso spannend ist die Frage, wie die deutschen Medien über diese Vorgänge berichten werden. Genau so eintönig, schematisch und voreingenommen wie bisher, wo das Ergebnis oft schon vor Beginn der Recherche feststand? Oder werden sie bereit sein, sich auf das, was in Rußland passiert, wirklich einzulassen?


Weiterführende Links:

OSZE-Gebetsmühlen verstellen den Blick auf den Wandel

Opposition am Scheideweg – wo führt der Weg hin?

Russian Presidential Elections Aftermath

Tapping on the Shoulder

Mitleid mit Putin

Why Golos’ Own Figures Support Only 3 % - 6 % Fraud

Austrian MP disputes charge of flawed Russia vote

Putin: Es gab Wahlverstöße, sie sind aufzuklären

Prokhorov, President Of Londongrad

Elections 2012 and DDoS attacks in Russia


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Foto: www.nakanune.ru.

Dienstag, 6. März 2012

Wahlnachlese II: Droht ein Bürgerkrieg?


In der gestern schon erwähnten Fernsehdiskussion am Wahlabend kam mehrfach die teils besorgte, teils prophetisch klingende Warnung vor einem - wörtlich - Bürgerkrieg in Rußland auf. Die Demonstration am 5. März sei vielleicht die letzte friedliche. Auch in Blogposts und Kommentaren hieß es, daß die Putin-Gegner jetzt nicht mehr friedlich bleiben könnten. Durch den Wahlausgang hätten sie ihre Hoffnung verloren, denn das Volk hat Wladimir Putin nicht - wie von einigen erhofft - in die Wüste gejagt, sondern mit deutlicher Mehrheit aus dem Weißen Haus wieder in den Kreml geschickt. Damit seien friedliche Proteste gegen ihn sinnlos geworden.

Dieser Befund ist m.E. durchaus zutreffend. Die Putin-Gegner sind nicht identisch mit dem Volk, auch wenn sie sich das selbst suggeriert haben. Außerdem zeigt sich jetzt, daß die inner- wie außerparlamentarische Opposition gegen Putin und die Regierung alles andere als einig ist. Seit Mitte Dezember waren die notorischen Rabauken ruhiggestellt (fragt sich nur, auf wessen Anweisung hin) und hatten den bürgerlichen Demonstranten die Straße überlassen. Doch deren Zahl stagnierte während der verschiedenen Kundgebungen. Die von Nawalnyj großspurig angekündigte 1 Million ist nicht einmal ansatzweise erreicht worden, selbst die teilweise genannten Zahlen von über 100.000 Teilnehmern dürften übertrieben gewesen sein.

Zudem war der seit Dezember entstandene bürgerliche Teil der Protestbewegung zwar groß, aber ziemlich unpolitisch. Ihr einigendes Band war die Forderung nach fairen Wahlen, die diversen "demokratischen" Alt-Politiker interessierten sie weniger (vgl. hier und hier). Ihre weitergehenden politischen Ambitionen wurden von der Regierung in den vergangenen Wochen aufgenommen und in die Form von Gesetzentwürfen gegossen. Das Signal von Putin und den Seinen hieß: Wir haben verstanden. Die Bewegung hat in der Folge an Dynamik verloren und dürfte sich jetzt wieder spalten. Während nur noch relativ wenige aus der Mittelschicht demonstrieren gehen, haben sich seit Sonntag die Rabauken und Revoluzzer wieder lautstark zurückgemeldet. Diese Entwicklung und der Scheideweg, an dem die Opposition im Augenblick steht, sollen anhand der Ereignisse des gestrigen Abends illustriert werden.



Für den Abend des 5. März war schon vor der Wahl eine Kundgebung unter dem Motto "Für faire Wahlen" angemeldet und von der Moskauer Stadtverwaltung auf dem Puschkin-Platz im Zentrum der Stadt genehmigt worden. Gestern fanden sich dort rund 15.000 Demonstranten ein, um den Ansprachen des Präsidentschaftskandidaten Prochorow (der seinen Wählern dankte) und anderen zu lauschen. Doch die Veranstaltung war, wohl aufgrund der kühlen Witterung, recht schnell beendet und die meisten Teilnehmer gingen wieder ihrer Wege. Damit war der bürgerliche Protest erledigt; Probleme irgeneiner Art gab es bis dahin nicht.

Doch ein "harter Kern" von einigen hundert Personen blieb nach Ende der Kundgebung auf dem Puschkinskaja Ploschtschad zurück. Der Linsextremist Udalzow, dem sich der Anti-Korruptions-Geschäftsmann-und-Blogger Nawalnyj und der Jungpolitiker Jaschin anschlossen, hatte - in bewußter Mißachtung des geltenden Rechts - dazu aufgerufen, ein Zeltlager zu errichten, um Putin zum Rücktritt zu zwingen. Ein Brunnen auf dem Platz wurde von ihnen besetzt.
Und es kam, wie es kommen mußte: Die Polizei forderte die Demonstranten eine Stunde lang auf, den Platz zu räumen. Sogar ein Abgesandter des Menschenrechtsobmanns der Regierung erschien auf dem Platz, um die Leute zum Aufgeben zu bewegen. Vergebens. Sie warteten geduldig darauf, von der Polizei abgeführt und wegen einer nicht angemeldeten Demonstration festgenommen zu werden. Dabei zeigten einige der sog. "Demokraten" auch den Hitlergruß (siehe Video).




Insgesamt kam es auf dem Puschkin-Platz zu 250 Festnahmen. Fast alle Betroffenen wurden jedoch noch in der Nacht wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Räumung verlief, soweit in der Live-Übetragung ersichtlich, ohne Komplikationen oder nennenswerten Gewalteinsatz. Der anschließende Versuch von etwa 100 Personen, die Twerskaja-Straße (eine der wichtigsten Straßen der Stadt) zu blockieren, konnte von einer Handvoll Verkehrspolizisten beendet werden, deren einzige Schutzkleidung ihre Warnweste war.
(Detaillierter kann man die dortigen Ereignisse u.a. hier, hier und hier nachlesen.)

Gestern Abend ging es noch an einer anderen Stelle in der Moskauer Innenstadt hoch her. Auf dem Platz vor der Lubjanka hatten sich einige Dutzend Nationalbolschewisten und andere Nationalisten zusammengerottet. Diese Fraktionen waren während der letzten Wochen ungewöhnlich ruhig gewesen, doch nun ließen sie ihrem Haß freien Lauf. Sie verprügelten einige der zahlreich erschienenen Journalisten und es bedurfte erheblicher Anstrengungen der Polizei, die selbstverständlich nicht angemeldete Kundgebung aufzulösen. Das sah schon weitaus mehr nach Bürgerkrieg aus als die Vorgänge auf dem Puschkin-Platz.



Die Fragen, die derzeit im russischsprachigen Internet diskutiert werden, sind die nach der Bedeutung der gestrigen Demonstrationen im allgemeinen und dem Grund der beiden illegalen und z.T. gewaltsamen Aktionen im besonderen.

Schon als die eigentliche Kundgebung auf dem Puschkin-Platz noch lief, wurde klar, daß zumindest ein Teil der Organisatoren von der ziemlich kleinen Zahl der erschienenen Teilnehmer enttäuscht war. Wenn sich von den über 12.000.000 Einwohnern Moskaus nur noch etwa 15.000 den Berufsoppositionellen anschließen, dann wird das nichts mit der erhofften Revolution. Das reale Volk (einschließlich der Mittelschicht) will offenkundig eher Reformen im Rahmen des bestehenden politischen Systems als einen Umsturz desselben. Dafür haben sie am Sonntag Putin gewählt. Der selbsternannten "Partei der Volksfreiheit" kommt also das Volk abhanden.

Eine gute Zusammenfassung der Kritik bietet dieser Artikel in der Internetzeitung Wsgljad, in dem der Infantilismus der "nicht-systemischen Opposition" beklagt wird, der sogar vielen ihrer Anhänger bitter aufstoße. Nach den gestrigen Aktionen konstantiert der Autor, gestützt auf Zitate vom heutigen Tage, bereits die Spaltung der Protestbewegung.
Ein amerikanischer Beobachter der Szenerie beklagte die ziellose Provokation:
"Slightly disappointed by Pushkin antics; provoking auths with no real aim. Opposition needs to move beyond gestures, build structures."
Und ein weiterer Blogger meinte noch vor der gestrigen Demo, daß das Sujet erschöpft sei und die Opposition neue Ideen und Losungen brauche. Der Dezember 2011 sei endgültig vorbei. Sie hätten zwar gegen Putin gekämpft, doch die Präsidentenwahl habe ihn gestärkt. Deshalb sei es sinnlos und lächerlich, einfach wie gehabt weiterzumachen.




Deshalb, so weitere Überlegungen, müßten die Oppositionellen, welche sich besonders exponiert haben, bewußt zu illegalen, ggf. auch gewaltsamen Mitteln greifen, um ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung zu entgehen. Solche Taten würden zwangsläufig ein Einschreiten der Behörden nach sich ziehen. Nur so könnten sie sich weiterhin als "brutal verfolgte demokratische Oposition" darstellen und Unterstützung im Inland, vor allem aber im Ausland generieren. Mit anderen Worten: Die anschließende Festnahme durch die Bereitschaftspolizei war der einzige Grund für das von Udalzow & Co. am Montagabend veranstaltete "Sit-In". Und eine (auch nachträgliche) Anmeldung wäre kontraproduktiv gewesen. Ein Twitterer meinte gestern ironisch, daß auf dem Polizeirevier gerade Schampus und Konfekt gereicht würden.

Etwas primitiver dürfte die Motivation der Nationalisten an der Lubjanka gewesen sein. Im Sinne einer "Propaganda der Tat" ist jede Schlägerei mit den Sicherheitskräften ein Wert an sich. Die Vorgänge und die an ihnen beteiligten Personen zeigen, daß die einzig wirkliche Opposition in Rußland nicht aus mehr oder minder liberal gesonnenen Intellektuellen und Unternehmern besteht, sondern aus Links- und Rechtsextremisten, die total andere Gesellschaftsentwürfe im Angebot haben und u.U. Gewalt als Mittel der "Meinungsbildung" nutzen.

Den meisten Bürgern, gerade aus der langsam zu Wohlstand kommenden Mittelschicht, sind diese Extremisten wenig geheuer. Mithin dürfte demnächst eine weitere Spaltung innerhalb der Opposition folgen. Ein kleiner radikaler Kern von Revoluzzern steigert sich weiter in seine "Mission" des "Kampfes gegen das totalitäre System" hinein und radikalisiert sich, der große Rest wendet sich hingegen zivileren Formen zu oder verläßt die Protestbewegung. Schon kursieren im Netz Aufrufe zu Anschlägen auf Polizisten. Daß solche Schriften nicht folgenlos bleiben, zeigt der Fall eines Mannes, der Anfang März festgenommen wurde, nachdem er Sprengstoff kaufen wollte, um eine Bombe für die Teilnehmer einer Pro-Putin-Demo zu bauen.

Nachdenklich stimmt, daß es gerade die radikaleren und kompromißlosen Kreise der APO sind, die von Teilen der internationalen Presse als vermeintlich "einzig echte Opposition" hofiert werden. Das könnte ein Anreiz für die verstärkte Durchführung illegaler und gewaltsamer Aktionen sein, deren Folgen absehbar sind. Einen Umsturz würden sie zwar nicht zustande bringen, wohl aber ein Klima der Gewalt erzeugen, welches Regierung und Sicherheitsbehörden in einem schlechten Licht erscheinen ließe. (Am Beispiel der Lage im Nordkaukasus kann man studieren, wie die internationale Medien ein solches Licht fabrizieren.)

Somit überrascht es nicht, daß einige Kommentatoren die gestrigen Ereignisse als geglückte Abwehr eines Revolutionsversuches sehen. So heißt es etwa, die Bereitschaftspolizei OMON habe Moskau gerettet und ein orangenes Szenario abgewendet. (Ende 2004 hatte die "Revolution" in Kiew ähnlich begonnen.) Andere Twitter-Nutzer gratulierten der Polizei zu ihrem erfolgreichen und humanen Vorgehen.



Ein Abdriften von Oppositionellen, die vom Volk enttäuscht sind, in Gewalt und Terrorismus wäre in der Geschichte Rußlands übrigens kein neues Phänomen. Bereits im 19. Jahrhundert mußten die "Narodniki" (dt.: Volkstümler, vornehmlich aus der akademischen Jugend) enttäuscht feststellen, daß die von ihnen idealisierten Bauern in Wirklichkeit ganz anders waren, als sie geträumt und gehofft hatten. Die Bauern waren skeptisch gegenüber den Adels- und Bürgerkindern, die plötzlich in den Dörfern auftauchten und alles auf den Kopf stellen wollten.

Die Enttäuschung über das reale Volk, das seinen selbsternannten Rettern nicht folgte, traf die Narodniki hart. Einige wenige von ihnen radikalisierten sich und bildeten die erste Welle der politischen Terroristen, die das Zarenreich heimsuchten (siehe dazu ausführlich hier und hier). Und diese Terroristen waren blutrünstig: Von den letzten Jahren des 19. Jh. bis 1917 wurden etwa 17.000 Menschen in Rußland Opfer ihrer aus politischer Verblendung begangenen Gewaltakte. Darunter waren der "Befreierzar" Alexander II. und der reformistische Ministerpräsident Stolypin.
Ihr Terrorismus hat dazu beigetragen, eine erfolgreiche Reformierung des Zarenreiches zu verhindern, obwohl der Grundstein dafür gelegt war. Damit wurde der Boden für das Blutvergießen des Revolutionsjahres 1917 und des anschließenden Bürgerkrieges bereitet.

Bleibt zu hoffen, daß dem heutigen Rußland dieses Schicksal erspart bleiben möge. Es braucht keine weiteren Radikalinskis, denn ein paar hundert Islamisten, die sich gerne selbst in die Luft sprengen würden, um dem Paradies näherzukommen, sind Problem genug. Und für mehr als ein paar Anschläge würde es auch bei den übrigen Extremisten auf absehbare Zeit nicht reichen. Ein Bürgerkrieg droht also nicht, auch wenn die Vision düster ist.


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Fotos: raskalov-vit.livejournal.com, img-fotki.yandex.ru, twitpic.

Montag, 5. März 2012

Wahlnachlese I


Daß Wladimir Putin als Sieger aus der gestrigen Präsidentenwahl in der Rußländischen Föderation hervorgehen würde, war keine Überraschung, auch wenn diverse ausländische Medien schon Leichenreden auf ihn angestimmt hatten. Überraschender war hingegen das Abschneiden der übrigen Kandidaten. Der Kommunist Gennadij Sjuganow wurde erwartungsgemäß Zweiter, doch auf Rang 3 kam der Neueinsteiger Michail Prochorow mit einem erstaunlich guten Ergebnis. Abgeschlagen folgten Wladimir Shirinowskij und Sergej Mironow. Die Wahlbürger unterscheiden offenbar stark zwischen den Personen der Präsidentschaftskandidaten und den Parteien, für die sie stehen. Dies wird durch die Ergebnisse der Duma- und der Präsidentschaftswahlen untermauert:
W. W. Putin (2012): 63,6 % - Einiges Rußland (2011): 49,32 %

G. A. Sjuganow (2012): 17,18 % - KPRF (2011): 19,19 %

M. D. Prochorow (2012): 7,98 % - Rechte Sache (2011): 0,6 %

W. W. Shirinowskij (2012): 6,22 % - LDPR (2011): 11,67 %

S. M. Mironow (2012): 3,86 % - Gerechtes Rußland (2011): 13,24 %.
Die einzige Ausnahme sind die Kommunisten, die über eine gefestigte und mobilisierbare Wählerbasis verfügen. Putin gelang es im Wahlkampf, sich von seiner Partei abzusetzen und so auch solche Wähler zu gewinnen, die ER nicht mögen.

Ebenso war es dem neu in die Politik eingestiegenen Milliardär Prochorow möglich, fast 8 % der Wähler von sich zu überzeugen, obwohl die beiden liberalen Parteien, die an den Dumawahlen teilnahmen, zusammen nur auf 4,03 % der Stimmen gekommen sind. Er ist als Person wohl prägnanter als die Programme und Parolen jener Gruppierungen und Personen, die ihn wegen seines Mangels an Radikalität beschimpfen.
Landesweit wurde er Dritter, doch in Moskau konnte er mit 20,21 % sogar Sjuganow knapp überholen und landete auf Platz 2. (Zum Vergleich: Putin kam in der Hauptstadt auf 47,22 %.)
Wenn man davon ausgeht, daß Soziologen das theoretische Wählerpotential für liberale Politiker und Parteien im ganzen Land auf 15 bis 20 % schätzen, dann erscheint Prochorows erster Erfolg allerdings noch ausbaufähig. Vielleicht schafft er es, endlich die Führungsfigur zu werden, die den eitlen und zerstrittenen "Liberalen" seit zwei Jahrzehnten fehlt. Jedenfalls will er demnächst eine neue Partei gründen - was hoffentlich keine weitere Totgeburt wird.
Gestern und heute gab er sich jedenfalls nüchtern und staatstragend. Zitat: Wir werden die Hinweise auf Wahlrechtsverletzungen mit unseren Juristen in den nächsten Tagen prüfen, ohne Emotionen. Damit unterscheidet er sich wohltuend von den Revoluzzern und Straßenkämpfern.

Einen erheblichen Absturz mußte der Sozialdemokrat Mironow hinnehmen. Seine Partei konnte bei der Parlamentswahl überraschende Gewinne erzielen, doch sein persönlicher Appeal ist offenbar extrem gering, trotz seiner immer wieder bemühten Vergangenheit als Fallschirmjäger. Auch Shirinowskijs Selbstwertgefühl als "ewiger Dritter" wurde in Mitleidenschaft gezogen.

Das schlechte Abschneiden von Shirinowskij und Mironow kann ein Indiz dafür sein, daß sich in den nächsten Monaten und Jahren einiges in der Parteienlandschaft ändern wird. Es ist aus Altersgründen wenig wahrscheinlich, daß sie und Sjuganow in sechs Jahren noch einmal antreten werden. D.h. drei in der Staatsduma etablierte Parteien müssen sich auf die Suche nach neuen Leitfiguren machen, die außerdem den Bürgern präsidiabel erscheinen. Das dürfte den Kommunisten und Sozialdemokraten nicht besonders schwer fallen. Doch die LDPR besteht in der öffentlichen Wahrnehmung primär aus Shirinowskij, dessen Unterhaltungswert im übrigen enorm ist. Wie es mit den Liberaldemokraten und überhaupt dem disparaten konservativen/rechten politischen Spektrum weitergehen wird, ist dagegen eine offene Frage.

Dank der neuen und weltweit erstmals verwendeten Technologie der Webcam-Überwachung aller Wahllokale konnten mehrere Millionen Menschen weltweit die Abstimmung miterleben. Dazu waren tausende Freiwillige, die z.T. aus dem Ausland nach Moskau gereist waren, aufgeboten. Auch der Verfasser dieses Beitrags hat seinen Sonntagnachmittag zwischen 12 und 19 Uhr MEZ damit verbracht, mehrere Wahllokale in Sankt Petersburg, Moskau und Kaliningrad virtuell zu besuchen. Dabei konnten keine Verstöße gegen die Wahlgesetze festgestellt werden - wenn man davon absieht, daß mehrfach Eltern ihren Kindern die ausgefüllten Wahlscheine in die Hand gedrückt haben, damit die Knirpse die Zettel dann in die Urne werfen und dabei von ihren Eltern fotografiert werden. Aber ich denke, dieses Verhalten kann man nicht unter den Begriff des Wahlbetruges subsumieren.

Die Webcams waren eine sinnvolle Einrichtung, auch wenn sie von manchen Journalisten kleingeredet werden. So wurde in einem dagestanischen Wahllokal ein Betrugsversuch sofort aufgedeckt. Mittlerweile hat die zuständige Wahlkommission die Ergebnisse in diesem Lokal annulliert und die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen eingeleitet. (Ebenfalls in Dagestan haben gestern Abend Banditen eine Wahlstation angegriffen. Während des Gefechts wurden drei Polizisten getötet.)
Am Sonntagnachmittag wurde ich von einer Twitter-Nachricht alarmiert, wonach in Moskauer Wahllokalen von vielen Wählern zwei Stimmzettel in die Urnen eingeworfen würden. Das war allerdings, wie sich kurz danach herausstellte, völlig korrekt, denn in der Hauptstadt fanden zeitgleich mit der Präsidentenwahl auch Kommunalwahlen statt. Also wieder keine Wahlfälschung.

Die Webcams liefen übrigens auch während der Stimmauszählung weiter, obwohl vorher angekündigt worden war, die Übertragung würde mit Schließung der Wahllokale gestoppt. Auch in dieser Phase waren für mich keine Unregelmäßigkeiten erkennbar. Die Wahlkommissionen haben die Stimmzettel ausgezählt und deren Gesamtzahl mit den Wählerverzeichnissen abgeglichen. Dies alles wurde von den Wahlbeobachtern dokumentiert, z.T. auch mit Videoaufnahmen. Wenn es tatsächlich zu Wahlfälschungen gekommen sein sollte, dann sollten jetzt erstklassige Beweismittel zur Verfügung stehen, die von ganz anderer Qualität sind als irgendwelche dubiosen Youtube-Videos aus anonymer Quelle, bei denen nicht bekannt ist, wann, wo und unter welchen Umständen sie entstanden sind. Zumal schon am 2. März Videos im Internet kursierten, die angebliche Wahlfälschungen am 4. März "beweisen" sollten.

Sofern nicht hieb- und stichfeste Beweise vorliegen, halte ich die Berichte über sog. "Karusselwähler" für unwahrscheinlich. Dabei soll es sich um Personen handeln, die mit Bussen von einem Wahllokal zum anderen gefahren werden, um dort mehrfach ihre Stimme abzugeben. Wie gestern sehr schön zu sehen war, muß in Rußland (wie auch in der BRD) ein Wähler im Wählerverzeichnis seines Wahlbezirks eingetragen sein. Zwar ist es in der RF zulässig, daß ein Wähler auch in einem anderen Wahllokal wählt, doch auch dort muß er - zur Not nachträglich - in das Wählerverzeichnis aufgenommen werden. Die Identität wird durch Vorlage des Personalausweises überprüft und der Wähler quittiert den Erhalt des Stimmzettels mit seiner Unterschrift. Wenn also tatsächlich Personen mehrfach abgestimmt haben sollten, dann müßten ihre Namen, persönlichen Daten und Unterschriften ja in mehreren Wählerverzeichnissen auftauchen. Das sollte sich doch ohne allzu große Probleme, auch mit technischen Hilfsmitteln, feststellen lassen. Nur braucht es dafür eben konkrete Anhaltspunkte und keine abstrakten Anschuldigungen.

Des weiteren weist Anatoly Karlin anhand des Beispiels der Stadt Moskau darauf hin, daß es schon aus Kapazitätsgründen kaum möglich wäre, mit "Karusselwählern" das Wahlergebnis signifikant zu beeinflussen:
"[...]

Speaking of those carousels, note that Moscow is a city of about 12 million. 75 % are eligible to vote, and there was 60 % turnout. This means there were about 5 million voters on March 4, 2012. You need tens of thousands of carousel workers and hundreds of buses (50,000 people, 1,000 packed buses = 1 % for Putin) just to make the slightest uptick in the figures in support of Putin who has an unchallenged lead anyway.

[...]"
Deshalb sind diese Behauptungen mit Vorsicht zu genießen, zumal sie von Journalisten wie Simon Shuster verbreitet werden. Letzterer schreibt für das Time Magazine und hat sich in Moskau beim APO-Anführer Alexej Nawalnyj einquartiert. Ausweislich seiner Twitter-Nachrichten versteht er sich selbst wohl als englisches Sprachrohr Nawalnyjs. Unabhängige Berichterstattung ist es jedenfalls nicht.

Eines der Hilfsmittel zur Belegung von Wahlfälschungen ist die Webseite der Organisation "Golos" (dt.: Stimme). Darauf werden Wahldaten veröffentlicht, die irgendwelche Leute per SMS eingesandt haben und die aus den Wahllokalen stammen sollen. Ich persönlich halte dieses Vorgehen mangels Verifizierbarkeit der Informationen für problematisch. Doch selbst nach diesen Zahlen hat Wladimir Putin die Präsidentenwahl eindeutig im ersten Anlauf gewonnen (50,18 %).

Heute haben deutsche Medien ferner berichtet, die Wahlbeobachter der OSZE hielten die Präsidentenwahl für "manipuliert" und es sei in einem Drittel aller Wahllokale zu Fälschungen gekommen. Wenn man hingegen den Vorläufigen Bericht der OSZE liest, wird man feststellen, daß die Suppe so heiß nicht gegessen wird. Der Begriff Manipulation wird z.B. überhaupt nicht verwendet. Und die beanstandeten Probleme bestehen u.a. darin, daß ein Teil der Wahllokale für behinderte Menschen nur schlecht erreichbar gewesen sei. Während des Auszählens der Stimmzettel waren OSZE-Beobachter in 98 Wahllokalen anwesend. Und in 29 davon seien Probleme festgestellt worden. Zu diesen Problemen gehörten laut OSZE auch "extended breaks" während des Auszählens. Ob die Wahlbeobachter wohl mit der Stoppuhr daneben gestanden haben, wenn ein Mitglied der Wahlkommission auf dem stillen Örtchen war?

Um den Vorwurf der unfairen Wahl zu belegen, versucht sich die OSZE ferner an der Quadratur des Kreises. Einerseits heißt es, alle fünf Kandidaten waren in den Medien (namentlich im Fernsehen) präsent, sowohl durch Werbespots, als auch durch ausführliche Berichterstattung in den Nachrichtensendungen. Dies kann ich aus eigener Anschauung bestätigen.
Doch das genügt der OSZE nicht. Sie bemängelt, daß Wladimir Putin als noch amtierender Premierminister ein wenig häufiger zu sehen gewesen sei als seine Konkurrenten. Dies habe den Wahlprozeß ungerecht gemacht. Da fragt man sich schon, in welcher Phantasiewelt diese Wahlbeobachter leben. Daß ein Politiker, der ein Regierungsamt bekleidet, schon aufgrunddessen etwas häufiger in den Medien ist als andere Nur-Partei-Politiker, ist doch wohl selbstverständlich. Das ist in Deutschland oder Frankreich nicht anders, auch wenn der amtierende Bundeskanzler bzw. Präsident sich der Wiederwahl stellt.
Ähnlich absurd ist die Behauptung, Prochorow habe erheblich zu wenig Sendezeit bekommen. Ich weiß nicht, welche Sender von der OSZE "beobachtet" wurden, doch haben sie offenbar übersehen, daß Prochorow ein TV-Kanal gehört: RBK-TV. Und dort war er länger zu sehen als Putin.




Der russische Staatssender RTR Planeta hatte auch am Wahlabend ein interessantes Programm zusammengestellt, das sich m.E. wohltuend von den hierzulande üblichen "Elefanten"- und Journalistenrunden unterschied (siehe Video). Der Journalist Wladimir Solowjow moderierte souverän eine etwa vierstündige Live-Diskussionssendung, die im deutschen Fernsehen ohne Entsprechung ist. Einerseits hatten verschiedene Politiker dort einen Soloauftritt. Neben den vier unterlegenen Präsidentschaftskandidaten, die jeweils fünf bis zehn Minuten reden durften, kam auch Grigorij Jawlinskij, der schon an den Unterstützungsunterschriften gescheitert war, ausführlich zu Wort.
Zwischen diesen "Promis" wurde dann das Publikum befragt. Journalisten, Wissenschaftler, Abgeordnete, Sympathisanten der verschiedensten Parteien, Künstler und auch "normale" Bürger kamen zu Wort. Von einzelnen Ausfällen wie der lautstarken Forderung eines alten Mannes nach Wiederherstellung der Sowjetunion abgesehen, ging das ganze ruhig und zivilisiert zu. Kaum Geschrei, statt dessen haben die verschiedenen Seiten ihre Thesen und Argumente vorgetragen.

In diesen Runden waren auch einige "liberale" Politiker wie Ryshkow und Mitrochin vertreten. Wie sie sich dort dargestellt haben war allerdings zum Abgewöhnen. Anstatt normal zu sprechen haben sie stakkatoartig in das Mikrofon gebrüllt, so daß ich die Lautstärke herunterregeln mußte. Wer wissen will, warum sich die Popularität dieser Herren in Rußland in engen Grenzen hält, muß sich nur deren öffentliche Auftritte ansehen. Schreihälse, die sich als beleidigte Leberwurst aufspielen, sind nur in der Opposition lustig, doch diese Rolle ist bereits von Shirinowskij blockiert.

Ansonsten haben die Diskussionsbeiträge viel Stoff zum Nachdenken geliefert. Einiges davon werde ich voraussichtlich in den nächsten Tagen noch zu einem Artikel verarbeiten. Negativ überrascht hat mich die kryptische Aussage eines erregten Diskutanten, daß jetzt, nach der Wahl, in Rußland ein Bürgerkrieg drohe und heute - also am 5. März - möglicherweise die letzte friedliche Kundgebung der Putin-Gegner sei. Mit dieser Prognose sollte er - leider - recht behalten. Doch das wird das Thema eines Beitrages am morgigen Tage sein.



Weiterführende Links:

Reading the Russian election

Preliminary Thoughts On The Election Results

Nach Wahlsieg: Setzt Putin den Dialog mit dem Volk fort?

Souveräner Wahlsieg entblößt mediale Lächerlichkeit

… denn sie wollen russland zerstören

Das frustrierte Stänkern geht in die nächste Phase

Mit einer Träne im Knopfloch - Dialog statt Durchmarsch

Fünf Mythen über Putin

TV - Spotlight: Presidential election 2012 - Sendungen vom 4. März und 5. März

TV - Crosstalk: Putin 2.0 (05.03.)



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Fotos: RIA Nowosti.

Sonntag, 4. März 2012

"Rußland und die Welt im Wandel"


Am 27. Februar hat der Präsidentschaftskandidat Wladimir Putin in der Tageszeitung Moskowskije Nowostij einen weiteren programmatischen Aufsatz veröffentlicht, in dem er für seine potentiellen Wähler Fragen der internationalen Politik erörtert. "Rußland und die Welt im Wandel" ist ein weiterer interessanter Text, vom dem die Nachrichtenagentur RIA Nowosti auch eine deutsche Übersetzung angefertigt hat. Diese wird nachfolgend auszugsweise wiedergegeben; auf der Webseite der Agentur finden sich des weiteren Kommentare rußländischer und ausländischer Beobachter zu diesem Aufsatz. Inhaltlich geht es nicht nur um die Grundlinien der Außenpolitik der RF, sondern u.a. auch um den aktuellen Konflikt in Syrien und um das Verhältnis zur EU, den USA und China.
"[...]

In meinen früheren Artikeln habe ich bereits die wichtigsten äußeren Herausforderungen erwähnt, mit denen Russland es derzeit zu tun hat. Dennoch ist dieses Thema eines detaillierteren Gesprächs wert, und zwar nicht nur weil die Außenpolitik ein unentbehrlicher Teil der Strategie eines jeden Staates ist. Die äußeren Gefahren, die sich wandelnde Welt zwingen uns, gewisse Entscheidungen in Wirtschaft und Kultur, im Haushalts- und Investitionsbereich zu treffen.

Russland ist ein Teil der großen Welt – aus wirtschaftlicher Sicht, im Sinne der Informationsverbreitung, im Kontext der Kultur. Wir können und wollen uns nicht von der großen Welt isolieren. Wir rechnen damit, dass unsere Offenheit die russischen Bürger finanziell und kulturell bereichert und außerdem das Vertrauen festigt, an dem es in letzter Zeit immer mehr mangelt. Wir werden aber konsequent von unseren Interessen und Zielen ausgehen und keineswegs von Entscheidungen, die uns irgendjemand aufzwingt. Russland wird nur dann mit Respekt wahrgenommen und berücksichtigt, wenn es stark ist und fest auf den Beinen steht. Russland hatte immer das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik auszuüben. Das wird auch weiter so sein. Mehr noch: Ich bin fest davon überzeugt, dass die Sicherheit in der Welt nur unter Beteiligung Russlands garantiert werden kann, ohne dass man versucht, Russland ins Abseits zu drängen, seine geopolitischen Positionen zu schwächen und seine Verteidigungsfähigkeit zu beschneiden.

Die Ziele unserer Außenpolitik sind strategisch, unabhängig von der Konjunktur und spiegeln den einmaligen Platz Russlands auf der politischen Weltkarte wider, seine Rolle in der Geschichte und in der Entwicklung der Zivilisation.

Wir gehen zweifelsohne auch weiterhin unseren aktiven und konstruktiven Weg zur Festigung der allgemeinen Sicherheit, zum Verzicht auf Konfrontationen, zur effektiven Bekämpfung von Herausforderungen wie der Verbreitung von Atomwaffen, regionalen Konflikten und Krisen, dem Terrorismus und der Drogengefahr. Wir tun unser Bestes, um Russland mit den jüngsten Errungenschaften des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu versorgen und unseren Unternehmern einen würdigen Platz auf dem globalen Markt zu sichern.

Wir streben an, dass die Gestaltung einer neuen Weltordnung, die sich auf die aktuelle geopolitische Realität stützt, konsequent und ohne unnötige Erschütterungen erfolgt.

Wer das Vertrauen untergräbt

Ich denke nach wie vor, dass die Sicherheit aller Länder der Welt unteilbar und hypertrophe Gewaltanwendung unzulässig ist und dass die grundlegenden Völkerrechtsnormen von allen strikt befolgt werden sollten. Eine Vernachlässigung dieser Prinzipien führt zu einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen.
Durch eben dieses Prisma betrachten wir einige Aspekte des Verhaltens der USA und der Nato, die der heutigen Entwicklungslogik widersprechen und sich auf Stereotype aus dem Blockdenken stützen. Alle verstehen, was ich damit meine: die Nato-Erweiterung, die die Errichtung von neuen Objekten der Militärinfrastruktur einschließt, und die von den USA inspirierten Pläne der Allianz zur Aufstellung der europäischen Raketenabwehr. Ich hätte dieses Thema nicht erwähnt, wenn solche Spielchen nicht unmittelbar an den russischen Grenzen geführt, wenn sie unsere Sicherheit und die Stabilität auf der Welt nicht gefährden würden.

Unsere Argumente sind allgemein bekannt, ich will sie auch nicht schon wieder durchkauen, aber leider sind unsere westlichen Partner dafür nicht aufnahmefähig und schieben sie von sich.

Uns bereitet es Sorgen, dass die Nato mit ihren jüngsten Aktivitäten unser gegenseitiges Vertrauen verletzt, obwohl sich die Umrisse unserer „neuen“ Beziehungen mit der Allianz noch nicht einmal endgültig geformt haben. Ein derartiges Vorgehen wirkt sich wie ein Querschläger auf die Erfüllung von globalen Aufgaben aus und hindert die Festigung einer positiven Agenda der internationalen Beziehungen, bremst ihre konstruktive Entwicklung.

Die zahlreichen bewaffneten Konflikte, die in jüngster Zeit ausgebrochen sind und die durch humanitäre Ziele gerechtfertigt werden, verletzt das seit Jahrhunderten heilige Prinzip der staatlichen Souveränität. In den internationalen Beziehungen entsteht ein neues Vakuum – ein moralisch-rechtliches.

Man sagt oft, die Menschenrechte hätten Vorrang gegenüber der staatlichen Souveränität. Das stimmt zweifelsohne – jegliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen von internationalen Gerichten geahndet werden. Wenn aber unter solchen Vorwänden die staatliche Souveränität einfach verletzt wird, wenn die Menschenrechte von äußeren Kräften selektiv beschützt werden, wenn bei der „Verteidigung der Menschenrechte“ die Rechte von vielen anderen Menschen verletzt werden, darunter das allerwichtigste und heilige Recht auf Leben, dann handelt es sich nicht um eine edle Sache, sondern um ganz einfache Demagogie.

Wichtig ist, dass die UNO und ihr Sicherheitsrat dem Diktat seitens einiger Länder und der Willkür in der Weltgemeinschaft effektiv entgegentreten können. Niemand darf sich UN-Vollmachten aneignen, besonders wenn es um die Gewaltanwendung gegenüber souveränen Staaten geht. Vor allem gilt das für die Nato, die für eine „Verteidigungsallianz“ untypische Funktionen ausüben will. All das ist mehr als ernsthaft. Wir wissen noch zu gut, wie Staaten, die Opfer der „humanitären“ Einsätze und des Exports der „Raketen- und Bomben-Demokratie“ geworden sind, vergebens zu Völkerrechtsnormen und trivialen menschlichen Anstand aufgerufen hatten.

Es sieht so aus, als würden die Nato-Länder und vor allem die USA eine eigenartige Vorstellung von Sicherheit haben, die sich von unserer grundsätzlich unterscheidet. Die Amerikaner sind von der Idee besessen, sich die absolute Unantastbarkeit zu sichern, was allerdings utopisch und unerfüllbar ist – sowohl aus technologischer als auch aus geopolitischer Sicht. Das ist der Kern des Problems.

Die absolute Unantastbarkeit eines Landes würde die absolute Verletzbarkeit aller anderen bedeuten. Eine solche Perspektive wäre inakzeptabel. Eine andere Sache ist, dass viele Länder aus allgemein bekannten Gründen darüber nicht direkt reden wollen. Russland wird aber immer das Kind offen beim Namen nennen. Ich betone erneut, dass die Verletzung des Prinzips der Einheit und Unteilbarkeit der Sicherheit - besonders trotz öfter deklarierter Treue zu diesem Prinzip - immer große Gefahren verursachen kann. Letztendlich wäre das auch für Staaten gefährlich, die solche Verletzungen aus verschiedenen Gründen initiieren.

„Arabischer Frühling“: Lehren und Schlüsse

Vor einem Jahr hat die Welt ein neues Phänomen kennengelernt: Den fast zeitgleichen Ausbruch von Protesten gegen die autoritären Regimes in vielen arabischen Ländern. Ursprünglich wurde der „Arabische Frühling“ mit der Hoffnung auf positive Wandlungen wahrgenommen. Die Sympathien der Russen gehörten den Kräften, die demokratische Reformen forderten.

Bald wurde aber klar, dass sich die Situation in vielen Ländern nach einem nicht gerade zivilisierten Szenario entwickelte. Statt der Festigung der Demokratie und der Verteidigung der Rechte der Minderheit kam es zu Machtstürzen, wobei die Dominanz der einen Kräfte durch eine noch aggressivere Dominanz der anderen abgelöst wurde.

Die Situation verschlimmerte sich wegen der Einmischung von äußeren Kräften in diese inneren Konflikte, zumal diese Einmischung mit Gewaltanwendung verbunden war. Es kam sogar dazu, dass mehrere Länder unter dem Vorwand der Humanität ihre Luftstreitkräfte eingesetzt und das libysche Regime gestürzt haben. Der Höhepunkt waren die widerlichen TV-Bilder der nicht einmal mittelalterlichen, sondern sogar archaisch wirkenden Tötung Muammar Gaddafis.

Es ist unzulässig, dass sich das „libysche Szenario“ nun auch in Syrien wiederholt. Die Weltgemeinschaft sollte sich vor allem um eine innere Aussöhnung in Syrien bemühen. Die Gewalt sollte möglichst schnell unterbunden werden, von wo auch immer sie kommen mag. In Syrien sollte endlich ein nationaler Dialog beginnen – ohne jegliche Vorbedingungen, ohne internationale Intervention und unter Berücksichtigung der Souveränität dieses Landes. Dadurch würden Voraussetzungen dafür entstehen, dass die von der syrischen Führung verkündeten Maßnahmen zur Demokratisierung tatsächlich in Erfüllung gehen. Das Wichtigste ist, einen großen Bürgerkrieg zu verhindern. Daran wird die russische Diplomatie immer arbeiten.

Wir haben aus den traurigen Erfahrungen der letzten Zeit gelernt und sind gegen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die als Signal zu einer militärischen Einmischung in die innenpolitischen Prozesse Syriens gedeutet werden könnten. Das ist die prinzipielle Position Russlands, das neben China Anfang Februar eine doppelsinnige Resolution blockiert hat, die in Wahrheit Gewaltaktionen einer der Konfliktseiten stimulieren würde.

In diesem Zusammenhang und angesichts der fast schon hysterischen Reaktion auf das russisch-chinesische Veto im Weltsicherheitsrat warne ich unsere westlichen Kollegen abermals vor dem Versuch, zu dem bereits erprobten Schema zu greifen: Hat der UN-Sicherheitsrat dieser oder jener Aktion zugestimmt – dann ist das gut, wenn nicht, dann bilden wir eine Koalition der interessierten Staaten und schlagen zu.

Die Logik eines solchen Verhaltens ist unproduktiv und sehr gefährlich. Sie kann nur böse Folgen haben. Jedenfalls wird dadurch die Regelung der Situation innerhalb eines von einem Konflikt betroffenen Landes behindert. Noch schlimmer ist aber, dass dadurch das Gleichgewicht des internationalen Sicherheitssystems gestört und die Autorität und die zentrale Rolle der Uno verletzt werden. Nicht zu vergessen ist, dass das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat keine Kapriole ist, sondern ein unentbehrlicher Teil der Weltordnung, die in der Uno-Charta festgeschrieben ist – auf Initiative der USA wohlgemerkt. Der Sinn des Vetorechts besteht darin, dass die Entscheidungen, gegen die ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats auftritt, nicht begründet und wirksam sein können.

Ich rechne damit, dass die USA und andere Länder die traurigen Erfahrungen berücksichtigen und auf ein gewaltsames Szenario in Syrien ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats verzichten. Ich kann eigentlich nicht nachvollziehen, warum diese Länder so aggressiv vorgehen und nicht die Geduld haben, gemeinsam einen ausbalancierten und sicheren Ausweg zu finden, zumal ein solcher sich angesichts der erwähnten Syrien-Resolution bereits nahezu abgezeichnet hätte. Man müsste nur dasselbe von der bewaffneten Opposition verlangen wie von den Regierungskräften – darunter den Abzug der bewaffneten Verbände aus den Städten. Der Verzicht darauf war zynisch. Wenn wir die friedlichen Einwohner beschützen wollen (für Russland ist das das allerwichtigste Ziel), dann sollten alle Teilnehmer der bewaffneten Konfrontation zur Ordnung gerufen werden.

Und es gibt noch einen Aspekt: Es ist nun einmal so geschehen, dass die russischen Unternehmen in allen vom „arabischen Frühling“ betroffenen Ländern, wie auch früher im Irak, ihre vor Jahrzehnten errungenen Positionen und damit große Aufträge verlieren. Die dadurch entstandenen Lücken schließen Unternehmen aus den Ländern, die sich am Sturz der alten Regimes beteiligt haben.
Es entsteht manchmal der Eindruck, dass die tragischen Ereignisse nicht nur durch die Sorge um die Menschenrechte, sondern durch das Interesse gewisser Kräfte an einer Umverteilung der dortigen Märkte bedingt waren. Egal wie, aber wir können uns so etwas nicht gefallen lassen. Wir wollen mit den neuen Regierungen in den arabischen Ländern aktiv zusammenarbeiten, um unsere Wirtschaftspositionen baldmöglichst zurückzugewinnen.

Im Allgemeinen kann man aus den Ereignissen in der arabischen Welt einiges lernen. Sie zeigen nämlich, dass ein gewaltsames Aufdrängen der Demokratie überraschende Ergebnisse bringen kann. Es entstehen Kräfte, darunter religiöse Extremisten, die den Entwicklungskurs ihrer Länder, darunter ihre säkulare Staatsform, ändern wollen.

Russland pflegte immer gute Kontakte mit den Anhängern des Islam, deren Lebensansichten den Traditionen der russischen Muslime ähnlich sind. Wir sind bereit, diese Kontakte auch unter den neuen Bedingungen auszubauen. Wir sind an einer Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit allen arabischen Ländern interessiert, darunter auch mit jenen, die sich von den internen Erschütterungen erst noch erholen. Noch mehr als das: Ich sehe gute Voraussetzungen dafür, dass Russland seine führenden Positionen im Nahen Osten behält, wo wir immer viele Freunde hatten.

Was den arabisch-israelischen Konflikt angeht, so wurde immer noch kein „Wunderrezept“ zu seiner Regelung erfunden. Man darf jedoch nicht aufgeben. Angesichts unserer engen Kontakte mit der israelischen und auch der palästinensischen Führung wird die russische Diplomatie sowohl im bilateralen Format als auch im Rahmen des vermittelnden Nahost-Quartetts die Wiederaufnahme des Friedensprozesses anspornen und ihre Aktivitäten dabei mit der Arabischen Liga koordinieren.

Der „arabische Frühling“ hat außerdem deutlich gezeigt, dass die öffentliche Meinung der Weltgemeinschaft heutzutage durch die aktive Verwendung der neuesten Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt wird. Das Internet, die sozialen Netzwerke, der Mobilfunk usw. haben sich neben dem Fernsehen als effizientes Instrument der Innen- und Außenpolitik etabliert. Das ist ein neuer Faktor, der berücksichtigt werden sollte; dazu gehört auch die Verringerung des Risikos seiner Verwendung durch Terroristen und Kriminelle, ohne die einzigartige Kommunikationsfreiheit im Internet einzuschränken.

Immer häufiger wird inzwischen der Begriff „Soft Power“ verwendet, der einen ganzen Komplex von Instrumenten und Methoden zur Erreichung von außenpolitischen Zielen bedeutet, allerdings ohne jeglichen Waffeneinsatz, sondern lediglich mithilfe von Informationstechnologien und anderen Hebeln der Einwirkung. Leider werden diese Methoden oft zur Förderung des Extremismus, Separatismus, Nationalismus und zur Manipulation der öffentlichen Meinung verwendet. Manchmal kommt es auch zu einer direkten Einmischung in die Innenpolitik von souveränen Staaten.

Man sollte einen klaren Unterschied zwischen der Redefreiheit und den normalen politischen Aktivitäten einerseits und der Verwendung von rechtswidrigen Instrumenten von „Soft Power“ machen. Die zivilisierte Arbeit von humanitären und wohltätigen Nichtregierungsorganisationen (NGO) ist immer willkommen, auch wenn sie Kritik an den Behörden üben. Aber die Aktivitäten von „Pseudo-NGO“ und anderen Strukturen, die unter Mitwirkung äußerer Kräfte die Situation in diesem oder jenem Land destabilisieren, sind inakzeptabel.

Die Rede ist von Fällen, wenn sich die NGOs nicht auf die Interessen und Ressourcen gewisser Sozialgruppen eines Landes stützen, sondern von äußeren Kräften finanziert und betreut werden. In der Welt gibt es viele „Einfluss-Agenten“ von Großstaaten, Bündnissen und Korporationen. Wenn sie offen agieren, ist das nur eine Form des zivilisierten Lobbyismus. Auch Russland hat Institutionen wie die Föderale Agentur für die Angelegenheiten der GUS und der im Ausland lebenden Landsleute (Rossotrudnitschestwo), die Stiftung „Russische Welt“ oder unsere führenden Universitäten, die nach begabten Studenten im Ausland suchen.

Russland nutzt aber nicht nationale NGOs anderer Länder aus und finanziert nicht diese NGOs sowie ausländische politische Organisationen zur Förderung seiner Interessen. Auch China, Indien und Brasilien tun so etwas nicht. Unseres Erachtens sollte die Innenpolitik und öffentliche Meinung in anderen Ländern ausschließlich offen beeinflusst werden. Dann werden die Teilnehmer dieser Kontakte maximal verantwortungsvoll handeln.

Neue Herausforderungen und Gefahren

Der Iran zieht zurzeit die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich. Russland ist selbstverständlich um die immer größer werdende Gefahr eines militärischen Schlags gegen dieses Land besorgt. Sollte es dazu kommen, dann würde das katastrophale Folgen haben, deren wahrer Umfang kaum vorstellbar wäre.

Ich bin überzeugt, dass das Problem ausschließlich auf friedlichem Wege gelöst werden sollte. Wir schlagen vor, das Recht des Iran auf die Entwicklung eines zivilen Atomprogramms, darunter auf die Urananreicherung, anzuerkennen. Dafür sollten seine Aktivitäten im Atombereich jedoch unter strenger und umfassender Kontrolle seitens der IAEA erfolgen. Wenn das funktioniert, dann sollten jegliche anti-iranische Sanktionen, darunter einseitige, aufgehoben werden. Der Westen neigt zuletzt allzu stark zur „Bestrafung“ einzelner Länder. Beim geringsten Anlass greift er zu seiner Sanktions- oder auch Militärkeule. Man sollte aber nicht vergessen, dass das 19. und sogar das 20. Jahrhundert schon lange vorbei sind.

Genauso ernsthaft ist die Situation um die nordkoreanische Atomfrage. Pjöngjang verletzt das Regime der Nonproliferation, spricht offen von seinen Ambitionen auf eigene Atomwaffen und hat mittlerweile zwei Atomtests durchgeführt. Nordkorea als Atomwaffenbesitzer wäre für uns inakzeptabel. Deshalb treten wir konsequent für den atomwaffenfreien Status der Korea-Halbinsel ein, verwenden dabei allerdings ausschließlich politische bzw. diplomatische Mittel und plädieren für die baldmöglichste Wiederaufnahme der entsprechenden Sechser-Verhandlungen.

Es sieht aber so aus, als würden nicht alle unseren Partner diese Position teilen. Meines Erachtens sollte man derzeit besonders vorsichtig vorgehen. Unzulässig wären jegliche Versuche, den neuen nordkoreanischen Machthaber unter Druck zu setzen, die ihn im Grunde zu unbedachten Gegenmaßnahmen provozieren würden.

Nicht zu übersehen ist, dass Russland und Nordkorea aneinander grenzen, und Nachbarn sucht man sich bekanntlich nicht aus. Wir werden unseren aktiven Dialog mit der Führung dieses Landes fortsetzen, unsere Kontakte im Sinne der guten Nachbarschaft pflegen und Pjöngjang zur Lösung seines Atomproblems überreden. Offensichtlich ist, dass wir es viel leichter hätten, wenn auf der Halbinsel gegenseitiges Vertrauen herrschen und der Dialog zwischen beiden Koreas weiter gehen würde.

Angesichts der Spannungen um der Atomprogramme Nordkoreas und des Irans komme ich manchmal auf den Gedanken, wie das Risiko der Atomwaffenverbreitung entsteht und wer dieses Risiko fördert. Ich habe den Eindruck, dass die zuletzt häufig gewordenen bewaffneten Einmischungen in die inneren Angelegenheiten einzelner Länder dieses oder jenes autoritären Regimes zum Atomwaffenbesitz provozieren könnten. Solche Herrscher könnten den Eindruck haben, dass sie sich nur mit einer Atombombe in Sicherheit wiegen und dass niemand es wagen würde, sie anzugreifen. Die Länder, die keine eigenen Atomwaffen haben, müssten sich aber auf „humanitäre“ Interventionen gefasst machen.

Egal ob uns das gefällt oder nicht, Tatsache ist, dass einige Länder wegen solcher Einmischungen von außerhalb auf solche Gedanken kommen. Deshalb entstehen immer neue „Schwellenländer“, die kurz vor der Entwicklung eigener Atomwaffen stehen. Unter solchen Bedingungen werden atomwaffenfreie Zonen, die in verschiedenen Teilen der Erde eingerichtet werden, immer wichtiger. Auf Russlands Initiative hat die Arbeit an der Bildung eines solchen Raums im Nahen Osten begonnen.

Wir sollten unser Bestes tun, dass niemand in die Versuchung kommt, eigene Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Zu diesem Zweck sollten aber auch die Bekämpfer der Waffenverbreitung sich umstellen, besonders jene von ihnen, die andere Länder unter Anwendung der Militärstärke bestrafen, ohne zu diplomatischen Mitteln zu greifen. So ist das beispielsweise im Irak passiert, dessen Probleme nach der nahezu zehnjährigen Okkupation nur noch größer wurden.

Wenn die Gründe für die Entwicklung von Atomwaffen endlich beseitigt werden, dann könnte das internationale Regime der Nonproliferation anhand der aktuellen Verträge wirklich universal und dingfest gemacht werden. Dank dieses Regimes könnten alle interessierten Länder vom „friedlichen Atom“ unter IAEA-Kontrolle maximal profitieren.
Für Russland wäre das sehr nützlich, weil wir auf dem internationalen Markt aktiv sind, neue Atomkraftwerke mit modernen und sicheren Technologien bauen und an der Entwicklung von multilateralen Urananreicherungszentren und Kernbrennstoffbanken teilnehmen.

Große Sorgen ruft die Zukunft Afghanistans hervor. Wir haben bekanntlich die Militäroperation zur internationalen Unterstützung dieses Landes befürwortet. Das internationale Militärkontingent unter der Schirmherrschaft der Nato hat seine Aufgaben jedoch nicht erfüllen können. Die aus Afghanistan stammende Terror- und Drogengefahr wird nicht geringer. Seitdem die Amerikaner ihren Abzug aus diesem Land im Jahr 2014 angekündigt haben, errichten sie dort und in den Nachbarländern Stützpunkte, deren Ziele und Vollmachten aber unklar sind. Unbekannt ist auch, wie lange sie dort bleiben sollen. Wir lassen uns so etwas selbstverständlich nicht gefallen.

Russlands Interessen in Afghanistan sind offensichtlich und eindeutig. Afghanistan ist nicht weit entfernt von Russland. Wir sind an einer stabilen und friedlichen Entwicklung dieses Landes interessiert. Am Wichtigsten ist, dass es nicht mehr das Ursprungsland der Drogengefahr sein wird. Der illegale Drogenhandel hat sich als eine der schlimmsten Gefahren etabliert, die den Genpool von ganzen Nationen vernichtet, eine günstige Basis für Korruption und Kriminalität bildet und die Destabilisierung der Situation unmittelbar in Afghanistan zur Folge hat. Nicht zu übersehen ist, dass die Drogenproduktion in Afghanistan nicht geringer wird, sondern im vergangenen Jahr sogar um fast 40 Prozent gewachsen ist. Russland ist mit einem Angriff des Heroins konfrontiert, das für die Gesundheit unserer Bürger sehr schädlich ist.

Wenn man den Umfang der afghanischen Drogengefahr bedenkt, kann man sie nur gemeinsam unter der Führung der UNO und der regionalen Organisationen wie OVKS, SOZ und GUS beseitigen. Wir sind bereit, die Operation zur Unterstützung des afghanischen Volkes maximal aktiv zu fördern – allerdings unter der Bedingung, dass das internationale Kontingent in Afghanistan intensiver vorgeht und Rücksicht auf unsere Interessen nimmt, indem es sich mit der physischen Vernichtung von Drogenanbauflächen und illegalen Drogenlaboren befasst.

Neben der Intensivierung der Anti-Drogen-Maßnahmen in Afghanistan sollten auch die Beförderung der Opiate auf die Außenmärkte, die Finanzierung des Drogenhandels und die Zulieferung von chemischen Stoffen für die Heroinproduktion zuverlässig blockiert werden. Das Ziel ist, ein umfassendes System der Anti-Drogen-Sicherheit in der Region zu errichten. Russland wird sein Bestes tun, um die Bemühungen der Weltgemeinschaft zu bündeln, damit im Kampf gegen die globale Drogengefahr endlich die Wende kommt.

Es ist schwer zu sagen, wie sich die Situation in Afghanistan weiter entwickelt. Die bisherigen Erfahrungen zeugen davon, dass die militärische Präsenz anderer Länder das Land nie zur Ruhe brachte. Nur die Afghanen selbst können ihre Probleme lösen. Russlands Rolle sehe ich darin, dem afghanischen Volk unter Mitwirkung der Nachbarländer bei der Entwicklung einer stabilen Wirtschaft zu helfen, die Widerstandsfähigkeit der afghanischen Streitkräfte im Kampf gegen den Terrorismus und Drogenhandel zu fördern. Wir haben nichts dagegen, dass am nationalen Aussöhnungsprozess auch die Mitglieder der bewaffneten Opposition, darunter die Taliban, teilnehmen – allerdings unter der Bedingung, dass sie auf die Gewaltanwendung verzichten, das Grundgesetz des Landes akzeptieren, ihre Kontakte mit der Al Qaida und anderen terroristischen Gruppierungen einstellen. Im Prinzip glaube ich, dass die Bildung eines friedlichen, stabilen, unabhängigen und neutralen afghanischen Staats durchaus erreichbar ist.

Die vor Jahren und Jahrzehnten eingefrorene Instabilität schafft eine günstige Umgebung für den internationalen Terrorismus. Alle räumen ein, dass er eine der gefährlichsten Herausforderungen an die Weltgemeinschaft darstellt. Nicht zu übersehen ist, dass die Krisenzonen, wo die terroristische Gefahr entsteht, in der Nähe der russischen Grenzen liegen – viel näher als von unseren europäischen und amerikanischen Partnern.

In der UNO wurde eine globale Anti-Terror-Strategie vereinbart, doch es entsteht der Eindruck, dass der Kampf gegen dieses Übel nicht nach einem universalen Plan und nicht konsequent erfolgt, sondern nur als Reaktion auf die schlimmsten barbarischen Auswüchse des Terrors. Die zivilisierte Welt sollte nicht auf große Tragödien wie die Anschläge in New York im September 2001 oder auf ein neues Beslan (Massengeiselnahme im September 2004) warten, um sich erst dann zusammenzureißen und entschlossen zu handeln.

Ich will die bisherigen Erfolge im Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht negieren. Erfolge gab es natürlich auch. So wurde die Kooperation zwischen den Geheimdiensten und Rechtsschutzorganen verschiedener Länder in den letzten Jahren viel aktiver. Offensichtlich ist aber auch, dass die Anti-Terror-Kooperation noch viele Reserven hat. Ich muss auch feststellen, dass es in der Welt immer noch „Doppelstandards“ gibt, so dass Terroristen in verschiedenen Ländern unterschiedlich wahrgenommen werden – als „schlimme“ und „nicht besonders schlimme“. Letztere werden von manchen Kräften in ihrem politischen Spiel eingesetzt, darunter bei der Destabilisierung von unliebsam gewordenen politischen Regimen.

Bei der Vorbeugung des Terrorismus sollten alle Gesellschaftsinstitutionen wie Massenmedien, religiöse Vereinigungen, Nichtregierungsorganisationen, das Bildungs- und Forschungswesen und die Unternehmenskreise zum Einsatz kommen. Erforderlich ist ein Dialog zwischen verschiedenen Konfessionen oder sogar zwischen verschiedenen Zivilisationen, wenn wir die Sache noch umfassender betrachten. Russland ist ein multikonfessioneller Staat, wir hatten nie religiöse Kriege. Wir könnten unseren Beitrag zur internationalen Diskussion zu diesem Thema leisten.

Ausbau der Rolle der Asiatisch-Pazifischen Region

An unser Land grenzt eines der wichtigsten Zentren der Weltwirtschaft – China. Es ist zum Trend geworden, über seine künftige Rolle in der globalen Wirtschaft und in internationalen Fragen zu diskutieren. Im vergangenen Jahr hat China nach dem BIP-Umfang den zweiten Platz in der Welt belegt. Nach Schätzungen von internationalen, darunter US-Experten, wird China in der nächsten Zukunft die USA bei dieser Kennzahl überholen. Auch Chinas allgemeine Stärke steigt, die auch in anderen Regionen sichtbar ist.

Wie sollen wir uns angesichts des sich dynamisch entwickelnden China-Faktors verhalten? Erstens bin ich davon überzeugt, dass das Wachstum der chinesischen Wirtschaft keine Bedrohung, sondern eine Herausforderung ist, die ein riesiges Potential für unsere Wirtschaftskooperation hat. Es bietet sich die Chance, den „chinesischen Wind“ in die „Segel“ unserer Wirtschaft aufzufangen. Wir müssen intensiver neue Kooperationsverbindungen aufbauen, bei denen die technologischen und Produktionsmöglichkeiten unserer Länder gebündelt werden und das chinesische Potential zum Wirtschaftsaufschwung in Sibirien und im Fernen Osten genutzt (selbstverständlich vernünftig) wird.

Zweitens gibt China mit seinem Verhalten in der Weltgemeinschaft keinen Anlass, um über seine Ansprüche auf Dominanz sprechen zu können. Chinas Stimme wird tatsächlich immer stärker in der Welt. Wir begrüßen das, weil Peking unsere Vision der sich herausbildenden gleichberechtigten Weltordnung teilt. Wir werden uns in der Weltgemeinschaft weiter gegenseitig unterstützen, akute regionale und globale Fragen in der internationalen Arena gemeinsam lösen und das Zusammenwirken im UN-Sicherheitsrat, BRICS, SOZ, G-20 und anderen multilateralen Mechanismen stärken.

Drittens sind alle großen politischen Fragen bei den Beziehungen zu China bereits beantwortet worden, darunter die wichtigste – die Grenzfrage. Es wurde ein festes Verfahren der gegenseitigen Beziehungen geschaffen, begleitet von rechtlich verpflichtenden Dokumenten. Zwischen den Führungen der beiden Länder wurde ein präzedenzlos hohes Niveau des Vertrauens erreicht. Das ermöglicht sowohl Russland als auch China, im Geiste einer wahren Partnerschaft vorzugehen, gestützt auf Pragmatismus und mit Rücksicht auf die gegenseitigen Interessen.

Das Gesagte bedeutet natürlich nicht, dass mit China alles reibungslos verläuft. Es gibt auch Problempunkte. Unsere geschäftlichen Interessen in Drittländern stimmen nicht immer überein. Auch die sich herausbildende Struktur des Handelsumsatzes und das niedrige Niveau der gegenseitigen Investitionen passen uns nicht ganz.
Mein Hauptgedanke ist jedoch, dass Russland ein prosperierendes und stabiles China braucht. Ich bin auch davon überzeugt, dass China ein starkes und erfolgreiches Russland braucht.

Auch ein anderer asiatischer Riese – Indien – wächst sehr schnell. Russland unterhält mit Indien traditionell freundliche Beziehungen, deren Inhalt von der Führung beider Länder als eine besonders privilegierte strategische Partnerschaft angesehen wird. Von deren Stärkung werden nicht nur unsere Länder, sondern auch das sich herausbildende polyzentrische System in der Welt profitieren.

Vor unseren Augen verläuft nicht nur das Wachstum Chinas und Indiens, sondern auch die Stärkung der gesamten Asiatisch-Pazifischen Region. In diesem Zusammenhang eröffnen sich neue Horizonte für eine produktive Arbeit im Rahmen des russischen APEC-Vorsitzes. Im September werden wir den APEC-Gipfel in Wladiwostok ausrichten. Wir bereiten uns intensiv darauf vor, schaffen eine moderne Infrastruktur, was die weitere Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens fördern und unserem Land ermöglichen wird, sich an die dynamischen Integrationsprozesse im „neuen Asien“ anzuschließen.

Wir werden dem Zusammenwirken mit den BRICS-Partnern weiter vorrangige Bedeutung beimessen. Diese 2006 geschaffene einmalige Struktur symbolisiert am anschaulichsten den Übergang von einer monopolaren zu einer gerechteren Weltordnung. Sie vereint fünf Länder mit einer Bevölkerung von fast drei Milliarden Menschen, mit den größten Schwellenwirtschaften, enormen Arbeits- und Naturressourcen und sehr großen Binnenmärkten. Mit dem Anschluss Südafrikas kann von einem globalen Format der BRICS gesprochen werden. Heute entfallen auf die BRICS-Länder mehr als 25 Prozent des weltweiten BIP.

Wir gewöhnen uns noch an die neue Zusammensetzung und aneinander. Unter anderem muss eine engere Koordinierung in Bezug auf die Außenpolitik geschaffen und in der UNO enger zusammengearbeitet werden. Nachdem die BRICS wirklich das gezeigt haben, was sie können, wird ihr Einfluss auf die internationale Wirtschaft und die Politik wachsen.

In den letzten Jahren haben die russische Diplomatie und die Geschäftskreise mehr Aufmerksamkeit auf den Ausbau der Zusammenarbeit mit den Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas gelegt. In diesen Regionen ist die aufrichtige Sympathie gegenüber Russland immer noch stark. Eine der Schlüsselaufgaben in der kommenden Zeit ist die Stärkung der Handels-und Wirtschaftskooperation, die Umsetzung von gemeinsamen Projekten in Bereichen wie Energie, Infrastruktur, Investitionen, Wissenschaft und Technik, Bankwirtschaft und Tourismus.

Die wachsende Rolle der genannten Kontinente in einem sich herausbildenden System zur Steuerung der globalen Wirtschaft spiegelt sich wider in der Tätigkeit der G-20. Diese Vereinigung wird sich meines Erachtens in ein strategisch wichtiges Instrument nicht nur in Krisensituationen, sondern auch bei einer langfristigen Reform der weltweiten Finanz- und Wirtschaftsarchitektur sein. Russland wird 2013 den G-20-Vorsitz übernehmen. Wir müssen zweifellos alle Vorsitzfunktionen nutzen, um die Kooperation zwischen der G-20 und anderen multilateralen Strukturen zu stärken, vor allem mit der G-8 und natürlich mit der UNO.

Der Europäische Faktor

Russland ist ein unabdingbarer und organischer Teil des Großen Europas, der breiten europäischen Zivilisation. Unsere Bürger fühlen sich als Europäer. Uns ist es nicht gleichgültig, wie es dem vereinten Europa geht.

Deswegen schlägt Russland vor, sich zur Bildung eines einheitlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik zu bewegen. Diese Gemeinschaft wird von russischen Experten als „Europas Union“ bezeichnet, die die Möglichkeiten und Positionen Russlands bei seinem wirtschaftlichen Streben ins neue Asien stärken wird.

Vor dem Hintergrund der aufsteigenden China, Indien und anderer neuer Wirtschaften werden die Finanz- und Wirtschaftserschütterungen in Europa – der früheren Oase von Stabilität und Ordnung – genauestens beobachtet. Die von einer Krise betroffene Eurozone berührt auch Russlands Interessen – vor allem wegen der Tatsache, dass die EU ein wichtiger außenwirtschaftlicher und Handelspartner für uns ist. Es liegt auf der Hand, dass die Aussichten der ganzen globalen Wirtschaftsstruktur in bedeutendem Maße vom Zustand Europas abhängen.

Russland hat sich intensiv an die internationalen Maßnahmen zur Unterstützung der betroffenen europäischen Wirtschaften angeschlossen und nimmt kontinuierlich an der Ausarbeitung gemeinsamer Entscheidungen im IWF teil. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es auch in einigen Fällen um direkte Finanzhilfe gehen kann.

Zugleich bin ich der Meinung, dass das Problem durch äußere Finanzspritzen nur teilweise gelöst werden kann. Um die Situation völlig in Ordnung zu bringen sind energische systematische Maßnahmen erforderlich. Die europäischen Anführer haben die Aufgabe, große Reformen durchzuführen, die viele Finanz- und Wirtschaftsverfahren prinzipiell verändern und eine wirkliche Haushaltsdisziplin gewährleisten sollen. Wir sind an einer starken EU interessiert, wie sie beispielsweise von Deutschland und Frankreich gesehen wird. Wir sind an der Nutzung des großen Potenzials der Russland-EU-Partnerschaft interessiert.

Das heutige Niveau des Zusammenwirkens zwischen Russland und der EU entspricht jedoch nicht den globalen Herausforderungen, vor allem in Bezug auf die Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit unseres gemeinsamen Kontinents. Ich schlage erneut vor, an der Schaffung einer harmonischen Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok zu arbeiten und in der Zukunft die Bildung einer freien Handelszone und sogar fortgeschrittener Verfahren der Wirtschaftsintegration zu erreichen. Dann werden wir einen gemeinsamen kontinentalen Markt mit einem Wert von einigen Billionen Euro bekommen. Gibt es noch Zweifler, dass dies nicht toll ist und den Interessen der Russen und der Europäer entspricht?

Man soll sich auch Gedanken über eine engere Kooperation im Energiebereich machen – bis zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Energiekomplexes. Als wichtige Schritte können in diesem Bereich der Bau der Pipelines Nord Stream durch die Ostsee und South Stream durch das Schwarze Meer bezeichnet werden. Diese Projekte wurden von den Regierungen mehrerer Länder unterstützt. Große europäische Energieunternehmen beteiligen sich daran. Nach deren völligen Inbetriebnahme wird Europa ein sicheres und flexibles Gasversorgungssystem bekommen, das nicht von politischen Unwägbarkeiten abhängt. Dadurch wird ermöglicht, die Energiesicherheit des Kontinents nicht formal, sondern real zu stärken. Das ist vor allem angesichts der Tatsache aktuell, weil einige europäische Staaten beschlossen haben, die Nutzung der Atomenergie zu verringern oder auf sie gänzlich zu verzichten.

Um es direkt zu sagen: Das von der EU-Kommission lobbyierte „Dritte Energiepaket“, das auf die Verdrängung der russischen Integrationsunternehmen gerichtet ist, würde unsere Beziehungen kaum stärken. Angesichts der gestiegenen Instabilität der alternativen Lieferanten von Energieressourcen werden dadurch die Systemrisiken für die europäische Energie verschärft und potenzielle Investoren für neue Infrastrukturprojekte abgeschreckt. Bei meinen Gesprächen wird das „Paket“ von vielen europäischen Politikern kritisiert. Man sollte Mut fassen und diese Hürde auf dem Weg zur gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit entfernen.

Meines Erachtens ist eine wahre Partnerschaft zwischen Russland und der EU unmöglich, solange die Barrieren bleiben, die die menschlichen und wirtschaftlichen Kontakte hindern – vor allem das Visapflicht. Die Visa-Abschaffung würde ein starker Antrieb für eine reale Integration zwischen Russland und der EU sein. Sie könnte helfen, die Kultur- und Geschäftsverbindungen zu erweitern - vor allem zwischen den Mittelstands- und Kleinunternehmen. Dass die Gefahr einer Welle von russischen Wirtschaftsmigranten besteht, ist in den meisten Fällen eine Erfindung. In unserem Land gibt es für jeden Menschen genügend Möglichkeiten, seine Kräfte und Fähigkeiten anzuwenden. Diese Möglichkeiten wird es immer geben.
Im Dezember wurden mit der EU gemeinsame Schritte zur Visafreiheit vereinbart. Sie sollten ohne zu trödeln umgesetzt werden. Ich meine damit eine intensive Arbeit bei dieser Frage.

Russisch-amerikanische Angelegenheiten

In den letzten Jahren wurde viel für die Entwicklung der russisch-amerikanischen Beziehungen unternommen. Doch es wurde bislang nicht geschafft, die Frage über einen grundlegenden Wandel dieser Beziehungen zu lösen. Es gibt nach wie vor „Ebbe und Flut“. So eine Instabilität der Partnerschaft mit den USA ist anscheinend die Folge der bekannten Klischees und Phobien. Ein anschauliches Beispiel dafür ist, wie Russland im Kapitol wahrgenommen wird. Doch das größte Problem ist, dass ein gegenseitiger politischer Dialog und die Zusammenarbeit sich nicht auf eine feste Wirtschaftsbasis stützen. Der Handelsumsatz entspricht nicht dem Potenzial unserer Wirtschaften. Dasselbe betrifft die gegenseitigen Investitionen. Auf diese Weise ist kein Sicherungsnetz geschaffen worden, das unsere Beziehungen vor Konjunkturschwankungen schützen würde. Daran muss gearbeitet werden.

Die regelmäßigen Versuche der USA, sich mit der politischen Ingenieurskunst zu beschäftigen (darunter in den für Russland traditionell wichtigen Regionen und auch während der Wahlkampagnen in Russland), fördern nicht die Stärkung des gegenseitigen Verständnisses.

Ich sage erneut, dass die Idee der USA, das Raketenabwehrsystem in Europa auszubauen, bei uns berechtigte Befürchtungen auslöst. Warum beunruhigt dieses System uns mehr als die anderen? Es betrifft die nur bei Russland auf diesem Schauplatz vorhandenen Kräfte der strategischen nuklearen Abschreckung und verletzt das seit Jahrzehnten geprüfte militärische und politische Gleichgewicht.

Ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Raketenabwehr und den strategischen Offensivwaffen spiegelt sich in dem 2010 unterzeichneten START-Nachfolgevertrag wider. Der Vertrag ist in Kraft getreten und zeigt seine Wirkung. Das ist ein großer außenpolitischer Erfolg. Wir sind bereit, verschiedene Varianten davon zu erörtern, was unsere gemeinsame Tagesordnung in Bezug auf die Waffenkontrolle in der kommenden Zeit bilden könnte. Eine unverbrüchliche Regel müssen dabei das Interessengleichgewicht und der Verzicht auf Versuche sein, einseitige Vorteile durch Verhandlungen zu erreichen.

Ich hatte bereits dem damaligen Präsident George W. Bush bei einem Treffen in Kennebunkport 2007 eine Lösung der Raketenabwehr-Frage vorgeschlagen, die - falls sie angenommen worden wäre – den gewöhnlichen Charakter der russisch-amerikanischen Beziehungen geändert und die Situation in eine positive Richtung bewegt hätte. Wäre damals ein Durchbruch bei der Raketenabwehr erreicht worden, wären auch in anderen Bereichen die Schleusen für die Schaffung eines quantitativ neuen, fast eines Verbündeten-Modells der Zusammenarbeit geöffnet worden.

Doch das wurde nicht erreicht. Es wäre vielleicht nützlich gewesen, sich die Verhandlungen in Kennebunkport anzuhören. In den letzten Jahren wurden von der russischen Führung auch andere Versuche unternommen, eine Vereinbarung in Bezug auf die Raketenabwehr zu erreichen. Sie sind immer noch aktuell.
Jedenfalls wird die Suche nach Kompromissvarianten zur Lösung der Raketenabwehr-Frage nicht aufgegeben. Es sollte nicht soweit kommen, dass das US-System in einem Maße aufgebaut wird, dass Russland zu den angekündigten Gegenmaßnahmen greifen müsste.

Ich habe vor kurzem mit Henry Kissinger gesprochen. Wir treffen uns regelmäßig. Ich teile vollkommen die These dieses großen Profis darüber, dass ein enges und vertrauliches Zusammenwirken zwischen Moskau und Washington in den Zeiten internationaler Turbulenzen besonders gefragt ist.
Bei den Beziehungen zu den USA würden wir unter einer Bedingung bereit sein, tatsächlich weiter zu gehen - falls sich die Amerikaner tatsächlich an das Prinzip der gleichberechtigten und gegenseitig respektvollen Partnerschaft halten.

Wirtschaftsdiplomatie

Im Dezember ist der jahrelange Marathon bei Russlands WTO-Beitritt endlich zu Ende gegangen. Ich muss betonen, dass die Administration von Barack Obama sowie die Anführer vieler führenden europäischen Staaten das Erreichen von endgültigen Vereinbarungen im Endspurt gefördert haben.

Ich will offen sagen, dass man auf diesem langen und mühsamen Weg einige Male die Tür zugeworfen hätte und die Verhandlungen aufgeben wollte. Doch wir ließen uns nicht von den Emotionen beeinflussen. Im Ergebnis wurde ein für unser Land ziemlich günstiger Kompromiss erreicht. Es wurde geschafft, die Interessen der russischen Industrie- und Landwirtschaftsproduzenten mit Rücksicht auf die von außen kommende Steigerung des Wettbewerbs zu gewährleisten. Unsere Wirtschaftsoperatoren bekommen bedeutende zusätzliche Möglichkeiten für den Aufstieg auf den Weltmarkt und den zivilisierten Schutz ihrer Rechte dort. Gerade darin, und nicht an der Symbolik des russischen Beitritts zum Welthandelsklub besteht das größte Ergebnis.

Russland wird die WTO-Normen wie alle seine internationalen Verpflichtungen beachten. Ich rechne damit, dass unsere Partner ebenso fair und nach den Regeln spielen werden. Zugleich betone ich, dass die WTO-Prinzipien bereits in die Rechtsbasis des Einheitlichen Wirtschaftsraums Russlands, Weißrusslands und Kasachstans übertragen wurden.

Falls man analysiert, wie wir die russischen Wirtschaftsinteressen in der Welt fördern, wird klar, dass wir erst lernen, das systematisch und kontinuierlich zu machen. Es mangelt noch an der Fähigkeit (was viele westliche Partner schaffen), die für das heimische Business wichtigen Entscheidungen auf den außenwirtschaftlichen Plattformen zu lobbyieren.
Doch die Aufgaben in dieser Richtung sind mit Rücksicht auf die Prioritäten der Innovationsentwicklung des Landes, überaus wichtig – Russland die gleichberechtigten Positionen im modernen System der Weltwirtschaftsverhältnisse zu gewährleisten; die Risiken zu minimieren, die bei der Integration in die Weltwirtschaft entstehen, darunter im Zusammenhang mit dem erwähnten WTO-Beitritt und dem kommenden OECD-Beitritt.

Wir brauchen wie die Luft zum Atmen einen breiteren, nicht diskriminierenden Zugang zu den Außenmärkten. Bislang wird auf die russischen Wirtschaftsoperatoren im Ausland keine besondere Rücksicht genommen. Gegen sie werden einschränkende handelspolitische Maßnahmen getroffen und technische Barrieren errichtet, wodurch sie in eine weniger vorteilhafte Position als ihre Konkurrenten gestellt werden.

Ähnlich ist die Situation um die Investitionen bestellt. Wir versuchen, ausländisches Kapital in die russische Wirtschaft zu locken, öffnen die attraktivsten Branchen für sie und lassen sie zu den Leckerbissen, darunter im Brennstoff- und Energiekomplex. Unsere Investoren sind aber im Ausland nicht besonders willkommen und werden oft links liegen gelassen.
Beispiele gibt es genug. Beispielsweise die Geschichte mit dem deutschen Autokonzern Opel, der von den russischen Investoren nicht erworben werden konnte, obwohl dieser Deal von der deutschen Regierung gebilligt und von den deutschen Gewerkschaften positiv bewertet wurde. Oder die eklatanten Situationen, als die russische Wirtschaft, die große Investitionen in ausländische Beteiligungen getätigt hat, nicht die Rechte eines Investors bekommt. Dies geschieht häufig in Mittel- und Osteuropa.

Das bringt einen auf den Gedanken, dass die politisch-diplomatische Begleitung der Handlungen von russischen Unternehmern auf den Außenmärkten gestärkt und große sowie wichtige Unternehmensprojekte stärker unterstützt werden müssen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass Russland Gegenmaßnahmen in Bezug auf diejenigen treffen kann, die zu Methoden des unfairen Wettbewerbs greifen.
Die Regierung und die Unternehmensgruppen sollten ihre Anstrengungen in der außenwirtschaftlichen Richtung deutlicher koordinieren und die Interessen der russischen Wirtschaft beharrlicher fördern und ihm helfen, neue Märkte zu erschließen.

Ich will die Aufmerksamkeit noch auf einen bedeutenden Faktor lenken, der in vielerlei Hinsicht Russlands Platz und Rolle in der heutigen und künftigen internationalen politischen und wirtschaftlichen Situation bestimmt – das riesige Territorium unseres Landes. Zwar reicht es nicht ganz, ein Sechstel des Festlandes der Welt zu bedecken, doch die Russische Föderation ist der flächenmäßig größte Staat mit den meisten Bodenschätzen. Die Rede ist nicht nur von Öl und Gas, sondern auch von Wäldern, landwirtschaftlichen Anbauflächen, Süßwasservorräten.
Russlands Territorium ist also eine Quelle seiner potentiellen Stärke. Vorher waren die riesige Flächen vorwiegend ein Puffer vor äußeren Angriffen gewesen. Jetzt können sie bei einer richtigen Wirtschaftsstrategie eine wichtige Grundlage für die Erhöhung von deren Wettbewerbsfähigkeit werden.

Ich will auf den schnell wachsenden Mangel an Süßwasser in der Welt eingehen. Es ist voraussehbar, dass in nicht so ferner Zukunft ein geopolitischer Konkurrenzkampf um die Wasserressourcen und um die Möglichkeit beginnt, die wasserintensiven Waren herzustellen. Unser Land weiß, dass der zugefallene Reichtum sorgfältig und strategisch richtig genutzt werden muss.

Unterstützung der Landsleute und der russischen Kultur im Ausland

Der Respekt gegenüber dem eigenen Land wird auch dadurch bestimmt, wie es die Rechte seiner Bürger und Landsleute im Ausland schützen kann. Es ist wichtig, die Interessen von Millionen Landsleuten nicht zu vergessen, die im Ausland leben, dort ihren Urlaub verbringen oder auf Dienstreise sind. Ich will unterstreichen, dass alle diplomatischen und konsularischen Vertretungen verpflichtet sind, rund um die Uhr den Landsleuten zu helfen und [sie] zu unterstützen. Die Diplomaten müssen auf entstehende Kollisionen zwischen unseren Mitbürgern und den örtlichen Behörden, Vorfälle, Autounfälle u.a. unverzüglich reagieren. Es darf nicht darauf gewartet werden, bis die Medien darüber berichten. Wir werden die Erfüllung der vielen Empfehlungen anerkannter internationaler Organisationen durch die Behörden Lettlands und Estlands in Bezug auf die Beachtung der allgemein anerkannten Rechte der nationalen Minderheiten entschlossen anstreben. Man darf sich nicht mit der Existenz des schmählichen Status eines „Nicht-Bürgers“ abfinden. Wie kann man sich damit abfinden, dass jeder sechste lettische Bürger und jeder Dreizehnte Bürger Estlands als „Nicht-Bürger“ keine grundlegenden politischen, Wahl- und sozialen und wirtschaftlichen Rechte sowie Möglichkeit haben, die russische Sprache frei zu nutzen.

Das vor einigen Tagen in Lettland stattgefundene Referendum über den Status der russischen Sprache hat der internationalen Gemeinschaft erneut anschaulich gezeigt, wie ernst das Problem ist. Zur Teilnahme am Referendum wurden erneut mehr als 300.000 „Nicht-Bürger“ nicht zugelassen. Eine Frechheit ist der Verzicht der lettischen Zentralen Wahlkommission, der Delegation der russischen Gesellschaftskammer, den Beobachterstatus bei dem Referendum zu gewährleisten. Die internationalen Organisationen, die für die Einhaltung der allgemeingültigen demokratischen Standards verantwortlich sind, schweigen in sieben Sprachen.

Die Art und Weise, wie die Problematik der Menschenrechte im internationalen Kontext genutzt wird, passt uns nicht. Erstens wollen die USA und andere westliche Länder das Menschenrechtsdossier usurpieren, es völlig politisieren und als Druckinstrument anwenden. Sie dulden keine Kritik und empfinden sie als sehr schmerzhaft. Zweitens werden die Objekte für die Rechtsschutzbeobachtung auszugsweise gewählt – nicht nach universellen Kriterien, sondern nach dem Ermessen der Länder, die dieses Dossier „privatisiert“ haben.

Russland spürt die Subjektivität, Voreingenommenheit und Aggressivität der kritischen Verbalschläge, die bisweilen über alle Grenzen hinausgehen. Wenn man uns auf unsere Fehler auf faire Weise aufmerksam macht, kann dies nur begrüßt werden. Daraus werden die notwendigen Schlüsse gezogen. Doch wenn es sich um unbegründete Kritik handelt, eine Welle nach der anderen, und dabei planmäßig versucht wird, sowohl das Verhalten seiner Bürger zu uns als auch die innenpolitische Situation in Russland zu beeinflussen, wird verstanden, dass dahinter keine hohen moralischen und demokratischen Prinzipien stehen.

Der Bereich der Menschenrechte darf nicht verpachtet werden. Russland ist eine junge Demokratie. Wir zeigen häufig eine unangebrachte Bescheidenheit und gehen pfleglich mit den Ambitionen unserer erfahrenen Partner um. Doch wir haben etwas zu sagen – in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte und des Respekts der meisten Freiheiten ist niemand perfekt. Auch in den alten Demokratien sind ernsthafte Verstöße anzutreffen. Dabei soll kein Auge zugedrückt werden. Diese Arbeit soll selbstverständlich nicht nach dem „Du bist selbst Dummkopf“-Prinzip durchgeführt werden – von einer konstruktiven Erörterung der Probleme im Bereich der Menschenrechte profitieren alle Seiten.

Das russische Außenministerium hat am Jahresende seinen ersten Bericht „Über die Situation um die Menschenrechte in vielen Staaten der Welt“ veröffentlicht. Meines Erachtens muss hier aktiver vorgegangen werden. Darunter mit dem Ziel, eine breitere und gleichberechtigtere Zusammenarbeit in der gesamten Bandbreite der humanitären Fragen und die grundlegenden Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte zu fördern.

Das Gesagte ist übrigens ein Teil der Informationsbegleitung unseres außenpolitischen und diplomatischen Kurses, die Erzeugung eines wahrheitsgetreuen Bildes von Russland im Ausland. Es muss zugegeben werden, dass wir hier nicht viel Erfolg haben. Auf dem Informationsfeld haben wir häufig das Nachsehen. Das ist eine einzelne vielseitige Frage, mit der sich ernsthaft beschäftigt werden muss.

Russland hat eine große Kultur geerbt, die sowohl im Westen als auch im Osten anerkannt wird. Doch wir investieren bislang sehr schwach in die Kulturindustrie und ihre Förderung auf dem globalen Markt. Die Wiedergeburt des weltweiten Interesses an den Ideen- und Kulturbereich, die sich durch die Aufnahme der Gemeinschaften und der Wissenschaften in ein globales Informationsnetz zeigt, ermöglicht Russland mit seinen anerkannten Talenten bei der Herstellung von Kulturwerten zusätzliche Chancen.
Russland hat die Möglichkeiten, nicht nur die eigene Kultur zu erhalten, sondern sie auch als einen wichtigen Faktor zur Vorwärtsbewegung auf den globalen Märkten zu nutzen.

[...]

Russland beabsichtigt auch weiterhin, seine Sicherheit und nationale Interessen durch eine aktive und konstruktive Teilnahme an der Weltpolitik und der Lösung der globalen und regionalen Probleme zu gewährleisten. Wir sind bereit für eine sachliche und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit, für einen offenen Dialog mit allen ausländischen Partnern. Wir streben danach, die Interessen unserer Partner zu verstehen und zu berücksichtigen, bitten aber, auch unsere zu respektieren."

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Foto: mn.ru.