Mittwoch, 26. August 2009

26.08.2009: Bilder des Tages


Mitte Juli hat der rußländische Präsident Dmitrij Medwedew ein Luftlanderegiment in Noworossijsk am Schwarzen Meer besucht, wobei u.a. diese beiden Fotos entstanden sind. Ein Staatsoberhaupt schießt mit einem pösen Scharfschützengewehr. Furchtbar! ;-) (Mehr Bilder von diesem Besuch gibt es übrigens hier.)
Die beiden letzten Fotos zeigen Medwedew Anfang Juni bei einer Vorführung von Spezialkräften des FSB in Dagestan, die ich vor kurzem schon einmal erwähnt hatte (mehr Bilder davon sind hier zu finden).




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Fotos: RIA Nowosti

Sonntag, 23. August 2009

23.08.2009: Videos des Tages

Seit fünf Tagen läuft in Moskau der im zweijährigen Rhytmus veranstaltete Internationale Luft- und Raumfahrtsalon MAKS 2009. Flugzeugbegeisterte aus aller Welt haben sich dorthin aufgemacht und auf Youtube sind bereits jetzt zahlreiche Videos zu finden. Ich habe, aus meiner unfachmännischen Sicht, daraus fünf interessante herausgesucht.
Weitere ausführliche Berichte gibt es z.B. bei RIA Nowosti und Fotos u.a. hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier.

















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Donnerstag, 20. August 2009

Egalitäre Privilegien in der Sowjetunion


Die Überschrift klingt wie ein Paradox und tatsächlich ist der hier zu behandelnde Sachverhalt nicht frei von Widersprüchen. Gestern ist mir in Orlando Figes’ Buch "Die Tragödie eines Volkes" eine Fußnote aufgefallen, die ich vorher übersehen hatte. Auf Seite 630 heißt es über die Zeit des russischen Bürgerkrieges:
"Die Bolschewiki hatten schon immer ein martialisches Machoimage gepflegt. Sie zogen Lederjacken an - eine Militärmode aus dem Ersten Weltkrieg - und trugen alle Waffen.*

* Alle Parteimitglieder besaßen das Recht, eine Waffe zu tragen. Dies wurde als Zeichen der Gleichheit unter Genossen betrachtet. Erst nach dem Mord an Kirow wurde dieses Recht 1935 abgeschafft."
Noch im Jahr 1920 und danach, als der Rote Terror schon Abertausende von Opfern, vornehmlich unter Bürgern, Adligen und Bauern, gefordert hatte, hielten die Bolschewiki innerhalb ihrer Partei am revolutionären Ideal einer bewaffneten Arbeitermiliz fest.
Eine Miliz ist - bereinigt um die klassenkämpferische Komponente - sicher kein schlechtes Prinzip im Hinblick auf die Landesverteidigung. Aber sie müßte das ganze Volk umfassen und nicht nur eine privilegierte Kaste, während alle übrigen Menschen - im wahrsten Sinne des Wortes - zum Abschuß freigegeben werden.



Die drei zeitgenössischen Propagandaplakate der Bolschewiki vermitteln (hoffentlich) einen kleinen Eindruck dieser Epoche. Das erste fordert die Arbeiter zum bewaffneten Schutz ihrer Fabriken und zur Teilnahme an einer allgemeinen militärischen Grundausbildung auf. Das zweite Plakat soll die Verteidigung Petrograds gegen die 1917/18 vorrückenden deutschen Truppen mobilisieren. Und auf dem dritten wird der Film "Panzerkreuzer Potemkin" gefeiert.



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Mittwoch, 19. August 2009

19.08.2009: Text des Tages

Schon seit anderthalb Jahren beschäftige ich mich in unregelmäßigen Abständen mit dem Werk Michail Lermontows (1814 - 1841). Sowohl seine Gedichte als auch seine Prosastücke empfinde ich als äußerst reizvoll. Lermontow hat jahrelang als Offizier der russischen Armee im schon damals ziemlich wilden Kaukasus gedient und so überrascht es nicht, daß sich dies in seinen Texten niederschlägt. Er gilt nicht zu Unrecht als anspruchsvoller Abenteuerschriftsteller.
Die jüngsten Terroranschläge in den nordkaukasischen Republiken der RF haben mich an die folgende Stelle aus seinem Roman "Ein Held unserer Zeit" erinnert:
"[...]

»Ein armseliges Volk!« sagte ich zu dem Stabscapitain, indem ich auf unsere schmutzigen Wirthe zeigte, die uns mit einer gewissen Bestürzung stumm betrachteten.

»Und noch dazu sehr dumm!« versetzte mein Reisegefährte. »Sie verstehen nichts, zu nichts sind sie fähig, ohne jede Anlage zur Cultur ... es ist unglaublich! Da sind doch wenigstens unsere Kabardiner und Tschetschenzen, obgleich wilde Räuber, unerschrockene Taugenichtse, während dieses Gesindel von Osseten nicht den geringsten Geschmack an dem Waffenhandwerk hat. Sie werden nicht einmal einen halbwegs brauchbaren Dolch bei ihnen finden. Ein heruntergekommenes Volk, diese Osseten!«

»Sind Sie lange im Lande der Tschetschenzen gewesen?«

»Zehn Jahre war ich dort; ich stand mit meiner Compagnie in dem Fort bei Kamenoibrod, – kennen Sie das?«

»Ich habe davon gehört.«

»Ja, mein Lieber, diese Kopfabschneider machten uns zu schaffen! Gegenwärtig halten sie sich Gott sei Dank etwas ruhiger; aber früher, wenn man sich nur hundert Schritt von den Wällen entfernte, – da lag so ein Teufelskerl in irgend einem Versteck und lauerte einem auf: man hatte kaum die Zeit, zu gähnen – da flog einem eine Schlinge um den Hals oder eine Kugel in den Kopf. Sind das Burschen!«

»Da haben Sie gewiß manches Abenteuer erlebt?« sagte ich neugierig.

»Das sollt' ich meinen! Manches Abenteuer ...«

Bei diesen Worten begann er an seinem großen Schnurrbart zu zupfen; dann stützte er den Kopf in die Hand und versank in Nachdenken.

[...]" vollständig lesen


Kurz danach wirft die Beschreibung eines Tschetschenen namens Kasbitsch durch den Stabskapitän ein bezeichnendes Licht auch auf die Waffenkultur dieser Region:
"[...]

Dieser Kasbitsch, müssen Sie wissen, stand zu uns in einem eigenthümlichen Verhältniß; er war weder unser Freund noch unser Feind. Sein Benehmen war mehr als einmal sehr verdächtig gewesen; allein er hatte sich nie bei einem Gefecht sehen lassen. Von Zeit zu Zeit brachte er uns Schafe in das Fort und überließ sie uns zu einem billigen Preise; nur ließ er nie mit sich handeln; was er forderte, mußte man ihm auch geben, – man hätte ihn eher umbringen als ihm etwas abhandeln können. Man sagte ihm nach, er schlösse sich gern den Zügen an, welche die Abreken über den Kuban unternahmen; und in der That, mit seiner kleinen trockenen Gestalt und seinen breiten Schultern hatte er ganz das Aussehen eines Räubers ... Und zu dem besaß er eine wahrhaft diabolische Geschicklichkeit! Sein Beschmet war immer in Fetzen zerrissen, aber seine Waffen glänzten von Silber; und sein Pferd galt für das schönste und beste in der ganzen Kabardie, und in der That, es war nicht möglich, einen ausgezeichneteren Renner zu finden als dieses Pferd. Nicht umsonst beneideten ihn Alle darum, und mehr als einmal hatte man versucht, es ihm zu stehlen; allein es war nie geglückt.

[...]" vollständig lesen
Wenn man Lermontow liest, ahnt man, daß das, was derzeit in Inguschetien, Dagestan und Tschetschenien vorgeht - historisch gesehen - wohl eher die Regel als die Ausnahme ist.

(Die Übersetzung ist zwar etwas altertümlich, aber ich war zu faul, die Passagen aus dem mir vorliegenden Buch abzutippen. Pardon. ;-) Dabei handelt es sich übrigens um eine Werkauswahl in deutscher Sprache, erschienen im Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1948. Erstehen konnte ich diesen kleinen Schatz (in sehr gutem Zustand) in der Kramkiste eines Leipziger Antiquariats für 2 €. Glück muß man haben. :-))


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Dienstag, 18. August 2009

Weitere Anschläge im Nordkaukasus


Heute hat es wieder einen Bombenattentat mit vier Verletzten im Nordkaukasus gegeben, diesmal in der dagestanischen Ortschaft Kisiljurt. Unterdessen werden weitere Details des gestrigen Anschlags auf die Polizeiverwaltung in Nasran (Inguschetien) bekannt. So haben die Attentäter zwei Anläufe benötigt, nachdem sie von wachhabenden Polizisten unter Feuer genommen worden waren. Die Bombe hatte eine Sprengkraft von 400 kg TNT-Äquivalent, wobei insgesamt 21 Todesopfer und 119 Verletzte zu beklagen sind. In den Trümmern des Gebäudes werden noch neun Polizisten vermißt. Ebenso wurden bereits erste personelle Konsequenzen gezogen: Wegen ungegügender Fahdungsarbeit (der Lieferwagen, auf dem die Bombe transportiert wurde, war als gestohlen gemeldet) hat Präsident Medwedew den inguschetischen Innenminister Ruslan Mejrijew vorläufig suspendiert.
Das folgende Video (von gestern Abend) vermittelt einen Eindruck von den Geschehnissen in Nasran:




Jetzt drei Mosaiksteine zu den (möglichen) Hintergründen der neuerlichen Terrorwelle.
In der vergangenen Woche hat Sean Guilleroy in seinem Blog einen Artikel über die jüngste Ermordung von Menschenrechtlern in Tschetschenien publiziert. Obwohl er sich - wie viele Journalisten - allzu sehr auf diese eine Kaukasusrepublik kapriziert und das geographische und religiöse Umfeld außer Acht läßt, so macht der folgende Absatz das politische Dilemma in Tschetschenien doch sehr deutlich:
"[...]

True, one can and should point the finger at the Kremlin, and at Putin in particular. Kadyrov is his boy. But at the same time bashing the Kremlin becomes counter productive at some point. After all, Moscow is knee deep in this mess too. Every wiggle to the right or left sucks it deeper into the Chechen nightmare. Be sure, the last thing Medvedev and Co. want are more killings that bring more international attention to a situation that is increasingly deteriorating. And sure Medvedev could and probably should remove Kadyrov. I’m sure Putin would somehow find a way to save face if his progeny did. But doing that would pose the very real and difficult question: who would replace Kadyrov? Would it be worth risking a possible civil war between competing clans? Sending in Russian troops? None of these sound appealing. In fact, they sound disastrous.

[...]"
Einfache Schwarz-weiß-Lösungen gibt es im Kaukasus nicht.
Auf einen zweiten Aspekt wird in einer Meldung von RIA Nowosti hingewiesen: In Teilen der tschetschenischen Elite hofft man anscheinend, daß es zu einer Wiedervereinigung mit Inguschetien kommen könnte. Davon wollen allerdings die Inguschen nichts wissen:
"[...]

Der Präsident der russischen Teilrepublik Inguschetien im Nordkaukausus, Junus-Bek Jewkurow, hat eine erneute Vereinigung mit der Nachbarrepublik Tschetschenien kategorisch ausgeschlossen.

"Alle müssen einfach begreifen, dass es niemals eine Vereinigung zwischen Tschetschenien und Inguschetien geben wird. Vielleicht wird es in der Zukunft eine Erweiterung bis auf ein Kaukasisches Gouvernement geben. Es gibt zwar heute solche Schwärmer, doch eine Vereinigung zwischen Inguschetien und Tschetschenien wird es nicht geben. Das Volk Inguschetiens will das nicht und auch das tschetschenische Volk will das nicht. Wir sind schon einmal zusammen gewesen, es reicht uns", sagte Jewkurow am Montag in einem Radioninterview für einen russischen Nachrichtensender.

Nach seinen Worten muss der Dialog mit dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow über eine klare Grenzziehung zwischen beiden Republiken fortgesetzt werden. Auch Brudervölker bräuchten einen Zaun. "Das Problem muss in der nächsten Zeit gelöst werden, es darf nicht alles hinausgeschoben werden", sagte er.

Eine Republik ohne Grenzen sei keine Republik.
Inguschetiens Republikchef betonte, dass die Grenzfrage zwischen den beiden kaukasischen Teilrepubliken ohne Einmischung der Moskauer Behörden gelöst werden muss.

Unter Josef Stalin wurden Inguschetien und Tschetschenien zu einem autonomen Gebiet und 1936 zu einer autonomen Republik der Tschetschenen und Inguschen zusammengelegt. Die erste vereinigte Republik hatte nur sieben Jahre bis 1944 Bestand. 1957 wurden beide Territorien erneut vereinigt, die zweiteilige Autonomie dauerte fast 35 Jahre.
1992 kam es zu einer Spaltung: Inguschetien wollte ein Teil Russlands bleiben und unterzeichnete einen entsprechenden Vertrag. Tschetschenien erklärte seine volle Souveränität und wurde kurz danach in innere Fehden und in einen Krieg mit Russland hineingezogen.

Die Führung Inguschetiens hatte mehrmals erklärt, dass es kein drittes Tschetscheno-Inguschetien geben werde.
Beim Attentat am 22. Juni war der Präsident der Republik, Junus-Bek Jewkurow, schwer verletzt worden und wurde in einem Moskauer Krankenhaus behandelt. Vor vier Tagen kehrte er in sein Amt zurück."
Damit könnten einige der jüngsten Ereignisse vielleicht in einem anderen Licht erscheinen. Und auch Jewkurows Andeutungen bezüglich eines Machtkampfes würden so in einem anderen Licht erscheinen. Ich will mich hier aber nicht zu Spekulationen oder gar Verschwörungstheorien hinreißen lassen.

Schließlich möchte ich die Aufmerksamkeit meiner Leser auf das folgende Fernsehinterview mit Dmitrij Babitsch lenken, der u.a. regelmäßig für Russia Profile schreibt. Obgleich Babitsch als Putin-Kritiker bekannt ist (gut, welcher russische Journalist ist nicht als Putin-Kritiker bekannt?), sieht er hier ein Vordringen des islamischen Fundamentalismus als Ursache an. Zudem habe - und das ist neu für Babitsch - die sog. bewaffnete Opposition mit diesen Anschlägen ihren Anspruch auf politische Teilhabe verwirkt.




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Sonntag, 16. August 2009

Neue Terrorwelle im Nordkaukasus


Seit zwei Monaten sorgt eine neuerliche Terrorwelle in den nordkaukasischen Republiken der Rußländischen Föderation für Besorgnis. Gewiß nicht zu Unrecht, dennoch sind diese Anschläge nurmehr ein schwacher Abglanz jener Terroraktionen, die in den vergangen 15 Jahren von denselben Urhebern durchgeführt worden sind.

Blenden wir einmal zehn Jahre zurück. Im August 1999 begann der Zweite Tschetschenienkrieg. Nein, dessen Ursache war nicht der vermeintliche Expansionswille Putins und der Anlaß ist auch nicht in den bis heute unaufgeklärten Anschlägen auf Moskauer Wohnhäuser zu suchen. Die Ursache lag vielmehr darin, daß sich Tschetschenien in der Zeit seiner De-facto-Unabhängigkeit (1996 - 1999) immer stärker islamisiert hatte und ein Teil der dortigen Kriegsherren - in Zusammenarbeit mit saudischen Islamisten - einen Gottesstaat im gesamten Nordkaukasus errichten wollte. Am 7. August 1999 arteten diese Untergrundaktivitäten schließlich in einen regelrechten Krieg aus, als rund 1500 bewaffnete Glaubenskrieger unter Führung des berüchtigten Schamil Bassajew in Dagestan einfielen. Dummerweise wollten sich die großteils sunnitischen Dagestani von Bassajew nicht "befreien" lassen, weshalb seine Operation scheiterte. Der Krieg, der nach Clausewitz vom Verteidiger gewollt sein muß, begann also mit dem militärischen Widerstand gegen Bassajews Vordringen. Und es war nur natürlich, daß man sich nicht mit dem In-die-Flucht-Schlagen der Terroristen begnügte, sondern auch ihren "sicheren Hafen" Tschetschenien wieder unter Kontrolle bringen wollte.
Das folgende Video (eng.) erinnert an die Ereignisse vom August 1999:




Während es im Ersten Tschetschenienkrieg tatsächlich noch um die nationale Unabhängigkeit ging, steht seit etwa 1998 die religiöse Komponente des politischen Islam im Vordergrund. Dies muß man im Hinterkopf behalten, wenn man die jüngsten Ereignisse verstehen will. Denn das Leben ist auch hier keineswegs schwarz-weiß. Doch dazu weiter unten mehr.

Jetzt zurück in die jüngere Geschichte. 1999 konnten etwa 1500 Kämpfer aufgeboten werden, bei den Großanschlägen 2002 in Moskau und 2003 in Beslan waren es immerhin jeweils noch ein paar Dutzend. Heute hingegen müssen sich die Terroristen mit Aktionen gegen Einzelpersonen und Selbstmordattentaten begnügen. Allein dieser Vergleich zeigt, wie geschwächt sie mittlerweile sind.
Auch die geographische Dimension hat sich in den letzten Jahren verändert. War bis vor kurzem Tschetschenien noch der Ruhe- und Rückzugsraum der Terroristen, so sind sie wegen des hohen Verfolgungsdrucks der Sicherheitskräfte jetzt nach Inguschetien und Dagestan ausgewichen. Das belegen die Ereignisse der vergangenen sechs Monate, wenn etwa mehrere Bombenwerkstätten von der Polizei ausgehoben werden konnten. Der Terror wird somit nicht mehr aus Tschetschenien exportiert, sondern nach Tschetschenien importiert. Aus diesem Grunde ist es absurd, wenn dieser Tage ein ARD-Journalist mit berufsbetroffenem Ton davor warnt, die Unruhen könnten von Tschetschenien auf die Nachbarrepubliken übergreifen. Das ist bereits geschehen, und zwar vor Jahren! Während es heute in Tschetschenien relativ ruhig ist, brodelt es in den beiden Nachbarregionen um so heftiger.

Mit einem - wie auch immer begründeten - Kampf um die Unabhängigkeit der Republik Tschetschenien läßt sich diese Entwicklung jedoch nicht erklären, zumal jetzt unter dem Präsidenten Ramsan Kadyrow ein Zustand größtmöglicher Autonomie herrscht. (Eine Tatsache, die vielen Deutschen, die sich nostalgisch über "Freiheitskämpfer" und "edle Wilde" freuen, unbequem ist.) In Wirklichkeit geht es um das Vordringen des islamischen Fundamentalismus im Nordkaukasus und um dessen Hang zur Gewalt, die sich u.a. im "Kaukasischen Emirat" manifestiert (siehe dazu ausführlich: "Vom Volkskrieg zum Jihad im Nordkaukasus" - ein äußerst lesenswerter Artikel der NZZ).

Es ist diese Entwicklung, die in der vergangenen Woche zu einer für viele überraschenden Wendung geführt hat. Achmed Sakajew, einer der bedeutendsten Exil-Tschetschenen, selbsternannter Premierminister der imaginären "Republik Itschkeria" und ein Separatist, der in Westeuropa (aus für mich unerfindlichen Gründen) ein außergewöhnlich hohes Ansehen genießt, ist bereit, sich mit der jetzigen Führung Tschetscheniens auszusöhnen. Nicht nur, daß er einem "Weltkongress der Tschetschenen" zugestimmt hat, in einem bereits Ende Juli geführten Gespräch mit der Tageszeitung Kommersant distanziert sich Sakajew von den Islamisten und ruft seine Gefolgsleute zu einer Waffenruhe auf. Die Anschläge der letzten Wochen zeigen jedoch, wie wenig Gewicht seinen Worte heute noch zukommt.
Kurzum: Sakajew ist ein Mann von vorgestern, der jetzt alles daran setzt, sich einen geruhsamen Lebensabend zu verschaffen (was man durchaus verstehen kann). Wirklich überraschend kam seine Wende jedoch nicht, galt er doch von jeher als ein Säkularer, der für die religiösen Eiferer nur wenig Sympathie hegte. (Vielleicht könnte man ihn mit Jassir Arafat vergleichen?)

Ich bezweifle allerdings, daß Sakajew noch irgendeinen Einfluß auf jene islamistischen Kleingruppen hat, die sich in den Bergen des Nordkaukasus verborgen halten, als Verteidiger des "Emirates" wähnen und ohne Rücksicht auf Verluste den Dschihad führen. Denen wird vermutlich nur mit der bereits in Tschetschenien erfolgreich praktizierten Politik beizukommen sein: man gebe den Völkerschaften möglichst viel Autonomie und trenne so die Masse der Bürger von den fanatisierten Gewalttätern. Gegen letztere muß dann, da sie zu einem politischen Kompromiß weder fähig noch willens sind, von den Sicherheitskräften vorgegangen werden.




Das obige Video wollte ich hier bereits im Juni zeigen, doch dann überschlugen sich im Kaukasus die Ereignisse und machten einen ausführlichen Beitrag erforderlich, was durch die parallel laufende Waffenrechtsdebatte in Deutschland allerdings bisher verhindert wurde. Nun denn: Am 9. Juni 2009 hat Präsident Medwedew einer Vorführung von Spezialkräften des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) in Dagestan beigewohnt (siehe auch hier; man beachte bitte die auf den Fotos und im Video gezeigten Sonderwaffen). Was als Arbeitsbesuch nach dem Attentat auf den dagestanischen Innenminister Adilgerei Magomedtagirow geplant war, geriet ungewollt zum Startsignal für die Terrorwelle, die wir gerade erleben. Offenbar wollen die Islamistengruppen zeigen, daß sie noch nicht zerschlagen sind; bisweilen kommt es zu verlustreichen Gefechten.

Zu den Opfern (in der Mehrzahl Muslime!) zählen etwa der inguschetische Präsident Junus-Bek Jewkurow (siehe hier und hier), eine tschetschenische Richterin und Frauen, deren Lebenswandel des Islamisten wohl zu locker erschien. Ein bevorzugtes Ziel sind natürlich die Sicherheitskräfte, für die sich das Problem stellt, die Terroristen zu bekämpfen, ohne dabei auf Sonderbefugnisse, wie sie bis zum April 2009 in Tschetschenien galten, zurückgreifen zu können.
Und es werden, bisher eher ungewöhnlich für den Kaukasus, zunehmend Selbstmordattentate verübt, wie hier in Grosny:




Was kommt von dieser komplizierten Gemengelage bei uns an? Zwei Menschenrechtler ermordet. Mehr nicht, die übrigen Toten sind kaum einer Erwähnung wert. Aber das reicht, um das Karussell der üblichen Verdächtigungen in Bewegung zu setzen. Im Zweifelsfall ist Putin daran schuld, genauso wie am schlechten Wetter und den miesen Börsenkursen. Ironischerweise verwahrt sich gerade Sakajew gegen die Verdächtigung Kadyrows.
Dabei geht natürlich unter, daß viele dieser sogenannten "Menschenrechtler" ein - um es zurückhaltend zu formulieren - ungeklärtes Verhältnis zur terroristischen Gewalt haben. Der Einsatz für das, was einige dieser Leute unter "Menschenrechten" verstehen, ist doch sehr einseitig zugunsten der Terroristen ausgerichtet, die oftmals als fehlgeleitete Unschuldslämmer präsentiert werden, während an den Polizisten und Soldaten kein gutes Haar bleibt.
(Zu dieser Sorte zählte übrigens auch die in Deutschland so hochgejubelte Anna Politkowskaja, die in ihrem Heimatland erheblich kritischer gesehen wird, vor allem wegen ihrer einseitigen Berichterstattung über den Tschetschenienkonflikt.)
Angesichts dieser "Sachverständigen" wundert es mich nicht, daß die Entwicklungen im Nordkaukasus in deutschen Medien kaum sachgerecht beurteilt werden können. Im Zweifelsfall wird hier (wie überall) kräftig auf die Tränendrüse gedrückt.

Es bleibt abzuwarten, ob die von den Terroristen offenkundig beabsichtigte großflächige Destabilisierung des Nordkaukasus gelingt. Die Frontlinien verlaufen jetzt anders als 1995, denn heute kämpfen Muslime auch gegen Muslime. Zudem ist zu berücksichtigen, daß diese Republiken teilweise in de facto vormodernen Gesellschaftsstrukturen verharren (die auch die kommunistische Zwangsherrschaft nicht auszuschalten vermochte), weshalb sich unterschiedliche Konfliktlinien überlagern können (Stichwort: Blutrache). Insgesamt dürften die Chancen für eine Eindämmung des Konflikts aber gut stehen, denn die Terrorgruppen sind doch deutlich schwächer als noch vor wenigen Jahren - was hauptsächlich der integrativen kooperativen Politik der Moskauer Führung zu verdanken ist.
Es ist zwar noch Zeit bis zu den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi, doch bis dahin sollte im Nordkaukasus wieder Ruhe eingekehrt sein.


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16.08.2009: Bilder des Tages


Als ich vor einigen Tagen zwei Beiträge über Turgenjews "Aufzeichnungen eines Jägers" (vgl. hier und hier) vorbereitet habe, habe ich auch nach zeitgenössischen Gemälden aus dem Rußland des 19. Jahrhunderts gesucht, die Turgenjews Themen - die Jagd, die Landschaft und das Leben der Bauern - widerspiegeln. Dabei bin ich auf den Blog von Iwan Petrow gestoßen, der sich intensiv mit der russischen wie internationalen Kunstgeschichte beschäftigt.
Daraus heute einige Bilder - wobei das erste am ehesten jenen adeligen Jäger treffen dürfte, den Turgenjew in seinem Buch als Ich-Erzähler auftreten läßt. Die Bilder stammen von den Malern E. E. Wolkow, I. I. Lewitan, A. A. Popow, A. A. Kiseljow, N. A. Bogatow, I. M. Prjanischnikow, I. P. Pochitonow, K. W. Lebedew, A. D. Kiwschenko, N. K. Bodarjewskij und I. L. Isaak.












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Mittwoch, 12. August 2009

12.08.2009: Video des Tages

Am heutigen "Tag der Luftstreitkräfte" dürfte es angebracht sein, ein Video mit modernen, in Rußland produzierten Kampfflugzeugen zu zeigen. ;-)



Dienstag, 11. August 2009

11.08.2009: Text des Tages

Die "Aufzeichnungen eines Jägers" aus der Feder von Iwan Turgenjew habe ich hier gestern bereits vorgestellt. Heute möchte ich einen Auszug daraus, nämlich die Erzählung "Lgow", bringen, der gewissermaßen als Kostprobe dienen soll:
"»Wollen wir doch mal nach Lgow fahren«, sagte mir einmal Jermolai, den meine Leser schon kennen, »wir können dort nach Herzenslust Enten schießen.«

Für den echten Jäger hat die Wildente zwar nichts besonders Anziehendes, aber in Ermangelung anderen Wildes (es war Anfang September; die Waldschnepfen waren noch nicht da, und den Rebhühnern auf den Feldern nachzulaufen, war mir zu dumm geworden) folgte ich dem Vorschlag meines Jägers und begab mich mit ihm nach Lgow.

Lgow ist ein großes Steppendorf mit einer sehr alten steinernen, einkuppeligen Kirche und zwei Mühlen an dem sumpfigen Flüßchen Rossota. Dieses Flüßchen verwandelte sich etwa fünf Werst von Lgow in einen breiten Teich, der an den Ufern und auch hier und da in der Mitte mit dichtem Schilf, das man im Orjolschen Gouvernement Maier nennt, bewachsen ist. Auf diesem Teiche, in den Buchten und den windstillen Verstecken zwischen dem Schilf brüteten und lebten zahllose Enten aller möglichen Gattungen: Krick-, Spieß-, Kriech-, Tauchenten usw. Kleine Ketten flogen jeden Augenblick über dem Wasser, bei einem Schuß aber erhoben sie sich in solchen Schwärmen, daß der Jäger unwillkürlich mit der Hand nach der Mütze griff und ›Ah!‹ ausrief. Ich ging mit Jermolai zuerst am Ufer entlang, aber die Enten sind erstens vorsichtige Vögel und halten sich niemals nahe am Ufer; zweitens, wenn schon eine zurückgebliebene und unerfahrene junge Kriechente getroffen wurde, so waren unsere Hunde gar nicht imstande, sie aus dem dichten Schilf zu holen: Trotz ihrer edlen Selbstaufopferung verstanden sie weder zu schwimmen noch zu waten und zerschnitten sich nur unnütz ihre kostbaren Nasen an den scharfen Rändern des Schilfes.

[...]

Nach einer Viertelstunde saßen wir schon in Sutschoks Flachboot. (Die Hunde hatten wir unter der Aufsicht des Kutschers Jehudiel in einem Haus zurückgelassen.) Wir hatten es nicht sehr bequem, aber die Jäger sind nicht wählerisch. Am hinteren stumpfen Ende stand Sutschok und ›stieß‹; ich und Wladimir saßen auf dem Querbänkchen; Jermolai hatte vorn an der äußersten Spitze Platz gefunden. Trotz des Werges befanden sich unsere Füße bald im Wasser. Zum Glück war es windstill, und der Teich lag wie schlafend da.

Wir bewegten uns langsam vorwärts. Der Alte hatte große Mühe, aus dem zähen Schlamm seine lange Stange herauszuziehen, die ganz von den grünen Fäden der Wasserpflanzen umschlungen war; die dicht beieinander gedrängten runden Blätter der Sumpflilien hinderten auch die Bewegung unseres Bootes. Endlich erreichten wir das Schilf, und nun ging das Vergnügen los. Die Enten erhoben sich mit großem Lärm von der Teichoberfläche, durch unser plötzliches Erscheinen auf ihren Besitzungen erschrocken, und die Schüsse knallten ihnen nach. Es war lustig, zu sehen, wie die kurzschwänzigen Vögel sich in der Luft überschlugen und schwer auf das Wasser plumpsten. Wir konnten alle angeschossenen Enten natürlich nicht holen: Die leicht verwundeten tauchten unter; manche, die sofort getötet waren, fielen in einen so dichten Maier, daß selbst Jermolais Luchsaugen sie nicht entdecken konnten; dennoch füllte sich unser Boot um die Mittagsstunde bis an den Rand mit Wild.

Wladimir schoß, zum großen Trost Jermolais, gar nicht so vorzüglich; nach jedem Fehlschuß wunderte er sich, untersuchte seine Flinte, blies in den Lauf und erklärte uns schließlich den Grund, warum er fehlgeschossen habe. Jermolai schoß wie immer glänzend; ich, meiner Gewohnheit nach, ziemlich schlecht. Sutschok betrachtete uns mit den Augen eines Menschen, der von jung auf in herrschaftlichen Diensten steht; ab und zu rief er: »Da, da ist noch eine Ente!« und kratzte sich fortwährend den Rücken, aber nicht mit den Händen, sondern durch eine bloße Bewegung der Schulterblätter. Das Wetter war herrlich; weiße, runde Wolken schwebten langsam und hoch über unseren Köpfen dahin und spiegelten sich klar im Wasser; das Schilf rauschte um uns herum; der Teich glänzte stellenweise in der Sonne wie Stahl. Wir wollten schon ins Dorf zurückkehren, als wir plötzlich ein recht unangenehmes Abenteuer erlebten.

Wir hatten schon längst merken können, daß das Wasser allmählich in unser Flachboot hereinsickerte. Wladimir hatte den Auftrag, es mittels einer Schöpfkelle zu entfernen, die mein umsichtiger Jäger einem Bauernweib, das sich gerade auf etwas vergaffte, entwendet hatte. Die Sache ging ordentlich, solange Wladimir seine Pflicht nicht vernachlässigte. Aber gegen das Ende der Jagd stiegen die Enten wie zum Abschied in solchen Schwärmen auf, daß wir kaum Zeit hatten, unsere Gewehre zu laden. Im Eifer des Gefechts achteten wir nicht mehr auf den Zustand unseres Bootes, als plötzlich, infolge einer heftigen Bewegung Jermolais (er bemühte sich, einen erschossenen Vogel aus dem Wasser zu holen und beugte sich mit dem ganzen Körper über den Rand), unser altersschwaches Schiff sich auf die Seite neigte, sich mit Wasser füllte und feierlich sank, glücklicherweise an einer nicht tiefen Stelle. Wir schrien auf, aber es war schon zu spät. In einem Augenblick standen wir bis an den Hals im Wasser, umgeben von den schwimmenden Körpern der toten Enten. Heute kann ich mich nicht des Lachens enthalten, wenn ich an die erschrockenen und blassen Gesichter meiner Genossen zurückdenke (auch mein Gesicht zeichnete sich damals wohl kaum durch besondere Röte aus); aber damals kam es mir gar nicht in den Sinn, zu lachen. Ein jeder von uns hielt sein Gewehr über den Kopf, und Sutschok hob, wohl aus Gewohnheit, alles seinen Herren nachzumachen, seine Stange über den Kopf. Jermolai brach als erster das Schweigen.

[...]" vollständig lesen

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Montag, 10. August 2009

Nekrolog auf Ludolf Müller


Als ich vorhin den Beitrag über Turgenjew geschrieben habe, ist mir bekanntgeworden, daß kürzlich (besser gesagt: bereits am 22. April 2009) Ludolf Müller verstorben ist. Er wurde 92 Jahre alt.

Ludolf Müller war ein Slawist, Übersetzer und Theologe, dem ich viel zu verdanken habe. Nein, ich kannte ihn (leider) nicht persönlich, doch seine Arbeiten haben mich geprägt und mir die russische (Geistes-)Geschichte aufgeschlossen. Erstmals begegnete er mir mit der von ihm übersetzten und kommentierten "Kurzen Erzählung vom Antichrist" von Wladimir Solowjow. Als ich mich später in Solowjows Werk vertiefte, fiel er mir als Betreuer der Werkausgabe auf. Auch bei meinen Studien über Fjodor Dostojewskij, Nikolaj Berdjajew und andere russische Philosophen und Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts stieß ich immer wieder auf Müller.

Am stärksten hat mich seine 1951 (auf schlechtem Nachkriegspapier) erschienene Habilitationsschrift mit dem Titel "Russischer Geist und evangelisches Christentum - Die Kritik des Protestantismus in der russischen religiösen Philosophie und Dichtung im 19. und 20. Jahrhundert" beeindruckt. Dieses Buch bietet m.E. bis heute den besten und zugleich kürzesten Einstieg in die russische Geistesgeschichte des 19. und 20. Jh. Manche Informationen mögen mittlerweile überholt sein, doch Müller hat es geschafft, eine hervorragende Tour d'horizon dieser Epoche zu schreiben, deren Inhalt weit über den eher eng gefaßten Titel hinausgeht. Philosophie und Kunst werden im Kontext der allgemeinen Geschichte dargestellt, weshalb man auch als Anfänger schnell einen guten Überblick gewinnt. Müller beweist zudem ein bei Protestanten seltenes, wohl auf Friedrich Heilers Einfluß zurückgehendes Einfühlungsvermögen für die russische Orthodoxie.

Es gibt nicht viele Autoren, von denen ich das sagen würde, aber Ludolf Müller zählt dazu: Man kann jede Schrift aus seiner Feder bedenkenlos lesen - natürlich unter der Voraussetzung, daß man sich für das Thema interessiert.
Mit seinem Ableben ist ein der breiten Öffentlichkeit wenig bekannter, aber dennoch bedeutender Slawist und Rußlandkenner von uns gegangen. Möge er in Frieden ruhen. Und hoffen wir, daß er würdige Nachfolger findet, was angesichts der Breite seines profunden Wissens keine einfache Aufgabe darstellt.

Weiterführende Links:
Vier Nachrufe (Uni Tübingen)


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"Aufzeichnungen eines Jägers"

Dieter Stahmann hat in seinem Buch "Weidgerecht und nachhaltig" die Jagderzählungen Iwan S. Turgenjews als "unerreichtes Vorbild" für die deutsche Jagdliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelobt. Turgenjew (der sich später in Deutschland niederlies) sei hierzulande wegen seines zwischen Realismus und Romantik schwankenden Naturempfindens stark rezipiert worden. Dies war für mich Grund genug, mir die "Aufzeichnungen eines Jägers" zuzulegen, zumal ich bis dahin noch nichts von Turgenjew gelesen hatte. Lediglich eine Hörbuchfassung seines Romans "Väter und Söhne" war mir bekannt - und auch darin geht es u.a. um die Jagd.

Die "Aufzeichnungen" sind eine Sammlung von Erzählungen, in denen ein adliger Gutsbesitzer, der im zarischen Rußland zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebt, als Ich-Erzähler auftritt. Er berichtet, mal mehr, mal weniger intensiv, von seinen Jagderlebnissen, wobei Turgenjew großen Wert auf die möglichst realistische Schilderung von Natur und Menschen gelegt hat. Es ist somit kein reines Jagdbuch, sondern auch eine Gesellschaftsskizze.
Der letztgenannte Aspekt wird heute gern überbetont, hatte Turgenjew doch deswegen Ärger mit der Zensurbehörde. Dennoch kann man den Erzählungen keine politischen oder gar aufrührerischen Schriften sehen. Die "Aufzeichnungen eines Jägers" sind ein gutes Buch, weil sie ein gutes Buch sind - und nicht, weil sie mit irgendeinem (ideologischen) Zeitgeist konform gehen.

(Die oberflächliche Politisierung von Kunst im allgemeinen und Literatur im besonderen ist mir schon während des Deutschunterrichts in der Schule übel aufgestoßen. Welchen Wert hat ein Kunstwerk, wenn es nur unter ganz bestimmten politischen Bedingungen gewürdigt werden kann? Die Geschichte ist voll von solchen Eintagsfliegen, man denke beispielsweise nur an den "Bitterfelder Weg".)

Bei der Lektüre ist mir am Rande aufgefallen, wie unproblematisch im Zarenreich der Waffenbesitz selbst der bis 1861 leibeigenen Bauern war. Sollten oder wollten sie Wild erlegen, dann durften sie das tun, sogar auf den Ländereien anderer Eigentümer. Und sie konnten dabei selbstverständlich auch Waffen führen. Sogar ein politischer Häftling wie Lenin (seiner Herkunft nach ebenfalls Gutsbesitzer und keineswegs Proletarier) durfte, als er 1897 für drei Jahre ins sibrische Schuschenskoje verbannt wurde, eine Flinte mitnehmen und dort auf die Jagd gehen. Das gibt mir zu denken ...

Auf Amazon.de sind verschiedene Ausgaben und Übersetzungen des erstmals 1852 erschienenen Werkes erhältlich; ebenso sind sie z.T. online greifbar. Ich habe mich für die von der Kritik gelobte Manesse-Ausgabe aus dem Jahre 2004 entschieden. Erstens wegen der Neuübersetzung von Peter Urban; zweitens, weil drei weitere "Jägerskizzen" Turgenjews erstmals ins Deutsche übertragen und dem Band hinzugefügt worden sind; und drittens wegen des kompakten Formats (15,5 x 10 cm, Hardcover), weshalb man das Büchlein immer in der Tasche mitführen kann, um unterwegs ein wenig darin zu lesen. Dies wird außerdem dadurch erleichtert, daß die einzelnen Erzählungen, die alle für sich stehen, meist nur etwa 20 Seiten lang sind.

Ein wenig Kritik muß ich allerdings auch hier üben. Ich halte es für eine Zumutung, wenn in einem belletristischen Werk die wissenschaftliche Transliteration statt der leichter lesbaren (Duden-)Transkription verwendet wird. Der Manesse-Verlag kann nicht davon ausgehen, daß alle Leser seiner Bücher Linguisten sind und sich mit diakritischen Zeichen auskennen. Damit wird die Lesbarkeit des Textes m.E. unnütz erschwert. Wenn man als Übersetzer unbedingt seine fachwissenschaftliche Kompetenz unter Beweis stellen will, sollte man es so halten wie Ludolf Müller in seinen Übersetzungen der Werke Wladimir Solowjows: Im Text selbst werden Eigennamen etc. transkribiert, in den Fußnoten und Anmerkungen hingegen transliterisiert.

Turgenjews "Aufzeichnungen eines Jägers" zählen für mich zu jenen Werken, bei denen man es bedauert, nicht früher auf sie aufmerksam geworden zu sein. Mit welchem neumodischen Müll sind wir bisweilen im Deutsch- und Russischunterricht auf dem Gymnasium traktiert worden (obwohl ich es - verglichen mit anderen Schulkameraden - noch gut hatte)! Aber solche Schätze hat man uns vorenthalten.


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Samstag, 8. August 2009

08.08.2009: Videos des Tages

Heute vor einem Jahr, kurz nach Beginn der Olympischen Spiele in Peking, begann der Feldzug des georgischen Präsidenten Michael Saakaschwili gegen Südossetien. Obwohl es den vorrückenden Verbänden gelungen war, die Hauptstadt Zchinwali großteils in Schutt und Asche zu legen, endeten die bewaffneten Auseinandersetzungen nach fünf Tagen mit einer vernichtenden Niederlage der georgischen Streitkräfte.

Die beiden folgenden Videos aus Zchinwali und Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, berichten von den Vorbereitungen für den Jahrestag.








Der dritte Film erinnert noch einmal an den Ablauf des Vabanquespiel, das der erklärte Stalin-Fan Saakaschwili betrieben hat.



Donnerstag, 6. August 2009

06.08.2009: Bilder des Tages



Als ich vor fast zwei Jahren in Moskau war, gab es dort nur eine geschäftige Großbaustelle zu sehen. Doch mittlerweile geht eines der größten Bauprojekte Europas seiner Fertigstellung entgegen: Moscow City. Der riesige Hochhauskomplex wächst und gedeiht, wovon die heutigen Bilder Zeugnis ablegen. Damit schafft sich die Metropole mit über 10 Millionen Einwohnern gleichsam ein neues Zentrum - freilich nur eines von vielen, das die alten nicht verdrängen wird. Dafür ist diese Stadt einfach zu groß.



















Mittwoch, 5. August 2009

"Wächter des Tages"

Einige Besucher werden sich fragen, weshalb ich in den letzten Tagen so wenig geschrieben habe. Der Grund ist ganz einfach: Neben meinen dienstlichen Pflichten habe ich es vorgezogen, die Freizeit mit Lesen zu verbringen. Ausnahmsweise keine Fachliteratur, sondern eher belletristische Werke. Darunter - zu meinem Erstaunen - auch ein Fantasy- bzw. Science Fiction-Roman (wo hier die Grenzen verlaufen, vermag ich im Augenblick nicht zu sagen). Ich hatte mich zeitlebens von solchen Büchern und Filmen ferngehalten. Gewiß, in meiner Jugend war Star Trek Kult, dennoch konnte ich dergleichen bisher nichts abgewinnen.

Bis ich vor zwei Wochen in einer Buchhandlung zufällig auf die "Wächter des Tages" von Sergej W. Lukjanenko gestoßen bin. Das Buch ist der zweite Band einer vierteiligen Romanreihe und wurde auch verfilmt (und zwar ziemlich erfolgreich). Ich hatte nach einem Buch gesucht, daß unterhaltsam und leicht lesbar, aber auch nicht völlig abgedreht sein sollte. Ein Buch zur Entspannung also, bei dessen Lektüre man sich in eine Phantasiewelt hineinbegeben kann, ohne (wie bei einem historischen Roman) ständig auf die Korrektheit der Darstellung achten zu müssen.

Inhaltlich geht es um den Kampf der "Lichten" gegen die "Dunklen", der Nachwache gegen die Tagwache - und um die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen den beiden Mächten, wobei allerlei Zauberer, Hexen, Vampire und weitere Zwielichtgestalten auftreten. Der Ort der Handlung ist hauptsächlich das Moskau des Jahres 1999. Über die Handlung ist hier schon einiges geschrieben worden, weshalb ich mich darüber nicht weiter verbreiten will.
Trotz seiner phantastischen Natur gelingt es Lukjanenko, in "Wächter des Tages" zahlreiche kleine Randbemerkungen über die rußländische Gesellschaft der 1990er Jahre einzustreuen. (Das Buch ist 1998 erschienen.) Dies wirkt jedoch ganz natürlich, nicht gekünstelt oder gar erzwungen; es gibt also keine beflissene und oberflächliche Zeitkritik.

Ich muß gestehen, daß mir persönlich die individualistische, fast schon liberal zu nennende Ethik der Tagwache erheblich mehr zusagt als die Menschheitsbeglückungsphantasien der "Lichten" von der Nachtwache. Aber das ist wohl eine Geschmacksfrage ...
Überdies kenne ich keinen zeitgenössischen Roman, in dem die Figuren derart intensiv über Texte und Stimmungen von Liedern nachdenken. Die Erzählung geht schon sehr tief, ohne dabei allerdings dem Leser eine eigene Entscheidung abzunötigen, wie es etwa in manchen von Dostojewskijs Werken der Fall ist. Als Leser ist man bei Lukjanenko Beobachter, nicht Teilnehmer.

Schließlich gilt es, die Übersetzerin Christiane Pöhlmann zu loben. Es ist ihr gelungen, Lukjanenkos Vorlage in ein gut und schnell lesbares Deutsch zu übertragen, ohne daß dabei gewisse sprachliche Eigentümlichkeiten des Originals verlorengegangen wären.
Fazit: Das richtige Buch, um im Sommer abzuschalten und zu entspannen. Und es macht Lust auf eine Fortsetzung mit einem weiteren der drei Bände.




Bild: Gewitter über der Twerskaja-Straße mit ihrer typischen Architektur aus der Stalin-Zeit. An dieses Foto mußte ich spontan denken, als ich die Beschreibung des Büros der Tagwache gelesen habe. ;-)

Weiterführende Links:
Im Zwielicht (deutsche Webseite von Sergej Lukjanenko)

Montag, 3. August 2009

03.08.2009: Video des Tages

In memoriam Alexander Solschenizyn. Heute vor einem Jahr ist der große russische Schriftsteller im Alter von 89 Jahren verstorben. Meine persönlichen Lieblingstitel aus seiner Feder sind "Das rote Rad" und "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch".
Im folgenden Video sind Bilder aus dem Leben Solschenizyns mit Musik aus der Großen Doxologie der Vigil unterlegt.


Sonntag, 2. August 2009

02.08.2009: Musik des Tages

Anläßlich des heute in Rußland begangenen "Tages der Luftlandetruppen" erfreut uns der Sänger Alexander Buinow mit seiner Ode an die offiziell mit dem Kürzel WDW (für Wosduschno-Desantnye Woiska) bezeichneten "Desantniki". Die Statisten im Video sind übrigens Offiziersschüler des berühmten Instituts der Luftlandetruppen in Rjasan. :-)