Seit zwei Monaten sorgt eine neuerliche Terrorwelle in den nordkaukasischen Republiken der Rußländischen Föderation für Besorgnis. Gewiß nicht zu Unrecht, dennoch sind diese Anschläge nurmehr ein schwacher Abglanz jener Terroraktionen, die in den vergangen 15 Jahren von denselben Urhebern durchgeführt worden sind.
Blenden wir einmal zehn Jahre zurück. Im August 1999 begann der Zweite Tschetschenienkrieg. Nein, dessen Ursache war nicht der vermeintliche Expansionswille Putins und der Anlaß ist auch nicht in den bis heute unaufgeklärten Anschlägen auf Moskauer Wohnhäuser zu suchen. Die Ursache lag vielmehr darin, daß sich Tschetschenien in der Zeit seiner De-facto-Unabhängigkeit (1996 - 1999) immer stärker islamisiert hatte und ein Teil der dortigen Kriegsherren - in Zusammenarbeit mit saudischen Islamisten - einen Gottesstaat im gesamten Nordkaukasus errichten wollte. Am 7. August 1999 arteten diese Untergrundaktivitäten schließlich in einen regelrechten Krieg aus, als rund 1500 bewaffnete Glaubenskrieger unter Führung des berüchtigten Schamil Bassajew in Dagestan einfielen. Dummerweise wollten sich die großteils sunnitischen Dagestani von Bassajew nicht "befreien" lassen, weshalb seine Operation scheiterte. Der Krieg, der nach Clausewitz vom Verteidiger gewollt sein muß, begann also mit dem militärischen Widerstand gegen Bassajews Vordringen. Und es war nur natürlich, daß man sich nicht mit dem In-die-Flucht-Schlagen der Terroristen begnügte, sondern auch ihren "sicheren Hafen" Tschetschenien wieder unter Kontrolle bringen wollte.
Das folgende Video (eng.) erinnert an die Ereignisse vom August 1999:
Während es im Ersten Tschetschenienkrieg tatsächlich noch um die nationale Unabhängigkeit ging, steht seit etwa 1998 die religiöse Komponente des politischen Islam im Vordergrund. Dies muß man im Hinterkopf behalten, wenn man die jüngsten Ereignisse verstehen will. Denn das Leben ist auch hier keineswegs schwarz-weiß. Doch dazu weiter unten mehr.
Jetzt zurück in die jüngere Geschichte. 1999 konnten etwa 1500 Kämpfer aufgeboten werden, bei den Großanschlägen 2002 in Moskau und 2003 in Beslan waren es immerhin jeweils noch ein paar Dutzend. Heute hingegen müssen sich die Terroristen mit Aktionen gegen Einzelpersonen und Selbstmordattentaten begnügen. Allein dieser Vergleich zeigt, wie geschwächt sie mittlerweile sind.
Auch die geographische Dimension hat sich in den letzten Jahren verändert. War bis vor kurzem Tschetschenien noch der Ruhe- und Rückzugsraum der Terroristen, so sind sie wegen des hohen Verfolgungsdrucks der Sicherheitskräfte jetzt nach Inguschetien und Dagestan ausgewichen. Das belegen die Ereignisse der vergangenen sechs Monate, wenn etwa mehrere Bombenwerkstätten von der Polizei ausgehoben werden konnten. Der Terror wird somit nicht mehr aus Tschetschenien exportiert, sondern nach Tschetschenien importiert. Aus diesem Grunde ist es absurd, wenn dieser Tage ein ARD-Journalist mit berufsbetroffenem Ton davor warnt, die Unruhen könnten von Tschetschenien auf die Nachbarrepubliken übergreifen. Das ist bereits geschehen, und zwar vor Jahren! Während es heute in Tschetschenien relativ ruhig ist, brodelt es in den beiden Nachbarregionen um so heftiger.
Mit einem - wie auch immer begründeten - Kampf um die Unabhängigkeit der Republik Tschetschenien läßt sich diese Entwicklung jedoch nicht erklären, zumal jetzt unter dem Präsidenten Ramsan Kadyrow ein Zustand größtmöglicher Autonomie herrscht. (Eine Tatsache, die vielen Deutschen, die sich nostalgisch über "Freiheitskämpfer" und "edle Wilde" freuen, unbequem ist.) In Wirklichkeit geht es um das Vordringen des islamischen Fundamentalismus im Nordkaukasus und um dessen Hang zur Gewalt, die sich u.a. im "Kaukasischen Emirat" manifestiert (siehe dazu ausführlich: "Vom Volkskrieg zum Jihad im Nordkaukasus" - ein äußerst lesenswerter Artikel der NZZ).
Es ist diese Entwicklung, die in der vergangenen Woche zu einer für viele überraschenden Wendung geführt hat. Achmed Sakajew, einer der bedeutendsten Exil-Tschetschenen, selbsternannter Premierminister der imaginären "Republik Itschkeria" und ein Separatist, der in Westeuropa (aus für mich unerfindlichen Gründen) ein außergewöhnlich hohes Ansehen genießt, ist bereit, sich mit der jetzigen Führung Tschetscheniens auszusöhnen. Nicht nur, daß er einem "Weltkongress der Tschetschenen" zugestimmt hat, in einem bereits Ende Juli geführten Gespräch mit der Tageszeitung Kommersant distanziert sich Sakajew von den Islamisten und ruft seine Gefolgsleute zu einer Waffenruhe auf. Die Anschläge der letzten Wochen zeigen jedoch, wie wenig Gewicht seinen Worte heute noch zukommt.
Kurzum: Sakajew ist ein Mann von vorgestern, der jetzt alles daran setzt, sich einen geruhsamen Lebensabend zu verschaffen (was man durchaus verstehen kann). Wirklich überraschend kam seine Wende jedoch nicht, galt er doch von jeher als ein Säkularer, der für die religiösen Eiferer nur wenig Sympathie hegte. (Vielleicht könnte man ihn mit Jassir Arafat vergleichen?)
Ich bezweifle allerdings, daß Sakajew noch irgendeinen Einfluß auf jene islamistischen Kleingruppen hat, die sich in den Bergen des Nordkaukasus verborgen halten, als Verteidiger des "Emirates" wähnen und ohne Rücksicht auf Verluste den Dschihad führen. Denen wird vermutlich nur mit der bereits in Tschetschenien erfolgreich praktizierten Politik beizukommen sein: man gebe den Völkerschaften möglichst viel Autonomie und trenne so die Masse der Bürger von den fanatisierten Gewalttätern. Gegen letztere muß dann, da sie zu einem politischen Kompromiß weder fähig noch willens sind, von den Sicherheitskräften vorgegangen werden.
Das obige Video wollte ich hier bereits im Juni zeigen, doch dann überschlugen sich im Kaukasus die Ereignisse und machten einen ausführlichen Beitrag erforderlich, was durch die parallel laufende Waffenrechtsdebatte in Deutschland allerdings bisher verhindert wurde. Nun denn: Am 9. Juni 2009 hat Präsident Medwedew einer Vorführung von Spezialkräften des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) in Dagestan beigewohnt (siehe auch hier; man beachte bitte die auf den Fotos und im Video gezeigten Sonderwaffen). Was als Arbeitsbesuch nach dem Attentat auf den dagestanischen Innenminister Adilgerei Magomedtagirow geplant war, geriet ungewollt zum Startsignal für die Terrorwelle, die wir gerade erleben. Offenbar wollen die Islamistengruppen zeigen, daß sie noch nicht zerschlagen sind; bisweilen kommt es zu verlustreichen Gefechten.
Zu den Opfern (in der Mehrzahl Muslime!) zählen etwa der inguschetische Präsident Junus-Bek Jewkurow (siehe hier und hier), eine tschetschenische Richterin und Frauen, deren Lebenswandel des Islamisten wohl zu locker erschien. Ein bevorzugtes Ziel sind natürlich die Sicherheitskräfte, für die sich das Problem stellt, die Terroristen zu bekämpfen, ohne dabei auf Sonderbefugnisse, wie sie bis zum April 2009 in Tschetschenien galten, zurückgreifen zu können.
Und es werden, bisher eher ungewöhnlich für den Kaukasus, zunehmend Selbstmordattentate verübt, wie hier in Grosny:
Was kommt von dieser komplizierten Gemengelage bei uns an? Zwei Menschenrechtler ermordet. Mehr nicht, die übrigen Toten sind kaum einer Erwähnung wert. Aber das reicht, um das Karussell der üblichen Verdächtigungen in Bewegung zu setzen. Im Zweifelsfall ist Putin daran schuld, genauso wie am schlechten Wetter und den miesen Börsenkursen. Ironischerweise verwahrt sich gerade Sakajew gegen die Verdächtigung Kadyrows.
Dabei geht natürlich unter, daß viele dieser sogenannten "Menschenrechtler" ein - um es zurückhaltend zu formulieren - ungeklärtes Verhältnis zur terroristischen Gewalt haben. Der Einsatz für das, was einige dieser Leute unter "Menschenrechten" verstehen, ist doch sehr einseitig zugunsten der Terroristen ausgerichtet, die oftmals als fehlgeleitete Unschuldslämmer präsentiert werden, während an den Polizisten und Soldaten kein gutes Haar bleibt.
(Zu dieser Sorte zählte übrigens auch die in Deutschland so hochgejubelte Anna Politkowskaja, die in ihrem Heimatland erheblich kritischer gesehen wird, vor allem wegen ihrer einseitigen Berichterstattung über den Tschetschenienkonflikt.)
Angesichts dieser "Sachverständigen" wundert es mich nicht, daß die Entwicklungen im Nordkaukasus in deutschen Medien kaum sachgerecht beurteilt werden können. Im Zweifelsfall wird hier (wie überall) kräftig auf die Tränendrüse gedrückt.
Es bleibt abzuwarten, ob die von den Terroristen offenkundig beabsichtigte großflächige Destabilisierung des Nordkaukasus gelingt. Die Frontlinien verlaufen jetzt anders als 1995, denn heute kämpfen Muslime auch gegen Muslime. Zudem ist zu berücksichtigen, daß diese Republiken teilweise in de facto vormodernen Gesellschaftsstrukturen verharren (die auch die kommunistische Zwangsherrschaft nicht auszuschalten vermochte), weshalb sich unterschiedliche Konfliktlinien überlagern können (Stichwort: Blutrache). Insgesamt dürften die Chancen für eine Eindämmung des Konflikts aber gut stehen, denn die Terrorgruppen sind doch deutlich schwächer als noch vor wenigen Jahren - was hauptsächlich der integrativen kooperativen Politik der Moskauer Führung zu verdanken ist.
Es ist zwar noch Zeit bis zu den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi, doch bis dahin sollte im Nordkaukasus wieder Ruhe eingekehrt sein.
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