Freitag, 25. Juni 2010

Militärstruktur und Rüstungsprojekte in Rußland


Zu Beginn dieses Monats hatte ich mich hier intensiv mit der seit Herbst 2008 in der Rußländischen Föderation laufenden Militärreform beschäftigt. RIA Nowosti hat in der vergangenen Woche einen dazu passenden Kommentar mit dem Titel "Straffere Struktur für Russlands Armee: Noch viele Fragen offen" von Ilja Kramnik publiziert. Diesen nachfolgend wiedergegeben, um meine bisherigen Ausführungen zu ergänzen:
"[...]

Russland will im Zuge der Militärreform die sechs Wehrkreise abschaffen und Kommandos einführen.

Die vor 150 Jahren geschaffenen Wehrkreise sollen durch vier operativ-strategische Kommandos mit Hauptquartieren in Chabarowsk, Jekaterinburg, Sankt Petersburg und Rostow am Don ersetzt werden. Die neuen Kommandostrukturen sollen von den Befehlshabern geleitet werden, denen alle Streitkräfte einschließlich Marine, Luftstreitkräfte und Luftabwehr unterstellt sein sollen.

Die Kommandos werden beträchtlich größer als die Wehrkreise sein. Das Kommando Ost soll den Wehrkreis Fernost und einen Teil des Wehrkreises Sibirien sowie die Pazifikflotte umfassen. Die Wehrkreise Moskau und Leningrad sollen als Kommando West vereint werden. Das Kommando Süd soll auf der Grundlage des Nordkaukasischen Wehrkreises entstehen. Auch die Schwarzmeerflotte, deren Stärke etwas gekürzt werden soll, und die Kaspische Flottille sollen dem Kommando Süd angehören.

Eine Reform, in deren Verlauf die Wehrkreise durch Kommandos für alle Teilstreitkräfte ersetzt werden, war seit langem fällig. Doch ihre Umsetzung ruft zahlreiche Fragen hervor. Die erste Frage ist, inwiefern das russische Offizierskorps und die Generäle bereit sind, Verbände zu leiten, die sehr unterschiedliche Kräfte umfassen. Die zweite Frage ist, ob und wie diese Verbände auf die Bedrohungen in ihren umfassenden Zuständigkeitsbereichen im In- und Ausland reagieren können. Die größte Frage betrifft die Leitung der Flotte, unter anderem in entfernten Gebieten wie im Indischen Ozean, im Mittelmeer und anderen strategisch wichtigen Gegenden.

Damit die Leitung der Teilstreitkräfte-übergreifenden Kommandos effizient ist, müssen die Marineoffiziere bei deren Führung eine größere Rolle spielen. Sonst wird die Marine aus einer selbständigen Teilstreitkraft de facto zu einer „seegestützten Abteilung der Armee". Dadurch sind viele Aufgaben der Marine gefährdet.

Es gibt ebenfalls viele Fragen zur Ausrüstung der Truppen und Stäbe mit neuen Führungs- und Kommunikationsanlagen. Ohne entsprechende technische Ausrüstung wird der Umbau der Verbände nicht das notwendige Ergebnis bringen. Im Gegenteil: Dadurch wird die Lenkbarkeit der Truppen selbst im Vergleich zur heutigen Situation sich radikal verschlechtern. Die jetzige Situation ist beileibe nicht ideal.

Auch die Ausstattung der Truppen durch moderne Kampfmaschinen ist ein großes Problem, obwohl das Liefertempo und -menge in der letzten Zeit angestiegen ist. Das Problem wird durch die Widersprüche im Verwaltungssystem der staatlichen Rüstungsaufträge verstärkt. Es gibt nämlich zwei parallel existierende Ressorts, nämlich Rosoboronsakas (Behörde für Rüstungsaufträge) und Rosoboronpostawka (Agentur für Waffenlieferungen), deren Aufgaben sich stark überschneiden. Der Chaos bei der Verwaltung der staatlichen Rüstungsaufträge und die Finanzkrise haben 2009 dazu geführt, dass viele staatliche Rüstungsverträge nicht abgeschlossen wurden. Außerdem ist das System nicht transparent und gegen Korruption gefeit genug.

Am stärksten liegen die Ausstattung der Truppen mit modernen Führungs- und Kommunikationssystemen, der Bau von neuen Flugzeugen für die Luftstreitkräfte und Schiffen für die Marine zurück. Dort werden die vereinbarten Lieferfristen am häufigsten nicht eingehalten. Es muss aber bemerkt werden, dass in diesen Fällen oft nicht nur das Verteidigungsministerium, sondern auch die Auftragnehmer die Schuld daran tragen.

[...]"
Hier müssen auch die an das deutsche Vorbild angelehnten Pläne für die Privatisierung von Dienstleistungen erwähnt werden.



Die im obigen Text angesprochenen Probleme bei der Entwicklung und dem Einkauf neuer Wehrtechnik haben kurz danach ein "Personalopfer" gefordert. Der Leiter der Beschaffungsbehörde Rosoboronpostawka mußte seinen Stuhl räumen. Kramnik schreibt dazu:
"[...]

Russlands Präsident Dmitri Medwedew hat den Chef der Agentur für Waffen- und Spezialtechniklieferungen (Rosoboronpostawka) entlassen.

Viktor Tscherkessow, dessen Treiben in den letzten Jahren bei den Kollegen und in der Regierung nicht immer auf Verständnis traf, muss seinen Stuhl räumen. Zu seiner Nachfolgerin wurde Nadeschda Sinikowa ernannt.

Die Agentur wurde 2007 auf Initiative von Vizepremier Sergej Iwanow zur Kontrolle der Rüstungsausgaben ins Leben gerufen. Sie sollte dabei helfen, der Korruption unter den Generälen und Direktoren der Rüstungsbetriebe den Garaus zu machen.

Nach dem neuen Schema sollten die Auftraggeber aus Verteidigungs-, Innenministerium, Inlandsgeheimdienst FSB und aus sonstigen Sicherheitsstrukturen Waffen und Technik anfordern, während die Agentur die Verträge schließt, die Zahlungen vornimmt und die Technik den Auftraggebern übergibt.

Zuerst wurde die Agentur von Alexander Denissow, Vizechef der Agentur für militärisch-technische Zusammenarbeit, geleitet. Am 12. Mai 2008 wurde er von Tscherkessow abgelöst, der bis dahin der Drogenkontrollbehörde (Gosnarkokontrol) vorgestanden hatte.

Der Führungswechsel bei Rosoboronpostawka war seit langem fällig. Viele kritisierten zu Recht die Ausführung des staatlichen Rüstungsauftrags, vor allem bei der Versorgung der russischen Armee mit neuer Technik. Im Mai wurde die Agentur, für die bis dahin die Regierung zuständig war, dem Verteidigungsministerium unterstellt. Vom juristischen Standpunkt aus bedeutet das, dass für die Waffenlieferungen wieder eine militärische Behörde verantwortlich ist.

Übrigens wurden die Waffenlieferungen im Grunde ohnehin vom Verteidigungsministerium gelenkt: Deren Kontrolle erfolgte über die dem Verteidigungsministerium unterstellte Behörde für Rüstungsaufträge (Rosoboronsakas), deren Aufgaben fast dieselben waren wie von Rosoboronpostawka. Viele Experten verwiesen darauf, dass Rosoboronpostawka nicht ausreichend Befugnisse habe.

Der Wirrwarr um die Verwaltung des Rüstungsauftrags führte, mit der Finanzkrise multipliziert, 2009 dazu, dass viele Verträge nicht abgeschlossen wurden, während die Transparenz und die Widerstandsfähigkeit gegenüber der Korruption weiterhin zu wünschen übrig ließen. Im Ergebnis wurde der staatliche Rüstungsauftrag von 2009 laut Angaben des Verteidigungsministeriums trotz 100-prozentiger Finanzierung lediglich zur Hälfte erfüllt.

Besonders ungünstig wirkt sich das auf die Ausstattung der Truppen mit modernen Verwaltungs- und Kommunikationsmitteln aus, genauso verhält es sich auch beim Bau neuer Flugzeuge und Schiffe für die Luftwaffe und Kriegsflotte. In diesem Bereich wurden bereits vereinbarte Termine mehrmals verschoben oder sogar aufgehoben. Gesagt sei allerdings, dass daran oft nicht nur das Verteidigungsministerium schuld ist, sondern auch die Auftragnehmer: Die Unternehmen gehen häufig Verpflichtungen ein, denen sie nicht gewachsen sind.

Die Tatsache, dass Rosoboronpostawka dem Verteidigungsministerium unterstellt wird, kann als die Absicht verstanden werden, der Doppelherrschaft in der Verwaltung des Rüstungsauftrags ein Ende zu setzen und die Kontrolle über Käufe bei Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow zu konzentrieren, der offenbar das Vertrauen der Staatsführung genießt. Davon zeugt auch die Wahl der neuen Agenturchefin: Nadeschda Sinikowa ist Serdjukow schon aus gemeinsamen Zeiten in Sankt Petersburg bekannt.

Vermutlich wird dieser Personalwechsel im Rahmen des Rüstungsauftrags nicht der letzte sein: Das Bestehen von zwei fast identischen Behörden, die obendrein unter dem Dach des Verteidigungsministeriums vereint sind, ist offensichtlich überflüssig, deshalb ist zu erwarten, dass das eine Amt vom anderen "verschlungen" wird.

Aber durch einen Personalwechsel und neue Richtlinien, die die Aufgaben der entsprechenden Behörden regeln, lässt sich die Situation nicht von Grund auf verändern. Damit das System der Lieferungen von Waffen und Technik an die Armee normal abläuft, müssen die Gesetze mit nachfolgender Anpassung des Systems geändert werden.

[...]"
Siehe dazu bitte außerdem hier, hier und - grundlegend - hier.



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Fotos: www.mil.ru.

Dienstag, 22. Juni 2010

Moisej Itkis (1929-2009)

Vorbemerkung: In den zurückliegenden Monaten habe ich mehrfach über den Schießsport in Rußland berichtet und dabei mit Lew Weinstein auch schon einen bekannten Schützen vorgestellt. Heute möchte ich damit beginnen, in loser Folge weitere Sportschützen aus der früheren Sowjetunion zu porträtieren und z.T. auch Texte, die aus ihrer Feder stammen, zu publizieren oder von ihnen geschaffene Waffen vorzustellen. Besonders interessant erscheinen mir die Schützen, die in den 1950er Jahren bekannt geworden sind, als die UdSSR erstmals die sportliche Weltbühne betreten hat.



Heute beginnen wir mit Moisej Abramowitsch Itkis (manchmal auch Moysey oder - slawisiert - Michail Itkis geschrieben). Er wurde am 20.04.1929 in einem ukrainischen Dorf namens Torgowiza geboren und verstarb heute vor einem Jahr, am 22.06.2009, in seiner zweiten Heimat Israel. Er war in den 1950er und 60er Jahren u.a. mehrfacher Welt- und Europameister in verschiedenen Gewehrdisziplinen. Seinen m.W. ersten internationalen Titel errang er bei der UIT-Weltmeisterschaft 1954 in Caracas. Vier Jahre später bei der WM in Moskau gewann er Gold im Stehendkampf mit dem Kleinkalibergewehr über 50 m (374 Ringe) und Silber mit dem Standardgewehr über 300 m. Außerdem hat er mehrere Welt- und Europarekorde verbessert.

Über sein Privatleben ist leider nur wenig bekannt. Itkis war - wie einige der sowjetischen Spitzenschützen - Jude (was zu Sowjetzeiten unter Umständen Nachteile mit sich bringen konnte), hat Pädagogik studiert und 1969 am Leningrader Lesgaft-Institut für Körperkultur über ein Schießsportthema promoviert. Danach blieb er im damaligen Leningrad und war als Dozent an der Moshaijskij-Militäringenieurakademie tätig. Später ist er - wie viele Juden aus der ehemaligen UdSSR - nach Israel ausgewandert, doch scheint er in der dortigen Schützen-"Szene" nicht mehr in Erscheinung getreten zu sein.

Moisej Itkis hat mehrere schießsportliche Publikationen verfaßt, siehe z.B. hier, hier, hier und hier. Ich kenne jedoch keinen Titel, der ins Deutsche übersetzt worden wäre.



Abschließend gilt es, noch einige grundsätzliche Ausführungen zum Sport in der Sowjetunion zu machen. Von besonderer Bedeutung waren die zahlreichen freiwilligen Sportgesellschaften, in denen sowohl Breiten- als auch Leistungssport betrieben wurde und zu denen auch die Kinder- und Jugendsportschulen gehörten. Viele dieser Gesellschaften waren berufsständisch organisiert, wobei die Gewerkschaften eine große Rolle spielten. So gab es z.B. für Berufsschüler die "Arbeitsreserven" und für Studenten den "Sturmvogel". Die Gesellschaft "Spartak" war für viele Wirtschaftszweige zuständig, während sich "Wodnik" auf Mitarbeiter der Schiffahrt und Wasserwirtschaft beschränkte und "Zenit" vor allem den Arbeitern der Rüstungsindustrie Erholung von der Maloche bieten sollte. Dennoch waren die meisten dieser Organisationen nicht strikt abgeschlossen. So mußten etwa Studenten nicht zwangsläufig für den Sturmvogel starten.

Für den Schießsport waren neben den genannten Organisationen (vor allem den Arbeitsreserven) die folgenden besonders wichtig: Die DOSAAF war eine Wehrsportorganisation (analog der GST in der DDR), in der neben dem Schießen auch andere technische Sportarten wie z.B. Modellbau, Fliegen, Fallschirmspringen, Tauchen, Segeln usw. gepflegt wurden und deren Angebote sich primär an Jugendliche richteten. Die Dynamo-Sportklubs waren für die Körperertüchtigung der Mitarbeiter von Innenbehörden und KGB zuständig, betrieben aber auch Jugendarbeit.
Im Bereich des Verteidigungsministeriums gab es eigene Sportklubs, deren bekanntester wohl der ZSKA in Moskau ist. Doch auch auf den untergeordneten Ebenen wurde intensiv trainiert. So verfügte z.B. die GSSD über eine Schießsportsektion mit hauptamtlichen Trainern. In diesen Sporteinheiten leisteten viele schon zuvor gute Sportler ihren zweijährigen Wehrdienst ab. Und nicht wenige Sportsoldaten blieben auch länger dabei. Somit überrascht es nicht, daß aus der Sportgesellschaft der Streitkräfte ein großer Teil der Olympiateilnehmer kam (und bis heute kommt).
Darunter war auch Moisej Itkis, der während seiner aktiven Schützenlaufbahn den Rang eines Oberleutnants bekleidete.

Innerhalb dieser Sportorganisationen wurden ebenfalls zahlreiche Schießwettkämpfe ausgetragen. Daher muß man immer sauber unterscheiden, von welchen Meisterschaften ggf. die Rede ist. Waren es die (der Deutschen Meisterschaft vergleichbaren) Allunionsmeisterschaften oder nur die Allunionsmeisterschaften der DOSAAF, der Armee oder von Dynamo? Mit ihrer heterogenen Sportlandschaft unterschied sich die SU doch stark von der sehr zentralisierten DDR. (Das war, nebenbei bemerkt, nicht nur im Sport so. Auch hinsichtlich anderer Lebens- und Wirtschaftsbereiche war die SU erheblich stärker dezentralisiert als der "erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden".)


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Fotos: www.shooting-ua.com, Der Sportschütze.

Montag, 21. Juni 2010

Fehleinschätzungen in Washington


Eigentlich wollte ich mich nicht mehr über die Ereignisse in Kirgisistan äußern, doch ein Artikel, über den ich vorhin zufällig gestolpert bin, nötigt mich dazu. Geschrieben wurde er von Roger McDermott, einem Mitarbeiter der Jamestown Foundation. Dieser Think-tank ist für seine notorische Russophobie bekannt. McDermotts Meinung über die 2009 gebildeten Krisenreaktionskräfte der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) ist höchst negativ; der Tenor lautet in etwa, daß die russiche Regierung bösartig, aber unfähig sei. Er illustriert das mit der vor einem Jahr diskutierten, aber bis heute nicht erfolgten Einrichtung einer Militärbasis der RF in der kirgisischen Stadt Osch, die das Zentrum der derzeitigen Unruhen ist.

Das schönste Zitat lautet:
"[...]

It is illuminating to note that Moscow generally seeks consensus only after announcing and negotiating a new initiative, such as opening a military base on Uzbekistan's border that arguably plays no practical security role.

[...]"
Aha, Osch und das Ferghanatal liegen also "JWD" und eine Truppenstationierung in dieser Region hätte keinerlei praktische Bedeutung für die Verbesserung der Sicherheitslage in der Region. Die Ereignisse der letzten Wochen haben McDermott natürlich Lügen gestraft. Man muß kein Prophet sein, um festzuhalten, daß die Ereignisse der letzten Wochen einen anderen Verlauf genommen hätten, wäre bereits ein Kontingent von Sicherheitskräften aus anderen OVKS-Mitgliedsstaaten dort disloziert gewesen.

Das gilt auch für den ersten Teil des oben zitierten Satzes. Die Suche nach Konsens bei internationalen Verhandlungen kann logischerweise erst durch die Verhandlungen selbst geschehen. Wie sollte auch ein vorheriger Konsens möglich sein? Und wenn man in Verhandlungen eintritt, werden alle Beteiligten ihre Ausgangspositionen darlegen. Dies ist ganz natürlich und keineswegs ein Zeichen von diplomatischer Schwäche oder Unfähigkeit Moskaus. McDermotts Einlassungen zeigen eher, daß es ihm am notwenigen Verständnis der internationalen Diplomatie fehlt.

Es ist ferner bezeichnend und wäre fast schon ironisch (wenn es nicht so viele Opfer der Unruhen gäbe), daß ausgerechnet Usbekistan, das im vergangenen Jahr der Einrichtung der OVKS-Truppe widersprochen hat (und das von McDermott dafür gelobt wird), in der derzeitigen Lage mit am meisten von ihr profitieren würde. Jetzt muß Taschkent mit abertausenden Flüchtlingen und einer sehr prekären Lage in seiner Grenzregion zu Kirgisistan alleine fertig werden.

Aber so weit reicht das Analysevermögen der "Kalten Krieger" wahrscheinlich nicht. Im Zweifelsfall sind immer "die Russen" das Problem, wie Gabriele Krone-Schmalz so treffend bemerkte. Hoffentlich finden sich in Zukunft nicht mehr allzu viele Gläubige, die diesen, von Radio Liberty verbreiteten Unsinn ernstnehmen.


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Foto: RIA Nowosti.

Sonntag, 20. Juni 2010

Aufruhr in Kirgisistan


Die vergangenen Monate waren voller überraschender Wendungen für die Beobachter der politischen Ereignisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Im Mai/Juni-Heft der Zeitschrift Internationale Politik erschien eine Abhandlung von Antje Kästner und Julia Bader, in dem behauptet wurde, daß Rußland autoritäre Regime in Eurasien stützen würde, wobei der ehemalige kirgisische Staatschef Kurmanbek Bakijew als Beispiel galt. Selbiger Aufsatz war freilich bei seinem Erscheinen schon veraltet, denn in der ersten Aprilhälfte war es in Kirgisistan zu gewalttätigen Unruhen gekommen, in deren Folge Bakijew abdanken mußte. Er, der 2005 durch die sog. Tulpenrevolution an die Macht gekommen war, wurde von seinem Volk auf dieselbe Art und Weise wieder aus dem Amt gejagt. Als Übergangspräsidentin übernahm Rosa Otunbajewa die Macht.
Bald danach kamen neue Gerüchte auf, die vor allem von englischsprachigen Medien verbreitet wurden: Der Aufstand, welcher zu Bakijews Sturz geführt hatte, sei von Moskau initiiert worden, um die geopolitische Stellung der USA zu schwächen. Irgendwelche Belege dafür ließen sich zwar nicht finden, doch gilt offenbar mancherorts die Grundregel, daß Putin und Medwedew im Zweifelsfall immer die Bösen sind.

Nun sind in den letzten Wochen im Süden Kirgisistans, im Ferghanatal rund um die Stadt Osch neue Unruhen aufgeflammt, die einen stark ethnischen Anstrich trugen und sich zuvörderst gegen die dort lebende usbekische Minderheit von fast einer Dreiviertelmillion Menschen richteten. Das Ferghanatal war bereits 1990 Schauplatz zwischen-ethnischer Gewaltausbrüche, die nur durch längere und massive Präsenz der damals noch sowjetischen Sicherheitskräfte zur Ruhe gebracht werden konnten. Tausende bedrohter Usbeken wurden damals über eine Luftbrücke in andere Teile der UdSSR ausgeflogen, wo viele von ihnen noch heute leben.

Nach Ausbruch der neuerlichen Unruhen in Osch und Dschlalabat sind erneut Spekulationen über eine vermeintliche Beteiligung Rußlands ins Kraut geschossen. Würde man diesen Moden folgen, dann ergäbe sich folgendes Bild: Moskau stützt Bakijew, läßt ihn dann fallen, um Otunbajewa an die Macht zu verhelfen, und sechs Wochen später wird wiederum Bakijew unterstützt, der aus seinem Exil in Minsk zum gewaltsamen Kampf gegen die Übergangsregierung aufgerufen haben soll. Das macht alles furchtbar viel Sinn. Man sollte endlich akzeptieren, daß in den Staaten Mittelasiens eigene politische Prozesse ablaufen, die weder von Washington noch von Moskau, weder von Brüssel noch von Peking gesteuert werden können. Das Ausland kann sich bestenfalls mit den Ergebnissen dieser Prozesse arrangieren. (Und es würde mich nicht wundern, wenn die jetzige Hoffnungsträgerin Otunbajewa in einigen Jahren das gleiche Schicksal wie Bakijew ereilen würde.)



Jetzt zu den Unruhen selbst. Meine Kenntnisse der Verhältnisse in Zentralasien sind - ebenso wie die verfügbaren Informationen - sehr beschränkt, weshalb ich zunächst aus einem äußerst lesenswerten Artikel auf NewEurasia.net zitieren möchte:
"[...]

As Managing Editor of neweurasia, I want to take a moment to address something that’s been concerning me throughout the crisis in Southern Kyrgyzstan, namely, the conflation of speculation with fact, ultimately and especially regarding the issue of blame and the problem of evil. To begin with, this is what the international journalistic community thinks it knows and only that: as affirmed by the United Nations’ High Commissioner for Human Rights, it appears that gangs of masked men attacked, in an organized and premeditated fashion, Uzbek and Kyrgyz targets in Osh.

That’s all we know right now. Even the Commissioner is unsure as to these gangs’ intentions, although it’s more than reasonable to conclude they were seeking to provoke a reaction. More importantly, we don’t know who they are. There is no smoking gun — yet. In its place there are a lot of theories buzzing around, everything ranging from Russian special forces to secret agents of the Bakiyev network. But these are only theories at the moment. Until we have hard evidence, e.g., a confession, one that meets international standards of propriety, we do not know what was the plan behind these attacks.

I must remind everyone, especially certain Westerners, that this is not some board game of Risk or hermetically sealed thought experiment in a military lab. The city of Osh has been burned down. The old methodology of identifying likely suspects by who would profit the most from a situation simply doesn’t work. Let’s use the Bakiyev network as an example: even if they didn’t expect the violence to get so out of control, why would they have taken the risk knowing that the interim government would likely blame them anyway? And that’s exactly what has happened, by the way.

That leads me to the next important point: the scale of the violence clearly indicates that there is no easy villain in this. You cannot blame Bakiyevists, mafiosos, Russian special services, Islamist terrorists, or space aliens for the immense and gratuitous bloodletting of the past week. Some bloggers have tried to argue that the extremism of the violence couldn’t have come from “mere” ethnic tension, but they underestimate that there are some chasms in the human soul that are too dark for decency.

That means you also cannot conveniently blame the Kyrgyz military, nation-state, or the entire ethnic group, either. You want to call this a “genocide” and a “conspiracy”? Until you can offer me rigorous proof of a systematic basis for the tragedy, I as a journalist and an academic won’t allow you to call it that. Why? Because truth is what is at stake, and at stake in truth is justice and real human lives.

[...]"
Die Ereignisse an sich sind schlimm genug, da müssen nicht noch dramatische (Verschwörungs-)Theorien erfunden werden. Zur weiteren Vertiefung möchte ich auf die hervorragenden Webseiten bzw. Blogs New Eurasia und Registan sowie die entsprechende Rubrik von RIA Nowosti verweisen, die an Sachkenntnis und Landeskunde schwer zu übertreffen sind.



Nun zu einem anderen Thema. Wie sollen die Unruhen erstickt werden? Vor einer Woche hatte die kirgisische Übergangsregierung zunächst in Washington angefragt, ob die USA zumindest "Riot control"-Ausrüstung liefern könnten. Dies ist abschlägig beschieden worden. Danach wurde die rußländische Regierung um die Entsendung von Truppen in die Unruheregion gebeten. Auch dies ist bis heute nicht erfolgt. Dies wird z.T. sehr kontrovers diskutiert - siehe z.B. "Russia’s Osh Test", "Explosion of violence in Kyrgyzstan: Moscow wins?" und "Konflikt in Kirgistan: Was muss Russland jetzt tun?" (die Lektüre dieser drei Texte wird empfohlen).

Die Lage in Osch und Umgebung ist auch für Moskau höchst unübersichtlich. Da ist der ethnische Konflikt, da sind ordinäre kriminelle und Drogenhändler, da ist die Möglichkeit einer usbekischen Militärintervention im Nachbarland, da sind geopolitische Faktoren wie etwa das Verhältnis zu den USA, wo eine russische Intervention womöglich als "Muskelspiel des Kremls" verurteilt würde. Und zumindest in Usbekistan sind auch islamistische Gruppen aktiv.
Mithin hatte die russiche Regierung auf eine breit angelegte Regelung im Rahmen der Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit (OVKS) angestrebt. Die OVKS hat sich in den letzten Jahren auf ähnliche Szenarien vorbereitet, u.a. indem Anti-Terror-Übungen durchgeführt und gemeinsame Krisenreaktionskräfte gebildet wurden. Doch aus einer gemeinsamen Intervention zur Unterstützung der kirgisischen Übergangsregierung wird anscheinend nichts. Die Gremien der OVKS haben getagt (es hat sogar Konsultationen mit der NATO gegeben), doch zu einem Marschbefehl konnte man sich nicht durchringen.

Die Absage aus Belarus kam nicht überraschend, denn die weißrussische Regierung verfolgt seit Jahren eine äußerst defensive und zurückhaltende Sicherheitspolitik, die Kampfeinsätze von Truppen außerhalb des eigenen Staatsgebietes de facto ausschließt. Entscheidend dürfte die Weigerung Kasachstans gewesen sein, einer Intervention zuzustimmen. Das Land grenzt im Süden sowohl an Usbekistan als auch an Kirgisistan, weshalb ihm in jedem Fall eine wichtige Rolle zukäme (Überflugrechte, Truppentransit usw.). Zu mehr als humanitären Hilfslieferungen für die abertausenden Flüchtlinge, der Entsendung einer Beobachtergruppe (inkl. nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit) und weiterer technischer Unterstützung hat es nach derzeitigem Stand nicht gereicht. Und angesichts des Abflauens der Unruhen könnte sich das Thema ohnehin bald erledigt haben.

Das zeigt - neben gewissen politischen Befindlichkeiten (Bakijews Asyl in Belarus) und völkerrchtlichen Rücksichtnahmen (Stichwort: innerer Konflikt, vgl. auch Artikel 5 der OVKS-Charta) - auch die praktischen Schwierigkeiten bei der Eindämmung solcher Unruhen. Mit ausländischer Militärpräsenz alleine wäre es ja nicht getan, diese Kräfte müßten auch handeln. Doch was sollten sie angesichts der komplexen kirgisischen Gemengelage tun? Massenhafter Schußwaffeneinsatz gegen nur teilweise bewaffnete Randalierer wäre vielleicht zielführend, verbietet sich aber aus rechtlichen und ethischen Erwägungen. Und wie kommt man aus diesem Sumpf wieder heraus, wenn man einmal darin involviert ist? (Aus guten Gründen verzichten auch die USA auf ein militärisches Eingreifen, obwohl sie in Kirgisistan eine Luftwaffenbasis unterhalten.)





Am 15. Juni stellte sich das wie folgt dar:
"[...]

Bei einem Treffen mit Russlands Präsident Dmitri Medwedew gab OVKS-Generalsekretär Nikolai Bordjuscha zu verstehen, dass die Entsendung von Friedenstruppen nicht erwogen werde. Beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) sagte Medwedew, eine Intervention von OVKS-Truppen in Kirgisien sei nicht geplant, doch am Sonnabend wandte sich die kirgisische Übergangsregierungschefin Rosa Otunbajewa mit der Bitte an Russland, in den Süden Kirgisiens Friedenssoldaten zu entsenden. Dafür sprach sich auch der gestürzte Präsident Kurmanbek Bakijew aus.

Laut OVKS-Satzung werden Friedenseinsätze in den Mitgliedsländern der Organisation von den Präsidenten gefasst, und zwar unter Berücksichtigung der nationalen Gesetzgebung und nach einer offiziellen Bitte des betreffenden Mitgliedsstaates. Nach Otunbajewas Bitte könnten Friedenssoldaten entsendet werden, doch wolle sich niemand in diese Situation verwickeln lassen, sagt Wladimir Scharichin, Vizedirektor des Moskauer GUS-Instituts: Die Entsendung eines Truppenkontingents wäre eine extreme Maßnahme.

Der russische Politologe Alexej Wlassow ist der Ansicht, die Entsendung der Friedenstruppen müsse als Konsens beschlossen werden - es müssen also alle sieben Präsidenten der OVKS-Länder dafür stimmen. Die Meinungen der Experten würden auseinandergehen, meint Wlassow. Einige von ihnen hofften, die OVKS werde die Differenzen überwinden und die Entsendung von Friedenssoldaten beschließen, was jedoch nicht der Fall gewesen sei: Was gehen die Ereignisse im fernen Kirgisien Armenien oder Weißrussland an?

[...]"
Die Entscheidung, die Übergangsregierung materiell und begrenzt personell zu unterstützen statt eigene Soldaten nach Kirgisien zu entsenden, war möglicherweise besser. Die kirgisischen Sicherheitskräfte kennen ihre "Pappenheimer" und können mit ihnen entsprechend umgehen. Ausländische Truppen wecken immer negative Emotionen unter den Einheimischen und werden somit leicht zur Zielscheibe von Anschuldigungen oder gar Angriffen. Zudem wäre ein Eingreifen von außen - wie das Beispiel von 1990 lehrt - langwierig und kostspielig und sein Ende möglicherweise unabsehbar. Schließlich wird sich die kirgisische Regierung - sofern es tatsächlich gelingt, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen - von ihrem Volk nicht vorwerfen lassen müssen, daß sie nur eine Marionette des Auslands sei und ihre Macht auf den Bajonetten fremder Truppen beruhe.





Abschließend noch eine Beobachtung über den Verlauf der Unruhen und die Bewaffnung der Randalierer. Medienberichte und Fotos aus Osch zeigen eindeutig, daß die Gewalttäter zunächst fast nur mit improvisierten Waffen wie Metallrohren, Speeren, Messern u.ä. ausgerüstet waren (siehe auch das obige Video). Erst die Erstürmung von Polizeistationen und Armeekasernen führte zum massenhaften Auftauchen von Schußwaffen in ihrer Hand. Mithin war es - wie schon zuvor in vielen Bürgerkriegen - nicht etwa ein laxes Waffenrecht oder privater Waffenbesitz, der zu der hohen Zahl von Opfern beigetragen hat. Vielmehr waren es die offenbar unzureichend gesicherten Behördenwaffen. Man könnte jetzt versuchen, noch weitere Lehren aus den tragischen Ereignissen zu ziehen, doch wären diese angesichts der schwierigen Informationslage reine Spekulation.


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Fotos: RIA Nowosti; Karte: Wikipedia.

Samstag, 19. Juni 2010

19.06.2010: Videos des Tages

Am 9. Mai 2010 fand anläßlich des 65. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges auch in St. Petersburg, das 900 Tage lang belagert worden war, auf Schloßplatz und Newskij-Prospekt eine Militärparade statt, von der die heutigen Videos berichten.




















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Dienstag, 15. Juni 2010

Kein Luftzwischenfall über der Ostsee


Im Herbst 2009 haben einige deutsche Medien über einen Luftzwischenfall über der Ostsee berichtet, an dem deutsche und russische Militärmaschinen beteiligt gewesen sind. Leider sind diese Berichte damals an mir vorübergegangen, weshalb ich erst heute darauf zurückkomme. Die Quelle der Informationen war ein Bericht der Reservistenzeitschrift Loyal, der später von einigen anderen Medien aufgegriffen wurde:
"[...]

Die Bundeswehr bestätigt einen Luftzwischenfall über dem Baltikum: Deutsche Abfangjäger stellen vor Estland ein russisches Radar-Führungsflugzeug, daraufhin greifen russische Kampfjets ein. Finnische Jagdflugzeuge kommen den Deutschen zur Hilfe.

Über Zwischenfälle ist bislang geschwiegen worden. Jetzt aber wurde durch eine Reportage in der Militärzeitschrift "Loyal" bekannt, dass zwei deutsche Eurofighter am 15. September im äußersten Nordwesten Estlands an der Ostseeküste einen russischen Radaraufklärer vom Typ Beriew Be-50 abgefangen haben.

[...]

Die Beriew A-50 auf der Basis des Iljuschin-Transporters Il-76 (die Nato bezeichnet sie mit dem Code "Mainstay") hat 15 Mann Besatzung und dient in der russischen Luftwaffe als Radar-Frühwarnflugzeug und fliegende Leitstelle für bis zu zehn Kampfflugzeuge.

So soll der Zwischenfall abgelaufen sein: Die Eurofighter des Jagdgeschwaders 74 aus dem bayerischen Neuburg/Donau nähern sich der unbekannten Maschine und versuchen vergeblich, mit ihr Funkkontakt aufzunehmen. Dann fotografiert ein deutscher Pilot die russische Militärmaschine. Überraschend rasen zwei russische Kampfflugzeuge vom Typ Sukhoi Su-27 (Nato-Code: Flanker) mit Überschallgeschwindigkeit auf die Eurofighter zu. Schüsse fallen nicht.

Die drei russischen und zwei deutschen Jets haben inzwischen über der Ostsee finnischen Luftraum erreicht. Alarmierte finnische F-18-Düsenjäger drängen die Russen ab und eskortieren sie zurück in den internationalen Luftraum.

Ein Sprecher der Luftwaffe in Köln bestätigte gestern auf Anfrage unserer Zeitung, dass es bereits zwei Zwischenfälle gegeben hat, in denen die deutschen Eurofighter über dem Baltikum "eine Sicht-Identifikation unbekannter Luftfahrzeuge" hätten durchführen müssen.

[...]"


Was geschah tatsächlich am 15.09.2009?

Das scheint starker Tobak zu sein und die Kommentare sind entsprechend: Der "russische Bär" läßt seine Muskeln spielen und versucht, die "armen, freiheitsliebenden Balten" einzuschüchtern. Doch was sind, jenseits aller Rhetorik und Emotionen, die gesicherten Fakten dieses Ereignisses?

1. Ein russisches Radarflugzeug fliegt über der Ostsee (wahrscheinlich auf der Route zwischen St. Petersburg und der Exklave Kaliningrad) im internationalen Luftraum.
2. Die Luftraumüberwacher der NATO stellen mittels ihrer Radargeräte eine Annäherung (aber kein Eindringen!) der Maschine an den estnischen Luftraum fest.
3. Zwei deutsche Eurofighter-Piloten der Mission Air Policing Baltikum steigen auf, um sich dieses Flugzeug einmal anzusehen.
4. Sie erreichen die über der Ostsee fliegende Maschine und fotografieren sie (s.o.).

Die im Artikel präsentierte Version, die fünf Maschinen hätten den finnischen Luftraum verletzt, woraufhin finnische Jäger den Deutschen zu Hilfe gekommen seien, um "die Russen rauszuschmeißen", dürfte jedenfalls nicht der Wahrheit entsprechen. Auf der Webseite des finnischen Verteidigungsministeriums findet sich kein Hinweis auf diesen Vorfall - obwohl man dort, immerhin ist Finnland neutral, peinlich genau auf die Wahrung seiner Hoheitsrechte achtet, wie diese Meldung über eine mögliche Luftraumverletzung durch ein US-Flugzeug am 08.06.2010 belegt. Auch das finnische Außenministerium hat sich nicht zu den angeblich dramatischen Ereignissen im September 2009 geäußert; statt dessen findet man auf dessen Webseite nachrangige Erklärungen über Fragen der Entwicklungshilfe.

Die Quintessenz ist, daß es keinen Luftzwischenfall in dem Sinne gegeben hat, wie uns Loyal & Co. glauben machen wollen. Denn ein Eindringen in den estnischen Luftraum lag nicht vor und wird von amtlicher Seite auch nicht behauptet:
"[...]

Ein Nato-Sprecher wollte die Zwischenfälle über dem Baltikum gestern ausdrücklich nicht als bewusste Provokation werten: "Es ist sehr schwierig, Landesgrenzen klar aus der Luft zu bestimmen." Drohe deren Verletzung durch fremde Flugzeuge, würden die Abfangjäger vorsichtshalber "Flagge zeigen". Anderen Quellen zufolge soll die Beriew "unmittelbar an der estnischen Grenze entlang" geflogen sein. Ob sie das Hoheitsgebiet dabei verletzt hat, ist demnach ungeklärt.

[...]"
Damit könnte die Story eigentlich zu den Akten gelegt werden. Da keine Verletzung des estnischen Luftraums durch russische Maschinen gegeben war, war auch kein riskantes Abfangmanöver erforderlich.

Hätte tatsächlich eine Luftraumverletzung stattgefunden, so hätte Tallin mit Sicherheit eine geharnischte Protestnote nach Moskau geschickt. Doch auf der Webseite des estnischen Außenministeriums ist nichts dergleichen zu finden. Auch das estnische Verteidigungsministerium erwähnt den "Vorfall" mit keiner Silbe.
Ein dritter Gegencheck der deutschen Medienberichte in Form einer Suche durch die Webseiten maßgeblicher russischer Medien förderte ebenfalls keinerlei Informationen über den angeblichen Luftzwischenfall zu Tage, obwohl Moskau keinen Grund hätte, zu schweigen, wenn seine in internationalem Luftraum fliegenden Maschinen von Jagdflugzeugen fremder Staaten bedrängt würden.

Wir halten fest: Drei der vier angeblich in diesen Vorfall involvierten Staaten - Estland, Finnland und Rußland - sehen keinen Anlaß, sich öffentlich zu den vermeintlich dramatischen Ereignissen zu äußern, obwohl gerade die estnische Regierung sonst schnell mit lautstarken Anschuldigungen gegen Rußland bei der Hand ist. Doch nicht einmal die deutsche Bundeswehr läßt sich offiziell zu dem "Zwischenfall" ein - und damit wird die Angelegenheit immer mysteriöser. Jedenfalls findet sich auf der Luftwaffenwebseite kein Hinweis darauf.
Nun könnte man einwenden, daß sich zumindest die NATO laut dem oben zitierten Zeitungsartikel geäußert habe. Fraglich ist nur, was der NATO-Sprecher genau bestätigt hat. Seine Aussagen gehen nicht weiter, als ich soeben geschrieben habe: Es gab ein Zusammentreffen von deutschen und russischen Militärflugzeugen über der Ostsee. Mehr nicht.

Was bleibt also? Die (formal private) Reservistenzeitschrift Loyal publiziert einen effektheischenden Bericht über die angebliche Verletzung des estnischen Luftraums durch ein Flugzeug der Luftstreitkräfte der Rußländischen Föderation. Dieser wird wiederum von anderen Medien aufgegriffen und weiterverbreitet. (Viele seriöse Medien haben allerdings nichts gebracht!) Amtliche Verlautbarungen dazu gibt es jedoch von keinem der betroffenen Staaten. Lediglich Teile der deutschen Presse setzen unbewiesene Behauptungen in die Welt.
(Unbewiesen deshalb, weil ich davon ausgehe, daß es mithilfe der modernen Funkmeß- und Navigationstechnik ohne weiteres möglich wäre, stichhaltige und nachprüfbare Belege für die angeblichen Luftraumverletzungen vorzulegen. Dergleichen ist jedoch nicht geschehen.)

Fazit: Den behaupteten Luftzwischenfall hat es in dieser Form nicht gegeben. Ein russisches Flugzeug ist über der Ostsee in internationalem Luftraum geflogen und dabei von einem deutschen Eurofighter-Piloten fotografiert worden. Mehr gesicherte Fakten ließen sich nach gründlicher Recherche nicht finden - weder Belege für die beiden angeblichen Luftraumverletzungen, noch für den Beinahe-Luftkampf zwischen deutschen und russischen Flugzeugen, noch für das Zusammentreffen mit finnischen F-18-Jägern.

Mythen und Legenden

Aus den genannten Gründen ist alles, was darüber hinausgeht, als Presseente oder Propagandamärchen zu betrachten. Ich traue dem BMVg durchaus zu, auf dem Umweg über ein privates Magazin entsprechendes zu lancieren. Es paßt in die Zeit, daß man dem deutschen Michel wieder Angst vor dem "russischen Bären" machen muß, der "seine Pranke erhebt" und den "freien Westen" bedroht. Und da es keine handfesten Tatsachen gibt, die diese These unterstützen könnten, muß man sich eben etwas zusammenphantasieren - je dramatischer, desto eindrucksvoller ("Schüsse fallen nicht").

Deshalb wird auch mit Dreck geworfen, in der Hoffnung, daß schon irgend etwas an Rußland hängenbleiben werde. Zum Beispiel:
"[…]

Bereits Anfang September wurde ein Militärtransporter Antonow An-72 (Nato-Code: Coaler) über der Ostsee abgefangen, der sich im Funkverkehr als zivile Frachtmaschine ausgegeben hatte.

[…]"
Double standards at its best. Es ist allgemein bekannt, daß ein Teil der Transportmaschinen der russischen Armee über zivile Registrierungen verfügt. Dagegen ist auch aus völkerrechtlicher Sicht nichts einzuwenden. Zudem verwenden auch die deutschen und amerikanischen Streitkräfte zivile Frachtmaschinen. Es ist mithin absurd, wenn man nun so tut, als sei es ein Zeichen für die besondere Infamität der Russen, wenn sie ihre zivile Registrierung als Rufzeichen im Funkverkehr verwenden. Wie sollten sie sich sonst identifizieren? Solange keine Verletzung von Artikel 3 c) der ICAO-Konvention vorlag, gibt es keinen Grund zur Beschwerde.

Oder:
"[…]

Im April 2007 hatte die russische Luftwaffe ihre Erkundungsflüge aus den Zeiten des Kalten Krieges mit dem Scheinangriff eines Atombombers Tupolew Tu-142 auf Schottland wieder aufgenommen. Vermutlich wollten die Russen die Reaktionszeit der britischen Luftverteidigung testen. Seitdem fliegen mit Raketen und Bomben bewaffnete russische Flugzeuge regelmäßig weltweit in Nato-Regionen ein, was Präsident Wladimir Putin im August 2007 als Moskaus "notwendige Reaktion auf die wachsende militärische Bedrohung Russlands durch andere Länder" bezeichnete.

[…]"
Damit soll dem unbedarften Leser erneut suggeriert werden, daß es Verletzungen des Luftraumes von Mitgliedsstaaten der NATO durch russische Flugzeuge gegeben habe. Das war bei den als "Scheinangriffen" bezeichneten Übungsflügen jedoch niemals der Fall. Des weiteren muß man schon an einem gehörigen Maß von Schizophrenie leiden, um diese Flüge als Bedrohung für die NATO anzusehen, zumal bewaffnete NATO-Flugzeuge und -Schiffe ihre Patrouillen entlang der Staatsgrenze der RF nach dem Ende des Kalten Krieges zu keinem Zeitpunkt eingestellt hatten.

Geopolitische Aspekte

Richtig unangenehm werden dann jedoch die folgenden Vorwürfe, denn sie demonstrieren die Unfähigkeit deutscher Journalisten bei der Analyse geopolitischer Probleme:
"[…]

Deutsche Beobachter sprechen von "Nadelstichen": Moskau betrachtet die Region als sein Einflussgebiet, liegt im Streit vor allem mit Estland und ist verärgert darüber, dass es seine Exklave Kaliningrad zwischen Polen und Litauen nicht mehr direkt über den baltischen Luftraum anfliegen darf.

[…]"
Das ist krank! Einerseits dürfen russische Flugzeuge, wenn sie nach Kaliningrad fliegen, nicht den Luftraum der drei baltischen Republiken benutzen. Sie sind also gezwungen, über die Ostsee zu fliegen. Wenn sie dies jedoch tun, dann behauptet man in Bundeswehrkreisen wiederum, es handele sich um „Nadelstiche“, mit denen sich die Russen ihr angebliches Einflußgebiet erhalten wollten. Was denn nun? Soll die RF etwa den gesamten Luftverkehr mit Kaliningrad einstellen? (Hat man insofern vielleicht Hintergedanken?)

Ferner braucht es schon ein großes Maß an Unkenntnis der wahren Verhältnisse und/oder gewollter Einseitigkeit, um die Schuld für die politischen Dissonanzen im Baltikum - und mehr ist es nicht - Moskau zuzuweisen. Wer von den estnischen "Nadelstichen" etwa bei der Unterstützung tschetschenischer Terroristen oder der uneingeschränkten Solidarität der Balten mit Saakaschwilis Angriff gegen Südossetien nicht reden will, der sollte auch von russischen "Nadelstichen" besser schweigen.

Zusammenarbeit mit Rußland

Mithin überrascht es nicht, daß der genannte Zeitungsartikel seinen Lesern auch andere Facetten des größeren Bildes unterschlägt. Wahr ist, daß Rußland sämtliche Militärtransporte zwischen Kaliningrad und dem Kernland per Schiff oder Flugzeug abwickeln muß, da Estland, Lettland und Litauen die Benutzung etwa ihrer Schienenwege verweigern.

Wahr ist aber auch, daß der gesamte Nachschub des Bundeswehrkontingents in Afghanistan über Rußland läuft, sowohl per Eisenbahn als auch auf dem Luftweg. Und es genügt nicht, daß die RF diese Transporte gestattet, sie werden zum Teil auch mit russischen Transportflugzeugen durchgeführt, denn unsere glorreiche deutsche Luftwaffe ist bekanntlich unfähig, diese Aufgabe mit eigenen Kräften und Mitteln zu erledigen. Bei den meisten anderen NATO-Staaten, die sich in Afghanistan militärisch engagieren, sieht es ähnlich aus. Sogar die USA sind auf die Benutzung rußländischen Staatsgebietes angewiesen, seit ihnen der Boden in Pakistan zu heiß geworden ist.
Diese Form der militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und Rußland vollzieht sich seit Jahren nahezu lautlos. Und wenn etwas darüber an die Öffentlichkeit gedrungen ist, dann wurde nur bekannt, daß es keine nennenswerten Probleme gibt.

Mithin kann festgehalten werden, daß die NATO einerseits von Rußland erwartet, ihre militärischen Güter über sein Staatsgebiet transportieren zu dürfen. Andererseits sind drei NATO-Staaten im Baltikum nicht bereit, im Gegenzug der RF dieselben Rechte für den Verkehr mit der Exklave Kaliningrad einzuräumen. Damit nicht genug, jetzt werden sogar schon jene militärischen Flugbewegungen, die sich aufgrund der beschriebenen Situation zwangsläufig im internationalen Luftraum über der Ostsee abspielen müssen, als Ausdruck von Großmannssucht und Provokation gegen die NATO gewertet.

Resümee

Ich möchte an dieser Stelle nicht über mögliche Motive für die Produktion dieser Propagandalegende spekulieren. Unstrittig dürfte allerdings sein, daß sie hervorragend zum seit etwa drei Jahren virulenten Topos des "Neuen kalten Krieges" paßt, an dessen weiterer Abkühlung und Verschärfung einige (vornehmlich osteuropäische) NATO-Mitglieder kräftig arbeiten. Der Effekt auf die bundeswehraffine und entsprechend vorgeprägte Leserschaft von Loyal dürfte entsprechend gewesen sein: Der Feind steht immer noch im Osten - so wie schon 1914, 1941 und 1955.
Freilich haben die Psychokrieger aus dem Bendlerblock eines vergessen: Ihre Glaubwürdigkeit geht bereits jetzt gegen Null. Im Jahre 1999 der berüchtigte Hufeisenplan, im Herbst 2009 der Luftangriff bei Kunduz, der angeblich keine zivilen Opfer gefordert hat und jetzt die Behauptung systematischer Luftraumverletzungen durch Rußland. Wer soll die Räuberpistolen des BMVg noch abnehmen?


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Foto: Bundeswehr/www.ngz-online.de; Karte: map.primorye.ru.

Samstag, 12. Juni 2010

Luftpistolenschießen wird immer populärer

Die junge Schützin Jekaterina Barsukowa mit ihrer Trainerin Jelena Abarinowa.


Wer sich angesichts der Überschrift fragt, ob von Deutschland die Rede ist, den kann ich beruhigen: Nein, natürlich nicht. Hierzulande wird weiter gegen jede Art von Schießsport gehetzt - selbst dann, wenn lediglich harmlose Druckluftwaffen Verwendung finden (siehe z.B. hier und hier). In Schottland sind die Waffengegner sogar noch weiter; dort werden jetzt sämtliche Luftgewehre und -pistolen unter Erlaubnispflicht gestellt. Aber noch gibt es, auch in Europa, Gesellschaften, die sich diesen Dekadenzerscheinungen widersetzen. Rußland gehört dazu.

Der deutschsprachige Dienst des Rundfunksenders Stimme Rußlands hat am 29. Mai einen interessanten Beitrag über das LP-Schießen von Moskauer Jugendlichen gebracht. Darin wird auch ein Blick auf die Entwicklung des Schießsports in der RF geworfen, wo die Frauen langsam zu dominieren scheinen:
"[...] Dieses Jahr - 2010 - kann als Olympisches Jahr bezeichnet werden. Die Winterolympiade in Vancouver ging zu Ende, und im August wird in Singapur die erste Sommer-Olympiade der Junioren im Alter von 14 bis 18 Jahren stattfinden. Eine der Sportarten, die dort vertreten sein werden, ist das Luftpistolenschießen. Die verdiente Trainerin Russlands Jelena Abarinowa brachte [der Reporterin, E.K.] Anna Akopowa das Luftpistolenschießen bei.

Die Schützlinge von Jelena Abarinowa sind Sieger der Europa-Meisterschaft. Jekaterina Barsukowa brachte aus Deutschland 3 Silbermedaillen der jüngsten Wettkämpfe. Sie sagte, dass die deutsche Auswahlmannschaft im Luftpistolenschießen eine sehr starke Konkurrenz für Russland darstellt. Aber man hat überall Angst vor unseren Sportlern.

In Tschechien fanden praktisch gleichzeitig mit den Wettkämpfen im Luftpistolenschießen in Deutschland internationale Wettkämpfe teil, aber ältere Sportler. Die Deutschen gewannen alle Medaillen. Was die Wettkämpfe unter den Junioren in Deutschland betrifft, so gewann meine Freundin Katja Lewina eine Goldmedaille. Ich dachte bis zum Schluss, dass ist siegen wird, aber sie schoss besser.

Die Trainerin der höchsten Kategorie im Pistolensportschießen Jelena Abarinowa arbeitet mit ihren sechs Schützlingen in der Moskauer Schule der olympischen Reserve Nr. 2. Es stellte sich heraus, dass in der Schule nur Mädchen sich mit dem Schießen befassen. Als unsere Korrespondentin fragte, worauf das zurückzuführen ist, erläuterte die Trainerin. Es ist schwer zu sagen, wer mehr Sport treibt - die Jungen oder die Mädchen. Das Schießen assoziiert sich mehr mit Männern, aber bei uns gibt es keine Privilegien aus Geschlechtsgründen. Warum Mädchen? Sie waren einfach würdiger als jene Jungs, die versuchten in unsere Schule aufgenommen zu werden. Man muss bestimmte Verpflichtungen erfüllen, um in der Schule der olympischen Reserve zu lernen. Man muss eine gute Gesundheit haben, sehr gut lernen, weil parallel zum Schießen der Bildungsprozess verläuft, und natürlich sportliche Errungenschaften demonstrieren. Die Ergebnisse dieser Mädchen entsprachen den Anforderungen. Alle kommen aus verschiedenen Städten, unter ihnen gibt es keine Moskauerinnen.

Wenn sie bei den russischen Wettkämpfen erfolgreich auftreten, dann haben sie Chancen in die Auswahlmannschaft des Landes zu gelangen und an Europa- und Weltmeisterschaften teilzunehmen. Zwei hervorragende Sportlerinnen, über die wir bereits sprachen, gewannen die Lizenz, die ihnen das Recht gibt an den Olympischen Spielen der Junioren in Singapur im Sommer 2010 teilzunehmen. Die Spezialisierung der Mädchen ist die Pistole, weil zum Schießen auch das Gewehrschießen gehört. In Moskau gibt es nur in dieser Schule eine Abteilung für Schießen.

Warum entschloss sich Jekaterina Barsukowa für diese, wie es scheint, männliche Sportdisziplin? Sie sagte im Gespräch mit unserem Korrespondenten:

„Die Eltern meiner Freundin sind Trainer im Schießen, und wir gingen ein Mal zum Schießplatz, wo sie arbeiten. Man schlug mir vor zu schießen. Mir gefiel das. Das Schießen war für mich zuerst wie ein Hobby. Dann hat man mir vorgeschlagen mich damit professionell zu befassen, ich verhielt mich zur Sache ernst. Dann nahm ich an Wettkämpfen teil, die in Smolensk stattfanden. Ich trat erfolgreich auf und wollte etwas Besseres erreichen. Dieses Streben ging so weit, dass ich etwas Größeres erreichen will".

Vielleicht werden Mädchen aus der Moskauer Schule der Olympischen Reserve Nr. 2 in absehbarer Zukunft Olympiasiegerinnen in Singapur und danach auch bei der Olympiade in London 2012 sein."

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Foto: Anna Akopowa/german.ruvr.ru.

Mittwoch, 9. Juni 2010

Transportflieger für den deutschen Katastrophenschutz


Der deutsche Bevölkerungsschutz besteht nicht nur aus der nächstgelegenen Feuer- und Rettungswache, deren Kräfte uns im Alltag etwa bei Verkehrsunfällen oder Wohnungsbränden begegnen. Er hat – wie mittlerweile in vielen Staaten der Welt – auch eine internationale Dimension. Ob es um Überflutungen in Polen, Wirbelstürme in Frankreich, Tsunamis in Südostasien oder Erdbeben auf Haiti geht – immer stehen die meist ehrenamtlichen Helfer bereit, um auch jenseits des eigenen Staatsgebietes in Not geratenen Menschen schnellstmöglich Hilfe zu leisten. Vorreiter innerhalb der Bundesrepublik war insofern das Technische Hilfswerk (THW), das in der Rechtsform einer Bundesanstalt dem Bundesinnenministerium untersteht. Hervorzuheben sind hier vor allem die Schnelleinsatzeinheit für Bergung im Ausland (SEEBA) und die Schnelleinsatzeinheit Wasser Ausland (SEEWA). Aber auch private Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz, Malteser, Johanniter, Rettungshundevereine usw. werden bei Katastrophen im Ausland aktiv.

Nun bedingt die geographische Lage Deutschlands ein großes Problem: Viele Einsatzorte sind derart weit entfernt, daß die Hilfskräfte zwingend auf dem Luftweg dorthin transportiert werden müssen. Leider standen bisher den hiesigen Hilfsorganisationen, abgesehen von ein paar Rettungshubschraubern, keine eigenen Lufttransportmittel zur Verfügung. Das THW hatte zunächst auf Transportflugzeuge der Luftwaffe zurückgegriffen, bis das Bundesverteidigungsministerium einen Stopp verfügte und vom BMI Geld für die erbrachten Dienstleistungen forderte. Da die von der Hardthöhe aufgerufenen Tarife über denen kommerzieller Fluggesellschaften lagen, ist das THW seither darauf angewiesen, sich selbst auf dem freien Markt um zeitnahe Mitfluggelegenheiten in Krisenregionen zu kümmern. Das führt natürlich zwangsläufig zum Zeitverzug beim Transport von Personal, Gerät und Hilfsgütern sowie zu einem deutlich größeren Organisationsaufwand, wenn man sich mit mehreren Airlines abstimmen muß. Dafür mußte ferner eine THW-eigene Sondereinheit in der Nähe von Frankfurt/Main geschaffen werden. Bei den privaten Hilfsorganisationen ist die Lufttransportlage noch trostloser; dort muß alles selbst organisiert und bezahlt werden – obwohl diese Aktionen alle im Interesse der Bundesrepublik erfolgen.

Natürlich kann man das notorisch klamme BMVg verstehen, denn „ohne Moos nix los“. Andererseits juchteln die Katastrophenhelfer ja nicht aus Spaß an der Freud durch die Welt, sondern um den politischen Auftrag zur humanitären Hilfe auszuführen. In anderen NATO-Staaten ist das übrigens kein Problem, dort werden die Hilfskräfte selbstverständlich von ihren jeweiligen Luftstreitkräften geflogen.

Doch seit letzter Woche scheint endlich ein Ausweg aus dem Lufttransportengpaß des deutschen Katastrophenschutzes gefunden zu sein. Auf der Fachmesse Interschutz in Leipzig wurde am 7. Juni in Anwesenheit des BMI-Staatssekretärs Klaus-Dieter Fritsche und des russische Katastrophenschutzministers Sergej Schojgu ein Memorandum of Understanding über die Nutzung von Luftfahrzeugen der RF für die Durchführung humanitärer Hilfe unterzeichnet. Grundlage der Vereinbarung ist das Deutsch-russischen Katastrophenhilfeabkommen aus dem Jahre 1994. Die entsprechende Pressemitteilung des BBK lautet:
"[…]

Im Rahmen der Kooperation zwischen dem Bundesministerium des Innern (BMI) und dem russischen Ministerium für Notfallsituationen (EMERCOM) unterzeichnen BBK-Präsident Christoph Unger und der Direktor für internationale Kooperation von EMERCOM, Juri Brazhnikow, eine Vereinbarung zur Nutzung von russischen Großraum-Transportflugzeugen. Die Unterzeichnung findet auf der Messe Interschutz in Leipzig statt. Im Falle internationaler Hilfeleistungseinsätze im Interesse des Bundes, insbesondere nach der Aktivierung des Europäischen Gemeinschaftsverfahrens für Katastrophenschutz, sollen diese Maschinen vom Typ Iljuschin 76 für Personen- und Hilfsgütertransporte genutzt werden.

Diese Vereinbarung basiert auf dem zwischen Deutschland und der Russischen Föderation bestehenden Hilfeleistungsabkommen. Im Rahmen einer bilateralen Arbeitsgruppe wurde ein gemeinsames Arbeitsprogramm über Zusammenarbeit u. a. auf den Gebieten Ausbildung, kritische Infrastrukturen und medizinischer Bevölkerungsschutz für 2011 und 2012 vereinbart. Minister Shoigu, EMERCOM, sowie Staatssekretär Fritsche, BMI, haben das Arbeitsprogramm ebenfalls auf der Messe Interschutz unterzeichnet.
Mit den Vereinbarungen wird die gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Russischen Föderation im Bevölkerungsschutz fortentwickelt.

[…]"



Um diese Vereinbarung (die entgegen der o.g. Verlautbarung nicht nur auf Maschinen vom Typ Iljuschin beschränkt ist) einordnen zu können, muß man wissen, daß das Katastrophenschutzministerium der RF (MTschS, bisweilen auch MChS und Emercom genannt) über stattliche Fliegerkräfte verfügt. Diese reichen von kleinen Rettungshubschraubern über große Transporthelikopter wie der Mi-6 bis hin zu Transportflugzeugen (z.B. Jak-42, Il-62, Il-76) und Amphibienflugzeugen Be-200. Damit werden regelmäßig russische Hilfsmannschaften und -güter transportiert – und zwar nicht nur bei internationalen Einsätzen, sondern auch im Inland. Anders wäre angesichts der großen Dimensionen Rußlands eine schnelle und qualifizierte Nothilfe auch in entlegenen Gegenden oftmals kaum leistbar. Hierzulande sind wir ebenfalls schon in den Genuß dieser Fähigkeiten gekommen: Im August 2002 wurden Spezialisten, Amphibienfahrzeuge, Pumpen und weitere Technik des MTschS nach Deutschland geflogen, um bei der Bekämpfung des Elbehochwassers zu helfen.

Nun kann also auch Deutschland die im rußländischen Katastrophenschutz bestehenden Möglichkeiten nutzen. Das ist sehr erfreulich, deutet sich damit doch die Lösung eines seit vielen Jahren bestehenden Problems an, zu dessen eigenständiger Lösung unsere Politiker und Beamten nicht fähig waren. Und es regt zum Nachdenken an, daß an dieser Lösung keiner der „üblichen Verdächtigen“ beteiligt ist, von deren Fähigkeiten man hierzulande so gerne redet. Weder Flugzeuge der deutschen Luftwaffe noch eines anderen NATO- oder EU-Mitgliedsstaates werden uns zur Verfügung gestellt, sondern solche einer rußländischen Behörde.

Zu den finanziellen Aspekten haben sich beide Seiten nicht geäußert. Ausgehend von Artikel 9 des zugrundeliegenden Katastrophenhilfevertrages wird das wohl fallweise entschieden werden. Dabei dürfte der deutsche Obulus wahrscheinlich eher gering ausfallen, wenn man sich an ohnehin geplante Flüge des MTschS "anhängen" kann. Und, der größte Vorteil: Das BBK und die an Auslandseinsätzen teilnehmenden Hilfsorganisationen gewinnen endlich Planungssicherheit und müssen sich nicht mehr auf kurzfristig aufgestellte Bedingungen unterschiedlicher Fluggesellschaften einstellen (Hunde: ja oder nein; Material: nur Handgepäck oder etwas mehr etc.).

Die Luftwaffe ist übrigens in einer ähnlichen Lage. Aufgrund ihrer unzulänglichen eigenen Lufttransportmittel wird ein großer Teil des Nachschubs für die deutschen Truppen in Afghanistan mit gecharterten Maschinen aus Rußland und der Ukraine transportiert. Wer auf der A 9 am Flughafen Leipzig/Halle vorbeifährt, kann diese Flugzeuge regelmäßig sehen. Leider findet ein Großteil der erfolgreichen Kooperation zwischen unseren Staaten im Verborgenen statt.



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Montag, 7. Juni 2010

Krieg im Baltikum


Sven Ortmann, den ich für seinen Weblog Defence and Freedom sehr schätze, hat sich dort im Mai mit "Defence policy thoughts for (very) small powers" beschäftigt und sich dabei des Beispiels Estland angenommen. Er entwickelt darin einige als Gedankenspiel durchaus interessante Ideen hinsichtlich der Verteidigung des Baltikums gegenüber einem hypothetischen Angriff Rußlands.

Mich stört allerdings die Unterstellung, daß es in der RF Invasionsüberlegungen für das Baltikum gäbe. Die Souveränität dieser Staaten stand seit 1991 niemals zur Diskussion - weder auf internationaler Ebene noch innerhalb Rußlands. Im Gegenteil, wenn man sich in die russische Publizistik der Jahre 1990 ff. vertieft, so wird man unschwer feststellen, daß es in sämtlichen, damals diskutierten Szenarien für die Zukunft eine Konstante gab, nämlich die vollständige Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens von der seinerzeit noch existierenden Sowjetunion. (Vgl. z.B. A. Solschenizyn: Rußlands Weg aus der Krise, München 1990 oder A. Sobtschak: Für ein neues Rußland, Bergisch-Gladbach 1991.) Eine Kollegin aus St. Petersburg hat dieses Denken mir gegenüber erst vor kurzem so zusammengefaßt: "Auch zu Sowjetzeiten haben wir das Baltikum immer als Ausland empfunden."

Nun könnte man meinen, daß sich die rußländische Regierung in den letzten Jahren bisweilen höchst unfreundlich gegenüber ihren kleinen Nachbarn verhalten hätte. Dies vernebelt jedoch den Blick auf den politischen - und damit mehrseitigen - Kontext der Probleme. Angefangen von dem seit fast 20 Jahren existierenden Komplex der Staatenlosen (ein Problem, das es nur in diesen drei Nachfolgestaaten der UdSSR gibt!) über den bis heute nicht gültigen estnisch-russischen Grenzvertrag (die estnische Regierung meinte, den schon fertigen Vertrag eigenmächtig ergänzen zu müssen) bis hin zur massiven Unterstützung, die islamistische Terroristen aus dem Nordkaukasus seit Jahren in Osteuropa finden. (Man stelle sich nur vor, in einem NATO-Staat würde die Hamas in ähnlicher Weise hofiert.)

Ferner blendet das weitverbreitete Gerede von einer "russischen" (nicht etwa einer sowjetischen!) Okkupation des Baltikums wichtige historische Tatsachen einfach aus. Begonnen von der massiven Unterstützung, die Lenins Bolschewiki im Baltikum gefunden haben, über die Tatsache, daß nach der Oktoberrevolution 35.000 Lettische Schützen neben den Roten Matrosen die stärkste Stütze der Bolschewiki waren (deren Kommandeur, Jukums Vācietis, war sogar erster Chef der Roten Armee!) bis hin zur Tatsache, daß nicht wenige Politiker und Beamte in diesen Staaten ihre (oft bis heute andauernde) Karriere mit einem Parteibuch der KPdSU begonnen haben. Ein Beispiel dafür ist Boris Pugo, letzter Innenminister der SU und einer der maßgeblichen Akteure des gegen Michael Gorbatschow gerichteten Putschversuchs im August 1991.
(BTW: Können Russen, deren Vorfahren während der Revolution und des Bürgerkrieges von lettischen Schützen massakriert worden sind, die heutige Republik Lettland auf Schadensersatz verklagen, wie es in letzter Zeit Mode geworden ist?)

Damit soll folgendes gesagt werden: Die drei baltischen Staaten und die dort lebenden Menschen waren im 20. Jahrhundert bei weitem nur das Objekt der Politik, als das sie sich heute gerne darstellen, sondern sie haben selbst kräftig mitgestaltet und auch mitgemordet. Die Geschichte ist nicht so eindimensional, die aktuelle Politik ebenfalls nicht.



Natürlich gibt es politische Dissonanzen zwischen den drei baltischen Republiken und der Rußländischen Föderation - allerdings in unterschiedlicher Intensität, wobei Lettland und Litauen m.E. nicht ganz so streitsüchtig sind wie Estland. Dennoch ist es absurd anzunehmen, daß Moskau zur "Bereinigung" dieser Streitfragen auf militärische Gewalt setzen würde. Erstens fehlen der RF die dazu notwendigen Kräfte und Mittel, zweitens setzt Moskau (nicht nur, aber auch aus diesem Grunde) in jeder Hinsicht primär auf Verhandlungslösungen. Die dortigen Politiker und Beamten kennen sich im Völkerrecht hervorragend aus und wissen ganz genau, welche Maßnahmen noch zu rechtfertigen ist und welche nicht - und sie überschreiten, wie die letzten Jahre gezeigt haben, diese Grenze nicht.
(Dies steht, nebenbei bemerkt, im erfreulichen Gegensatz zur Unkenntnis oder offenen Ablehnung des geltenden Völkerrechts, wie sie regelmäßig von "westlichen" Staaten demonstriert wird, wie etwa 1999 im Kosovo oder 2003 im Irak.)

Die Rußländische Föderation wird nicht zum Kriege schreiten, wenn sie nicht durch einen militärischen Angriff dazu gezwungen wird. Das haben sowohl der Einfall islamistischer Kämpfer in Dagestan 1999, aus dem sich dann der Zweite Tschetschenienkrieg entwickelt hat, als auch der Südossetienkrieg 2008 gezeigt. Hätten die georgischen Truppen nicht die Unterkünfte der dreiseitigen Friedenstruppen angegriffen, dann hätte es keine derart starke Reaktion Rußlands gegeben. Die russischen Streitkräfte mußten gewaltig improvisieren, um bestehen zu können. So waren etwa die Kommunikationswege zur obersten militärischen Führung in Moskau außer Betrieb, weil der Generalstab gerade umgezogen ist. Deshalb mußte sämtliche Kommunikation der Kommandeure vor Ort mit ihren Vorgetzten über die Nachrichtenzentrale der Präsidialadministration abgewickelt werden.

Um wieder auf den Anfang zurückzukommen: Für meine Kritik hat Sven Ortmann natürlich eine Sicherung in seinen Text eingebaut: "No matter how unlikely the scenarios are; preparing is what they get paid for, after all." Ein Planspiel also. Ich nehme mir die Freiheit, im folgenden ebenfalls ein Gedankenexperiment durchzuführen (obgleich ich nicht dafür bezahlt werde ;-)). Es geht um die Ausbreitung der NATO bis an die Grenzen Rußlands und welche Risiken sich aus russischer Sicht daraus ergeben könnten. Das entwickelte Szenario ist hypothetisch und nach heutigem Stand unwahrscheinlich, aber keineswegs unrealistisch. Ich verstehe es außerdem als Fortsetzung des Beitrags über die neuen Operativ-strategischen Kommanden der russischen Armee, worin ich die militärischen Kräfteverhältnisse schon angeschnitten hatte. All das ist, um noch einmal Ortmann zu zitieren, selbstverständlich "just food for thought".



Das politische Vorspiel: Die NATO-Staaten sind unzufrieden mit Rußland. Der amerikanische Senator Richard Lugar hatte bereits 2006 gedroht, daß man in der NATO gewillt sei, sich die russischen Bodenschätze und Energieträger ggf. auch mit militärischer Gewalt anzueignen. Jetzt spitzt sich ein Ressourcenkonflikt, bei dem es um unterschiedliche Preisvorstellungen zwischen Warschau und Moskau geht, immer weiter zu. Die Scharfmacher, insbesondere aus Osteuropa, fordern, daß man dem "aggressiven russischen Bären" endlich eine "Lektion" erteilen müsse, an die er sich noch lange erinnern wird, damit es nicht zu weiteren Insubordinationen gegenüber dem "freien Westen" kommt.
Ein passendes Ziel ist schnell gefunden: Das Kaliningrader Gebiet, das eingeklemmt zwischen Litauen, Polen und der Ostsee liegt. Dort haben sich außerdem politische Kräfte formiert, die die Loslösung von Rußland anstreben, um einen eigenen Staat zu bilden, der in die EU aufgenommen werden soll. Das steht auch im Kontext der amerikanischen Osteuropapolitik, in welcher die territoriale Zerstückelung Rußlands seit Jahrzehnten einen prominenten Platz einnimmt; diese Idee zieht sich als eine Konstante vom NSC-Dokument 20/1 und anderen Beschlüssen der Frühphase des Kalten Krieges bis zu den Schriften Zbigniew Brzezinskis.

Das militärische Vorspiel: In den letzten Jahren hat sich die Integration der drei baltischen Staaten in die militärischen Strukturen der NATO intensiviert, weshalb nicht mehr das Schlachtfeld Irak im Vordergrund stand. Neben dem regelmäßigen Air Policing Baltikum wurden dort auch größere Luftwaffenübungen durchgeführt. Im Sommer 2010 fanden zudem großangelegte Marineübungen statt, in deren Mittelpunkt amphibische Landungen von US Marines an der lettischen und estnischen Küste sowie anschließende Gefechtsübungen zu Lande standen. Im Mai 2010 wurden ferner amerikanische Flugabwehrkräfte mit Patriot-Systemen in Polen stationiert. Allerdings nicht, wie ursprünglich geplant, in der Nähe von Warschau, um die Hauptstadt zu schützen, sondern weit davon entfernt im masurischen Morąg, das knapp 70 km südlich der Grenze zum Kaliningrader Gebiet liegt.

Die Idee der NATO: Eine Herauslösung der Reste des früheren Ostpreußens klingt in den Ohren vieler NATO-Planer verlockend, wobei zunächst offen bleibt, ob diese Maßnahme nur temporär (Faustpfand für Verhandlungen mit Moskau) oder dauerhaft sein soll. Erstens bietet es sich aufgrund der geostrategischen Lage geradezu an, diesen "abnormalen" Außenposten Rußlands zu zerschlagen. Zweitens entspricht diese Maßnahme hervorragend der seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Polen virulenten prometheischen Ideologie (damit wäre das Motivationsproblem gelöst). Außerdem hat Polen in den Jahren 1920/22 eine ähnliche Aktion im Osten Litauens durchgeführt - mit dem Ergebnis der Annektion des Gebietes um Vilnius durch Warschau (an einem historischen Vorbild fehlt es mithin nicht). Drittens wäre eine solche Militäroperation mit einem überschaubaren Kräfteaufwand durchführbar. Viertens ist das Risiko, einen "großen Krieg" mit eventuellem Atomwaffeneinsatz heraufzubeschwören, gering; der Konflikt läßt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit räumlich und zeitlich begrenzen.

Die militärische Planung der NATO: Allein das polnische Heer verfügt über insgesamt 12 mechanisierte Brigaden. Das genügt, zusammen mit den polnischen Unterstützungsmitteln, völlig, um die "Kaliningrader Operation" erfolgreich durchzuführen. Denn in diesem Gebiet sind nur 3 Manöverbrigaden der russischen Streitkräfte stationiert (2 x Mot. Schützen, 1 x Marineinfanterie). Die polnischen Kräfte und Mittel sollten auch ausreichen, um die weißrussische Grenze zu decken, damit sich dieser Verbündete Rußlands nicht in den Konflikt einmischt. Unterstützung durch die NATO-Verbündeten ist insofern nur nötig, um die russischen Luftstreitkräfte und Luftverteidigung niederzuhalten und die Baltische Flotte in ihren Häfen zu blockieren.

Der Unterstützungsbedarf von Estland, Lettland und Litauen ist erheblich größer. Den litauischen Streitkräften kommt die Aufgabe zu, die Nordgrenze des Kaliningrader Gebiets abzuriegeln, um einen eventuellen Ausbruch der Verteidiger in Richtung Nordosten zu verhindern. Auch muß die Grenze zu Belarus gesichert werden. Die Armeen Estlands und Lettlands sollen Entlastungsangriffe der östlich ihrer Ostgrenze stehenden russischen Kräfte vereiteln und so die Eroberung des nördlichen Ostpreußens absichern. Zu diesem Behufe sind jedoch Verstärkungen aus anderen NATO-Staaten erforderlich - allerdings nichts, was sich nicht mit ein paar Schiffen über die Ostsee oder per Bahntransport via Deutschland und Polen heranschaffen ließe.

Kriegsbeginn: Davon ausgehend beginnt der hypothetische Angriff der polnischen Armee auf das Kaliningrader Gebiet, natürlich ohne formale Kriegserklärung. Einen konkreten Vorwand hat man gefunden; der NATO-Pressesprecher hat in Brüssel der Weltöffentlichkeit sogar einen neuen Hufeisenplan präsentiert. Der Propaganda- und Informationskrieg tobt schon heftig, bevor der erste Schuß fällt.

Die militärische Lage aus russischer Sicht: Nachdem der Angriff begonnen hat, ist die Exklave Kaliningrad vom Rest des Landes abgeschnitten. Nur einige wenige Kommunikationskanäle funktionieren noch. Die dort stationierten Truppen wehren sich zwar, doch ist ihre Lage angesichts der Überlegenheit der polnischen Angreifer, der weitgehenden Isolation des Gebietes und der kriegsmüden Stimmung in der Bevölkerung nahezu aussichtslos. Der Versuch von Kampffliegern aus dem russischen Kernland, in die Gefechte um Kaliningrad einzugreifen, wird von der Luftverteidigung der NATO abgewiesen.
Die wenigen in Kronstadt liegenden Schiffe der Baltischen Flotte laufen zwar aus, doch werden sie schon auf der Höhe Tallins von Marinekräften der NATO gestoppt und kehren nach einem Geplänkel in ihren Heimathafen zurück. Nunmehr wird der rußländischen Führung endgültig klar, daß es sich um einen Krieg mit der gesamten NATO handelt, nachdem es zuvor noch diffuse Signale auf diplomatischen Kanälen gegeben hatte, die auf weitere Verhandlungen hindeuteten.

Im Operativ-strategischen Kommando West (St. Petersburg) und im Generalstab der RF (Moskau) werden angesichts dessen verschiedene Optionen diskutiert.

Erstens ein Vorstoß zu Lande, um das eingeschlossene Kaliningrad von Norden her zu erreichen. Dazu müßten nicht nur Estland, Lettland und Litauen durchquert, sondern auch die dort vorbereitete militärische Abwehr überwunden werden. Das estnische Heer entspricht zu Friedenszeiten etwa einer Infanteriebrigade, das lettische und litauische Heer ebenfalls. Alle drei Staaten haben mittlerweile mobilgemacht und führen neben den regulären Einheiten auch ihre Territorial- und Reserveformationen ins Feld. Zu ihrer Unterstützung sind eine amerikanische und eine britische Brigade bereits vor Ort - offiziell, um Manöver durchzuführen. Drei weitere Brigaden aus Dänemark, Deutschland und den Niederlanden befinden sich auf dem Weg ins Baltikum.

Dem stehen auf russischer Seite lediglich die 25. Motorisierte Schützenbrigade in Wladimirskij Lager und die aus 3 Fallschirmjägerregimentern bestehende 76. Luftlandedivision in Pskow gegenüber. Das entspricht zusammen in etwa 4 NATO-Brigaden. Die übrigen Truppenteile sind zu weit entfernt und würden auf ihrem Anmarsch vermutlich Schlägen der gegnerischen Luftwaffe oder Marschflugkörpern zum Opfer fallen, denn insoweit ist die Überlegenheit der NATO absolut.

Ein Angriff zu Lande wäre somit fast aussichtslos, zumindest bräuchte er eine starke Luftunterstützung. Doch gegen die Luftstreitkräfte der NATO (in der Ostsee kreuzen auch zwei Flugzeugträger) kommen die russischen Flieger alleine nicht an. Die Heranführung von Reserven braucht jedoch Zeit, was der NATO bei ihrem begrenzten Krieg um Kaliningrad in die Hände spielt.

Die russischen Generalstabsoffiziere erwägen sodann, wenigstens die Kurzstreckenraketen der in Luga basierten 26. Raketenbrigade zum Einsatz zu bringen. Doch auf welche Ziele sollte man sie, nur mit konventionellen Sprengköpfen bestückt, abfeuern? Welche politischen und militärischen Vorteile brächte der Abschuß von ein paar Raketen etwa auf die gegnerischen Hauptstädte? So gut wie keinen (vielleicht mit der Ausnahme des gewissermaßen am Wege gelegenen Vilnius). Und sie genügen in dieser Konfiguration nicht, um die in Lettland und Litauen stehenden NATO-Bodentruppen zu zerschlagen, weshalb es nicht gelingen kann, so den eigenen Truppen den Weg nach Südwesten zu ebnen.

Also wird das letzte Mittel erörtert: Atomwaffen. Hier tut sich ein großes Dilemma auf. Rußland ist selbst bisher nicht mit Atomwaffen attackiert worden, deshalb müßte es nun einen atomaren Erstschlag führen. Ein solcher wäre gemäß der Militärdoktrin aus dem Jahre 2010 jedoch nur dann zulässig, wenn die Rußländische Föderation durch einen konventionellen Angriff in ihrer gesamten staatlichen Existenz bedroht ist. Dies ist bei einem begrenzten Krieg gegen das kleine Kaliningrader Gebiet mit Sicherheit nicht der Fall. Das russische Kernland könnte auch so ohne Probleme weiterexistieren. Ergo ist ein Atomwaffeneinsatz ausgeschlossen.

Zudem würde sich die Frage erheben, gegen welche NATO-Staaten denn Atomwaffen eingesetzt werden sollten. Weder die baltischen Republiken noch Polen verfügen selbst über derartige Waffen oder haben sie gar zum Einsatz gebracht. Ein Atomschlag auf deren Territorium würde international zweifelsohne als Kriegsverbrechen bewertet werden, was einen gewaltigen und langfristigen politischen und ökonomischen Schaden für Rußland, den "neuen Schurkenstaat" und "rachsüchtigen Bären", zur Folge hätte. Und einen vierten Weltkrieg mit den USA, inklusive dem Austausch von Interkontinentalraketen, beginnt man nicht wegen eines kleinen Landstücks an der Ostsee.

Das Resultat: Ein Atomwaffeneinsatz erfolgt von seiten der RF nicht. Statt dessen entschließt man sich zu einem eher symbolischen Vorstoß der 25. Mot. Schützenbrigade sowie des 23. und des 104. Fallschirmjägerregiments, welcher jedoch von den NATO-Verbänden im Nordosten Lettlands gestoppt wird. Nach heftigen Gefechten ziehen sich die russischen Truppen wieder auf ihr eigenes Staatsgebiet zurück. Am selben Tag wird das Friedenshauptquartier des OSK West, das in Petersburg im historischen Generalstabsgebäude untergebracht ist, von zwei Luft-Boden-Raketen getroffen, die von B-52-Bombern über der Ostsee abgefeuert worden waren. Ein dritter, nach späterer NATO-Darstellung fehlgeleiteter Marschflugkörper trifft die Eremitage, wodurch u.a. die weltberühmte Sammlung der niederländischen Meister zerstört wird.

Der Präsident in Moskau erteilt daraufhin den noch kämpfenden Überresten der Kaliningrader Garnison den Kapitulationsbefehl und der Außenminister leitet Waffenstillstandsverhandlungen mit der NATO ein. Belarus hat sich schon Tage zuvor für neutral erklärt und hält sich aus dem Konflikt heraus, nachdem es finanzielle Zusagen einiger NATO-Staaten erhalten hatte, um seine Wirtschaft zu beleben. Demgegenüber war die Aussicht, daß das eigene Land zum Gefechtsfeld werden könnte, für die Regierung in Minsk höchst unschön.



Soweit unser kleines Gedankenexperiment. Natürlich ein (hoffentlich) hypothetisches und aus heutiger Sicht (glücklicherweise) unwahrscheinliches Szenario - aber eben kein gänzlich unrealistisches! Man könnte sicher - wie gegen jedes Modell - manches dagegen einwenden, gerade in Detailfragen (z.B. hinsichtlich der Luftstreitkräfte). Dennoch sollte folgendes klargeworden sein:

Die osteuropäischen NATO-Staaten sind keineswegs so schwach, wehrlos und schutzbedürftig, wie oftmals behauptet wird. Die kombinierten Landstreitkräfte Estlands, Lettlands und Litauens entsprechen in ihrer Friedensstärke in etwa denjenigen, über die Rußland in dieser Region verfügt; von der formidablen Armee der Republik Polen ganz zu schweigen. Und die Heranführung von Truppen aus der Tiefe des russischen Raumes würde im Zweifelsfall von den Kampffliegern und Raketen der NATO entweder vollständig unterbunden oder zumindest stark erschwert werden. Mithin darf eine Invasion des Baltikums durch die RF nicht nur aus den anfangs skizzierten politischen und kulturellen Erwägungen, sondern auch aus militärischen Gründen als extremst unwahrscheinlich gelten. (Dasselbe gilt übrigens für eine Invasion in Finnland.)

Sie wäre bei einer realistischen Betrachtung zumindest nicht wahrscheinlicher als der umgekehrte Fall, der im obigen Gedankenexperiment durchgespielt wurde - daß es also zu einem begrenzten Feldzug der NATO (oder von Teilen des Bündnisses) gegen außenliegende Teile des rußländischen Staatsgebietes käme. Konventionelle Kriege sind auch gegen eine Atommacht führbar. Dies entspricht gewiß nicht den Absichten aller Mitgliedsstaaten der NATO. Dennoch vermehrt die Ausbreitung dieses Militär-Bündnisses nach Osten - verbunden mit der aggressiven und feindseligen Rhetorik, wie sie regelmäßig in Polen, dem Baltikum und Tschechien gepflegt wird - entsprechende Besorgnisse in Rußland. Und diese Befürchtungen sind, wie wir gesehen haben, auch aus reiner streng militärischen Perspektive keineswegs abwegig oder gar irrational.

Schließlich hat die NATO vor elf Jahren einen Angriffkrieg gegen Jugoslawien geführt, der nicht nur mit massiven konventionellen Luftschlägen und ohne Kriegserklärung begonnen hat, sondern außerdem schon dem Grunde nach völkerrechtswidrig war. Erstens fehlte die Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates (vgl. Art. 24 u. 42 UN-Charta). Zweitens trägt die angeführte Begründung der "humanitären Intervention" nicht, denn zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns haben die behaupteten ethnischen Säuberungen nicht stattgefunden. Der für eine solche Intervention notwendige Tatbestand lag folglich nicht vor, selbst wenn man humanitäre Interventionen grundsätzlich für zulässig hielte.
Im Kosovokrieg ging es - ebenso wie im obigen Fallbeispiel - um das Herausbrechen einer Region (hier: des Kosovo) aus einem funktionierenden Staatswesen. Es war ebendieser Konflikt, der in Rußland zu einem abrupten Ende der idealistischen und sorglosen Außen- und Sicherheitspolitik geführt hat, wie sie während der 1990er Jahre praktiziert worden war. Komisch, daß man das im "erfolgreichsten Militärbündnis der Weltgeschichte" bisweilen nicht wahrhaben will.



Abschließend möchte ich dem geneigten Leser folgende Texte zur Vertiefung empfehlen:

W. Sliptschenko: Analyse der Militärkampagne der NATO gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999

F. Preiß: Russland baut die Streitkräfte um und sucht den Schulterschluss mit Belarus (PDF)

F. Preiß: Iskanderschock - Die NATO im Visier Russlands (PDF)

RIAN: Russlands Luftabwehr liegt in Trümmern

RIAN: Militärexperte: Russlands Heer angeschlagen, Atomwaffen nutzlos

A. Chramtschichin: Tschetyrje wektora rossijskoj oboronoj



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Karte: map.primorye.ru; Fotos: www.kam.lt, www.mod.gov.ee.