Dienstag, 15. Juni 2010

Kein Luftzwischenfall über der Ostsee


Im Herbst 2009 haben einige deutsche Medien über einen Luftzwischenfall über der Ostsee berichtet, an dem deutsche und russische Militärmaschinen beteiligt gewesen sind. Leider sind diese Berichte damals an mir vorübergegangen, weshalb ich erst heute darauf zurückkomme. Die Quelle der Informationen war ein Bericht der Reservistenzeitschrift Loyal, der später von einigen anderen Medien aufgegriffen wurde:
"[...]

Die Bundeswehr bestätigt einen Luftzwischenfall über dem Baltikum: Deutsche Abfangjäger stellen vor Estland ein russisches Radar-Führungsflugzeug, daraufhin greifen russische Kampfjets ein. Finnische Jagdflugzeuge kommen den Deutschen zur Hilfe.

Über Zwischenfälle ist bislang geschwiegen worden. Jetzt aber wurde durch eine Reportage in der Militärzeitschrift "Loyal" bekannt, dass zwei deutsche Eurofighter am 15. September im äußersten Nordwesten Estlands an der Ostseeküste einen russischen Radaraufklärer vom Typ Beriew Be-50 abgefangen haben.

[...]

Die Beriew A-50 auf der Basis des Iljuschin-Transporters Il-76 (die Nato bezeichnet sie mit dem Code "Mainstay") hat 15 Mann Besatzung und dient in der russischen Luftwaffe als Radar-Frühwarnflugzeug und fliegende Leitstelle für bis zu zehn Kampfflugzeuge.

So soll der Zwischenfall abgelaufen sein: Die Eurofighter des Jagdgeschwaders 74 aus dem bayerischen Neuburg/Donau nähern sich der unbekannten Maschine und versuchen vergeblich, mit ihr Funkkontakt aufzunehmen. Dann fotografiert ein deutscher Pilot die russische Militärmaschine. Überraschend rasen zwei russische Kampfflugzeuge vom Typ Sukhoi Su-27 (Nato-Code: Flanker) mit Überschallgeschwindigkeit auf die Eurofighter zu. Schüsse fallen nicht.

Die drei russischen und zwei deutschen Jets haben inzwischen über der Ostsee finnischen Luftraum erreicht. Alarmierte finnische F-18-Düsenjäger drängen die Russen ab und eskortieren sie zurück in den internationalen Luftraum.

Ein Sprecher der Luftwaffe in Köln bestätigte gestern auf Anfrage unserer Zeitung, dass es bereits zwei Zwischenfälle gegeben hat, in denen die deutschen Eurofighter über dem Baltikum "eine Sicht-Identifikation unbekannter Luftfahrzeuge" hätten durchführen müssen.

[...]"


Was geschah tatsächlich am 15.09.2009?

Das scheint starker Tobak zu sein und die Kommentare sind entsprechend: Der "russische Bär" läßt seine Muskeln spielen und versucht, die "armen, freiheitsliebenden Balten" einzuschüchtern. Doch was sind, jenseits aller Rhetorik und Emotionen, die gesicherten Fakten dieses Ereignisses?

1. Ein russisches Radarflugzeug fliegt über der Ostsee (wahrscheinlich auf der Route zwischen St. Petersburg und der Exklave Kaliningrad) im internationalen Luftraum.
2. Die Luftraumüberwacher der NATO stellen mittels ihrer Radargeräte eine Annäherung (aber kein Eindringen!) der Maschine an den estnischen Luftraum fest.
3. Zwei deutsche Eurofighter-Piloten der Mission Air Policing Baltikum steigen auf, um sich dieses Flugzeug einmal anzusehen.
4. Sie erreichen die über der Ostsee fliegende Maschine und fotografieren sie (s.o.).

Die im Artikel präsentierte Version, die fünf Maschinen hätten den finnischen Luftraum verletzt, woraufhin finnische Jäger den Deutschen zu Hilfe gekommen seien, um "die Russen rauszuschmeißen", dürfte jedenfalls nicht der Wahrheit entsprechen. Auf der Webseite des finnischen Verteidigungsministeriums findet sich kein Hinweis auf diesen Vorfall - obwohl man dort, immerhin ist Finnland neutral, peinlich genau auf die Wahrung seiner Hoheitsrechte achtet, wie diese Meldung über eine mögliche Luftraumverletzung durch ein US-Flugzeug am 08.06.2010 belegt. Auch das finnische Außenministerium hat sich nicht zu den angeblich dramatischen Ereignissen im September 2009 geäußert; statt dessen findet man auf dessen Webseite nachrangige Erklärungen über Fragen der Entwicklungshilfe.

Die Quintessenz ist, daß es keinen Luftzwischenfall in dem Sinne gegeben hat, wie uns Loyal & Co. glauben machen wollen. Denn ein Eindringen in den estnischen Luftraum lag nicht vor und wird von amtlicher Seite auch nicht behauptet:
"[...]

Ein Nato-Sprecher wollte die Zwischenfälle über dem Baltikum gestern ausdrücklich nicht als bewusste Provokation werten: "Es ist sehr schwierig, Landesgrenzen klar aus der Luft zu bestimmen." Drohe deren Verletzung durch fremde Flugzeuge, würden die Abfangjäger vorsichtshalber "Flagge zeigen". Anderen Quellen zufolge soll die Beriew "unmittelbar an der estnischen Grenze entlang" geflogen sein. Ob sie das Hoheitsgebiet dabei verletzt hat, ist demnach ungeklärt.

[...]"
Damit könnte die Story eigentlich zu den Akten gelegt werden. Da keine Verletzung des estnischen Luftraums durch russische Maschinen gegeben war, war auch kein riskantes Abfangmanöver erforderlich.

Hätte tatsächlich eine Luftraumverletzung stattgefunden, so hätte Tallin mit Sicherheit eine geharnischte Protestnote nach Moskau geschickt. Doch auf der Webseite des estnischen Außenministeriums ist nichts dergleichen zu finden. Auch das estnische Verteidigungsministerium erwähnt den "Vorfall" mit keiner Silbe.
Ein dritter Gegencheck der deutschen Medienberichte in Form einer Suche durch die Webseiten maßgeblicher russischer Medien förderte ebenfalls keinerlei Informationen über den angeblichen Luftzwischenfall zu Tage, obwohl Moskau keinen Grund hätte, zu schweigen, wenn seine in internationalem Luftraum fliegenden Maschinen von Jagdflugzeugen fremder Staaten bedrängt würden.

Wir halten fest: Drei der vier angeblich in diesen Vorfall involvierten Staaten - Estland, Finnland und Rußland - sehen keinen Anlaß, sich öffentlich zu den vermeintlich dramatischen Ereignissen zu äußern, obwohl gerade die estnische Regierung sonst schnell mit lautstarken Anschuldigungen gegen Rußland bei der Hand ist. Doch nicht einmal die deutsche Bundeswehr läßt sich offiziell zu dem "Zwischenfall" ein - und damit wird die Angelegenheit immer mysteriöser. Jedenfalls findet sich auf der Luftwaffenwebseite kein Hinweis darauf.
Nun könnte man einwenden, daß sich zumindest die NATO laut dem oben zitierten Zeitungsartikel geäußert habe. Fraglich ist nur, was der NATO-Sprecher genau bestätigt hat. Seine Aussagen gehen nicht weiter, als ich soeben geschrieben habe: Es gab ein Zusammentreffen von deutschen und russischen Militärflugzeugen über der Ostsee. Mehr nicht.

Was bleibt also? Die (formal private) Reservistenzeitschrift Loyal publiziert einen effektheischenden Bericht über die angebliche Verletzung des estnischen Luftraums durch ein Flugzeug der Luftstreitkräfte der Rußländischen Föderation. Dieser wird wiederum von anderen Medien aufgegriffen und weiterverbreitet. (Viele seriöse Medien haben allerdings nichts gebracht!) Amtliche Verlautbarungen dazu gibt es jedoch von keinem der betroffenen Staaten. Lediglich Teile der deutschen Presse setzen unbewiesene Behauptungen in die Welt.
(Unbewiesen deshalb, weil ich davon ausgehe, daß es mithilfe der modernen Funkmeß- und Navigationstechnik ohne weiteres möglich wäre, stichhaltige und nachprüfbare Belege für die angeblichen Luftraumverletzungen vorzulegen. Dergleichen ist jedoch nicht geschehen.)

Fazit: Den behaupteten Luftzwischenfall hat es in dieser Form nicht gegeben. Ein russisches Flugzeug ist über der Ostsee in internationalem Luftraum geflogen und dabei von einem deutschen Eurofighter-Piloten fotografiert worden. Mehr gesicherte Fakten ließen sich nach gründlicher Recherche nicht finden - weder Belege für die beiden angeblichen Luftraumverletzungen, noch für den Beinahe-Luftkampf zwischen deutschen und russischen Flugzeugen, noch für das Zusammentreffen mit finnischen F-18-Jägern.

Mythen und Legenden

Aus den genannten Gründen ist alles, was darüber hinausgeht, als Presseente oder Propagandamärchen zu betrachten. Ich traue dem BMVg durchaus zu, auf dem Umweg über ein privates Magazin entsprechendes zu lancieren. Es paßt in die Zeit, daß man dem deutschen Michel wieder Angst vor dem "russischen Bären" machen muß, der "seine Pranke erhebt" und den "freien Westen" bedroht. Und da es keine handfesten Tatsachen gibt, die diese These unterstützen könnten, muß man sich eben etwas zusammenphantasieren - je dramatischer, desto eindrucksvoller ("Schüsse fallen nicht").

Deshalb wird auch mit Dreck geworfen, in der Hoffnung, daß schon irgend etwas an Rußland hängenbleiben werde. Zum Beispiel:
"[…]

Bereits Anfang September wurde ein Militärtransporter Antonow An-72 (Nato-Code: Coaler) über der Ostsee abgefangen, der sich im Funkverkehr als zivile Frachtmaschine ausgegeben hatte.

[…]"
Double standards at its best. Es ist allgemein bekannt, daß ein Teil der Transportmaschinen der russischen Armee über zivile Registrierungen verfügt. Dagegen ist auch aus völkerrechtlicher Sicht nichts einzuwenden. Zudem verwenden auch die deutschen und amerikanischen Streitkräfte zivile Frachtmaschinen. Es ist mithin absurd, wenn man nun so tut, als sei es ein Zeichen für die besondere Infamität der Russen, wenn sie ihre zivile Registrierung als Rufzeichen im Funkverkehr verwenden. Wie sollten sie sich sonst identifizieren? Solange keine Verletzung von Artikel 3 c) der ICAO-Konvention vorlag, gibt es keinen Grund zur Beschwerde.

Oder:
"[…]

Im April 2007 hatte die russische Luftwaffe ihre Erkundungsflüge aus den Zeiten des Kalten Krieges mit dem Scheinangriff eines Atombombers Tupolew Tu-142 auf Schottland wieder aufgenommen. Vermutlich wollten die Russen die Reaktionszeit der britischen Luftverteidigung testen. Seitdem fliegen mit Raketen und Bomben bewaffnete russische Flugzeuge regelmäßig weltweit in Nato-Regionen ein, was Präsident Wladimir Putin im August 2007 als Moskaus "notwendige Reaktion auf die wachsende militärische Bedrohung Russlands durch andere Länder" bezeichnete.

[…]"
Damit soll dem unbedarften Leser erneut suggeriert werden, daß es Verletzungen des Luftraumes von Mitgliedsstaaten der NATO durch russische Flugzeuge gegeben habe. Das war bei den als "Scheinangriffen" bezeichneten Übungsflügen jedoch niemals der Fall. Des weiteren muß man schon an einem gehörigen Maß von Schizophrenie leiden, um diese Flüge als Bedrohung für die NATO anzusehen, zumal bewaffnete NATO-Flugzeuge und -Schiffe ihre Patrouillen entlang der Staatsgrenze der RF nach dem Ende des Kalten Krieges zu keinem Zeitpunkt eingestellt hatten.

Geopolitische Aspekte

Richtig unangenehm werden dann jedoch die folgenden Vorwürfe, denn sie demonstrieren die Unfähigkeit deutscher Journalisten bei der Analyse geopolitischer Probleme:
"[…]

Deutsche Beobachter sprechen von "Nadelstichen": Moskau betrachtet die Region als sein Einflussgebiet, liegt im Streit vor allem mit Estland und ist verärgert darüber, dass es seine Exklave Kaliningrad zwischen Polen und Litauen nicht mehr direkt über den baltischen Luftraum anfliegen darf.

[…]"
Das ist krank! Einerseits dürfen russische Flugzeuge, wenn sie nach Kaliningrad fliegen, nicht den Luftraum der drei baltischen Republiken benutzen. Sie sind also gezwungen, über die Ostsee zu fliegen. Wenn sie dies jedoch tun, dann behauptet man in Bundeswehrkreisen wiederum, es handele sich um „Nadelstiche“, mit denen sich die Russen ihr angebliches Einflußgebiet erhalten wollten. Was denn nun? Soll die RF etwa den gesamten Luftverkehr mit Kaliningrad einstellen? (Hat man insofern vielleicht Hintergedanken?)

Ferner braucht es schon ein großes Maß an Unkenntnis der wahren Verhältnisse und/oder gewollter Einseitigkeit, um die Schuld für die politischen Dissonanzen im Baltikum - und mehr ist es nicht - Moskau zuzuweisen. Wer von den estnischen "Nadelstichen" etwa bei der Unterstützung tschetschenischer Terroristen oder der uneingeschränkten Solidarität der Balten mit Saakaschwilis Angriff gegen Südossetien nicht reden will, der sollte auch von russischen "Nadelstichen" besser schweigen.

Zusammenarbeit mit Rußland

Mithin überrascht es nicht, daß der genannte Zeitungsartikel seinen Lesern auch andere Facetten des größeren Bildes unterschlägt. Wahr ist, daß Rußland sämtliche Militärtransporte zwischen Kaliningrad und dem Kernland per Schiff oder Flugzeug abwickeln muß, da Estland, Lettland und Litauen die Benutzung etwa ihrer Schienenwege verweigern.

Wahr ist aber auch, daß der gesamte Nachschub des Bundeswehrkontingents in Afghanistan über Rußland läuft, sowohl per Eisenbahn als auch auf dem Luftweg. Und es genügt nicht, daß die RF diese Transporte gestattet, sie werden zum Teil auch mit russischen Transportflugzeugen durchgeführt, denn unsere glorreiche deutsche Luftwaffe ist bekanntlich unfähig, diese Aufgabe mit eigenen Kräften und Mitteln zu erledigen. Bei den meisten anderen NATO-Staaten, die sich in Afghanistan militärisch engagieren, sieht es ähnlich aus. Sogar die USA sind auf die Benutzung rußländischen Staatsgebietes angewiesen, seit ihnen der Boden in Pakistan zu heiß geworden ist.
Diese Form der militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und Rußland vollzieht sich seit Jahren nahezu lautlos. Und wenn etwas darüber an die Öffentlichkeit gedrungen ist, dann wurde nur bekannt, daß es keine nennenswerten Probleme gibt.

Mithin kann festgehalten werden, daß die NATO einerseits von Rußland erwartet, ihre militärischen Güter über sein Staatsgebiet transportieren zu dürfen. Andererseits sind drei NATO-Staaten im Baltikum nicht bereit, im Gegenzug der RF dieselben Rechte für den Verkehr mit der Exklave Kaliningrad einzuräumen. Damit nicht genug, jetzt werden sogar schon jene militärischen Flugbewegungen, die sich aufgrund der beschriebenen Situation zwangsläufig im internationalen Luftraum über der Ostsee abspielen müssen, als Ausdruck von Großmannssucht und Provokation gegen die NATO gewertet.

Resümee

Ich möchte an dieser Stelle nicht über mögliche Motive für die Produktion dieser Propagandalegende spekulieren. Unstrittig dürfte allerdings sein, daß sie hervorragend zum seit etwa drei Jahren virulenten Topos des "Neuen kalten Krieges" paßt, an dessen weiterer Abkühlung und Verschärfung einige (vornehmlich osteuropäische) NATO-Mitglieder kräftig arbeiten. Der Effekt auf die bundeswehraffine und entsprechend vorgeprägte Leserschaft von Loyal dürfte entsprechend gewesen sein: Der Feind steht immer noch im Osten - so wie schon 1914, 1941 und 1955.
Freilich haben die Psychokrieger aus dem Bendlerblock eines vergessen: Ihre Glaubwürdigkeit geht bereits jetzt gegen Null. Im Jahre 1999 der berüchtigte Hufeisenplan, im Herbst 2009 der Luftangriff bei Kunduz, der angeblich keine zivilen Opfer gefordert hat und jetzt die Behauptung systematischer Luftraumverletzungen durch Rußland. Wer soll die Räuberpistolen des BMVg noch abnehmen?


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Foto: Bundeswehr/www.ngz-online.de; Karte: map.primorye.ru.

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