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Sonntag, 4. März 2012

"Rußland und die Welt im Wandel"


Am 27. Februar hat der Präsidentschaftskandidat Wladimir Putin in der Tageszeitung Moskowskije Nowostij einen weiteren programmatischen Aufsatz veröffentlicht, in dem er für seine potentiellen Wähler Fragen der internationalen Politik erörtert. "Rußland und die Welt im Wandel" ist ein weiterer interessanter Text, vom dem die Nachrichtenagentur RIA Nowosti auch eine deutsche Übersetzung angefertigt hat. Diese wird nachfolgend auszugsweise wiedergegeben; auf der Webseite der Agentur finden sich des weiteren Kommentare rußländischer und ausländischer Beobachter zu diesem Aufsatz. Inhaltlich geht es nicht nur um die Grundlinien der Außenpolitik der RF, sondern u.a. auch um den aktuellen Konflikt in Syrien und um das Verhältnis zur EU, den USA und China.
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In meinen früheren Artikeln habe ich bereits die wichtigsten äußeren Herausforderungen erwähnt, mit denen Russland es derzeit zu tun hat. Dennoch ist dieses Thema eines detaillierteren Gesprächs wert, und zwar nicht nur weil die Außenpolitik ein unentbehrlicher Teil der Strategie eines jeden Staates ist. Die äußeren Gefahren, die sich wandelnde Welt zwingen uns, gewisse Entscheidungen in Wirtschaft und Kultur, im Haushalts- und Investitionsbereich zu treffen.

Russland ist ein Teil der großen Welt – aus wirtschaftlicher Sicht, im Sinne der Informationsverbreitung, im Kontext der Kultur. Wir können und wollen uns nicht von der großen Welt isolieren. Wir rechnen damit, dass unsere Offenheit die russischen Bürger finanziell und kulturell bereichert und außerdem das Vertrauen festigt, an dem es in letzter Zeit immer mehr mangelt. Wir werden aber konsequent von unseren Interessen und Zielen ausgehen und keineswegs von Entscheidungen, die uns irgendjemand aufzwingt. Russland wird nur dann mit Respekt wahrgenommen und berücksichtigt, wenn es stark ist und fest auf den Beinen steht. Russland hatte immer das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik auszuüben. Das wird auch weiter so sein. Mehr noch: Ich bin fest davon überzeugt, dass die Sicherheit in der Welt nur unter Beteiligung Russlands garantiert werden kann, ohne dass man versucht, Russland ins Abseits zu drängen, seine geopolitischen Positionen zu schwächen und seine Verteidigungsfähigkeit zu beschneiden.

Die Ziele unserer Außenpolitik sind strategisch, unabhängig von der Konjunktur und spiegeln den einmaligen Platz Russlands auf der politischen Weltkarte wider, seine Rolle in der Geschichte und in der Entwicklung der Zivilisation.

Wir gehen zweifelsohne auch weiterhin unseren aktiven und konstruktiven Weg zur Festigung der allgemeinen Sicherheit, zum Verzicht auf Konfrontationen, zur effektiven Bekämpfung von Herausforderungen wie der Verbreitung von Atomwaffen, regionalen Konflikten und Krisen, dem Terrorismus und der Drogengefahr. Wir tun unser Bestes, um Russland mit den jüngsten Errungenschaften des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu versorgen und unseren Unternehmern einen würdigen Platz auf dem globalen Markt zu sichern.

Wir streben an, dass die Gestaltung einer neuen Weltordnung, die sich auf die aktuelle geopolitische Realität stützt, konsequent und ohne unnötige Erschütterungen erfolgt.

Wer das Vertrauen untergräbt

Ich denke nach wie vor, dass die Sicherheit aller Länder der Welt unteilbar und hypertrophe Gewaltanwendung unzulässig ist und dass die grundlegenden Völkerrechtsnormen von allen strikt befolgt werden sollten. Eine Vernachlässigung dieser Prinzipien führt zu einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen.
Durch eben dieses Prisma betrachten wir einige Aspekte des Verhaltens der USA und der Nato, die der heutigen Entwicklungslogik widersprechen und sich auf Stereotype aus dem Blockdenken stützen. Alle verstehen, was ich damit meine: die Nato-Erweiterung, die die Errichtung von neuen Objekten der Militärinfrastruktur einschließt, und die von den USA inspirierten Pläne der Allianz zur Aufstellung der europäischen Raketenabwehr. Ich hätte dieses Thema nicht erwähnt, wenn solche Spielchen nicht unmittelbar an den russischen Grenzen geführt, wenn sie unsere Sicherheit und die Stabilität auf der Welt nicht gefährden würden.

Unsere Argumente sind allgemein bekannt, ich will sie auch nicht schon wieder durchkauen, aber leider sind unsere westlichen Partner dafür nicht aufnahmefähig und schieben sie von sich.

Uns bereitet es Sorgen, dass die Nato mit ihren jüngsten Aktivitäten unser gegenseitiges Vertrauen verletzt, obwohl sich die Umrisse unserer „neuen“ Beziehungen mit der Allianz noch nicht einmal endgültig geformt haben. Ein derartiges Vorgehen wirkt sich wie ein Querschläger auf die Erfüllung von globalen Aufgaben aus und hindert die Festigung einer positiven Agenda der internationalen Beziehungen, bremst ihre konstruktive Entwicklung.

Die zahlreichen bewaffneten Konflikte, die in jüngster Zeit ausgebrochen sind und die durch humanitäre Ziele gerechtfertigt werden, verletzt das seit Jahrhunderten heilige Prinzip der staatlichen Souveränität. In den internationalen Beziehungen entsteht ein neues Vakuum – ein moralisch-rechtliches.

Man sagt oft, die Menschenrechte hätten Vorrang gegenüber der staatlichen Souveränität. Das stimmt zweifelsohne – jegliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen von internationalen Gerichten geahndet werden. Wenn aber unter solchen Vorwänden die staatliche Souveränität einfach verletzt wird, wenn die Menschenrechte von äußeren Kräften selektiv beschützt werden, wenn bei der „Verteidigung der Menschenrechte“ die Rechte von vielen anderen Menschen verletzt werden, darunter das allerwichtigste und heilige Recht auf Leben, dann handelt es sich nicht um eine edle Sache, sondern um ganz einfache Demagogie.

Wichtig ist, dass die UNO und ihr Sicherheitsrat dem Diktat seitens einiger Länder und der Willkür in der Weltgemeinschaft effektiv entgegentreten können. Niemand darf sich UN-Vollmachten aneignen, besonders wenn es um die Gewaltanwendung gegenüber souveränen Staaten geht. Vor allem gilt das für die Nato, die für eine „Verteidigungsallianz“ untypische Funktionen ausüben will. All das ist mehr als ernsthaft. Wir wissen noch zu gut, wie Staaten, die Opfer der „humanitären“ Einsätze und des Exports der „Raketen- und Bomben-Demokratie“ geworden sind, vergebens zu Völkerrechtsnormen und trivialen menschlichen Anstand aufgerufen hatten.

Es sieht so aus, als würden die Nato-Länder und vor allem die USA eine eigenartige Vorstellung von Sicherheit haben, die sich von unserer grundsätzlich unterscheidet. Die Amerikaner sind von der Idee besessen, sich die absolute Unantastbarkeit zu sichern, was allerdings utopisch und unerfüllbar ist – sowohl aus technologischer als auch aus geopolitischer Sicht. Das ist der Kern des Problems.

Die absolute Unantastbarkeit eines Landes würde die absolute Verletzbarkeit aller anderen bedeuten. Eine solche Perspektive wäre inakzeptabel. Eine andere Sache ist, dass viele Länder aus allgemein bekannten Gründen darüber nicht direkt reden wollen. Russland wird aber immer das Kind offen beim Namen nennen. Ich betone erneut, dass die Verletzung des Prinzips der Einheit und Unteilbarkeit der Sicherheit - besonders trotz öfter deklarierter Treue zu diesem Prinzip - immer große Gefahren verursachen kann. Letztendlich wäre das auch für Staaten gefährlich, die solche Verletzungen aus verschiedenen Gründen initiieren.

„Arabischer Frühling“: Lehren und Schlüsse

Vor einem Jahr hat die Welt ein neues Phänomen kennengelernt: Den fast zeitgleichen Ausbruch von Protesten gegen die autoritären Regimes in vielen arabischen Ländern. Ursprünglich wurde der „Arabische Frühling“ mit der Hoffnung auf positive Wandlungen wahrgenommen. Die Sympathien der Russen gehörten den Kräften, die demokratische Reformen forderten.

Bald wurde aber klar, dass sich die Situation in vielen Ländern nach einem nicht gerade zivilisierten Szenario entwickelte. Statt der Festigung der Demokratie und der Verteidigung der Rechte der Minderheit kam es zu Machtstürzen, wobei die Dominanz der einen Kräfte durch eine noch aggressivere Dominanz der anderen abgelöst wurde.

Die Situation verschlimmerte sich wegen der Einmischung von äußeren Kräften in diese inneren Konflikte, zumal diese Einmischung mit Gewaltanwendung verbunden war. Es kam sogar dazu, dass mehrere Länder unter dem Vorwand der Humanität ihre Luftstreitkräfte eingesetzt und das libysche Regime gestürzt haben. Der Höhepunkt waren die widerlichen TV-Bilder der nicht einmal mittelalterlichen, sondern sogar archaisch wirkenden Tötung Muammar Gaddafis.

Es ist unzulässig, dass sich das „libysche Szenario“ nun auch in Syrien wiederholt. Die Weltgemeinschaft sollte sich vor allem um eine innere Aussöhnung in Syrien bemühen. Die Gewalt sollte möglichst schnell unterbunden werden, von wo auch immer sie kommen mag. In Syrien sollte endlich ein nationaler Dialog beginnen – ohne jegliche Vorbedingungen, ohne internationale Intervention und unter Berücksichtigung der Souveränität dieses Landes. Dadurch würden Voraussetzungen dafür entstehen, dass die von der syrischen Führung verkündeten Maßnahmen zur Demokratisierung tatsächlich in Erfüllung gehen. Das Wichtigste ist, einen großen Bürgerkrieg zu verhindern. Daran wird die russische Diplomatie immer arbeiten.

Wir haben aus den traurigen Erfahrungen der letzten Zeit gelernt und sind gegen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die als Signal zu einer militärischen Einmischung in die innenpolitischen Prozesse Syriens gedeutet werden könnten. Das ist die prinzipielle Position Russlands, das neben China Anfang Februar eine doppelsinnige Resolution blockiert hat, die in Wahrheit Gewaltaktionen einer der Konfliktseiten stimulieren würde.

In diesem Zusammenhang und angesichts der fast schon hysterischen Reaktion auf das russisch-chinesische Veto im Weltsicherheitsrat warne ich unsere westlichen Kollegen abermals vor dem Versuch, zu dem bereits erprobten Schema zu greifen: Hat der UN-Sicherheitsrat dieser oder jener Aktion zugestimmt – dann ist das gut, wenn nicht, dann bilden wir eine Koalition der interessierten Staaten und schlagen zu.

Die Logik eines solchen Verhaltens ist unproduktiv und sehr gefährlich. Sie kann nur böse Folgen haben. Jedenfalls wird dadurch die Regelung der Situation innerhalb eines von einem Konflikt betroffenen Landes behindert. Noch schlimmer ist aber, dass dadurch das Gleichgewicht des internationalen Sicherheitssystems gestört und die Autorität und die zentrale Rolle der Uno verletzt werden. Nicht zu vergessen ist, dass das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat keine Kapriole ist, sondern ein unentbehrlicher Teil der Weltordnung, die in der Uno-Charta festgeschrieben ist – auf Initiative der USA wohlgemerkt. Der Sinn des Vetorechts besteht darin, dass die Entscheidungen, gegen die ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats auftritt, nicht begründet und wirksam sein können.

Ich rechne damit, dass die USA und andere Länder die traurigen Erfahrungen berücksichtigen und auf ein gewaltsames Szenario in Syrien ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats verzichten. Ich kann eigentlich nicht nachvollziehen, warum diese Länder so aggressiv vorgehen und nicht die Geduld haben, gemeinsam einen ausbalancierten und sicheren Ausweg zu finden, zumal ein solcher sich angesichts der erwähnten Syrien-Resolution bereits nahezu abgezeichnet hätte. Man müsste nur dasselbe von der bewaffneten Opposition verlangen wie von den Regierungskräften – darunter den Abzug der bewaffneten Verbände aus den Städten. Der Verzicht darauf war zynisch. Wenn wir die friedlichen Einwohner beschützen wollen (für Russland ist das das allerwichtigste Ziel), dann sollten alle Teilnehmer der bewaffneten Konfrontation zur Ordnung gerufen werden.

Und es gibt noch einen Aspekt: Es ist nun einmal so geschehen, dass die russischen Unternehmen in allen vom „arabischen Frühling“ betroffenen Ländern, wie auch früher im Irak, ihre vor Jahrzehnten errungenen Positionen und damit große Aufträge verlieren. Die dadurch entstandenen Lücken schließen Unternehmen aus den Ländern, die sich am Sturz der alten Regimes beteiligt haben.
Es entsteht manchmal der Eindruck, dass die tragischen Ereignisse nicht nur durch die Sorge um die Menschenrechte, sondern durch das Interesse gewisser Kräfte an einer Umverteilung der dortigen Märkte bedingt waren. Egal wie, aber wir können uns so etwas nicht gefallen lassen. Wir wollen mit den neuen Regierungen in den arabischen Ländern aktiv zusammenarbeiten, um unsere Wirtschaftspositionen baldmöglichst zurückzugewinnen.

Im Allgemeinen kann man aus den Ereignissen in der arabischen Welt einiges lernen. Sie zeigen nämlich, dass ein gewaltsames Aufdrängen der Demokratie überraschende Ergebnisse bringen kann. Es entstehen Kräfte, darunter religiöse Extremisten, die den Entwicklungskurs ihrer Länder, darunter ihre säkulare Staatsform, ändern wollen.

Russland pflegte immer gute Kontakte mit den Anhängern des Islam, deren Lebensansichten den Traditionen der russischen Muslime ähnlich sind. Wir sind bereit, diese Kontakte auch unter den neuen Bedingungen auszubauen. Wir sind an einer Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit allen arabischen Ländern interessiert, darunter auch mit jenen, die sich von den internen Erschütterungen erst noch erholen. Noch mehr als das: Ich sehe gute Voraussetzungen dafür, dass Russland seine führenden Positionen im Nahen Osten behält, wo wir immer viele Freunde hatten.

Was den arabisch-israelischen Konflikt angeht, so wurde immer noch kein „Wunderrezept“ zu seiner Regelung erfunden. Man darf jedoch nicht aufgeben. Angesichts unserer engen Kontakte mit der israelischen und auch der palästinensischen Führung wird die russische Diplomatie sowohl im bilateralen Format als auch im Rahmen des vermittelnden Nahost-Quartetts die Wiederaufnahme des Friedensprozesses anspornen und ihre Aktivitäten dabei mit der Arabischen Liga koordinieren.

Der „arabische Frühling“ hat außerdem deutlich gezeigt, dass die öffentliche Meinung der Weltgemeinschaft heutzutage durch die aktive Verwendung der neuesten Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt wird. Das Internet, die sozialen Netzwerke, der Mobilfunk usw. haben sich neben dem Fernsehen als effizientes Instrument der Innen- und Außenpolitik etabliert. Das ist ein neuer Faktor, der berücksichtigt werden sollte; dazu gehört auch die Verringerung des Risikos seiner Verwendung durch Terroristen und Kriminelle, ohne die einzigartige Kommunikationsfreiheit im Internet einzuschränken.

Immer häufiger wird inzwischen der Begriff „Soft Power“ verwendet, der einen ganzen Komplex von Instrumenten und Methoden zur Erreichung von außenpolitischen Zielen bedeutet, allerdings ohne jeglichen Waffeneinsatz, sondern lediglich mithilfe von Informationstechnologien und anderen Hebeln der Einwirkung. Leider werden diese Methoden oft zur Förderung des Extremismus, Separatismus, Nationalismus und zur Manipulation der öffentlichen Meinung verwendet. Manchmal kommt es auch zu einer direkten Einmischung in die Innenpolitik von souveränen Staaten.

Man sollte einen klaren Unterschied zwischen der Redefreiheit und den normalen politischen Aktivitäten einerseits und der Verwendung von rechtswidrigen Instrumenten von „Soft Power“ machen. Die zivilisierte Arbeit von humanitären und wohltätigen Nichtregierungsorganisationen (NGO) ist immer willkommen, auch wenn sie Kritik an den Behörden üben. Aber die Aktivitäten von „Pseudo-NGO“ und anderen Strukturen, die unter Mitwirkung äußerer Kräfte die Situation in diesem oder jenem Land destabilisieren, sind inakzeptabel.

Die Rede ist von Fällen, wenn sich die NGOs nicht auf die Interessen und Ressourcen gewisser Sozialgruppen eines Landes stützen, sondern von äußeren Kräften finanziert und betreut werden. In der Welt gibt es viele „Einfluss-Agenten“ von Großstaaten, Bündnissen und Korporationen. Wenn sie offen agieren, ist das nur eine Form des zivilisierten Lobbyismus. Auch Russland hat Institutionen wie die Föderale Agentur für die Angelegenheiten der GUS und der im Ausland lebenden Landsleute (Rossotrudnitschestwo), die Stiftung „Russische Welt“ oder unsere führenden Universitäten, die nach begabten Studenten im Ausland suchen.

Russland nutzt aber nicht nationale NGOs anderer Länder aus und finanziert nicht diese NGOs sowie ausländische politische Organisationen zur Förderung seiner Interessen. Auch China, Indien und Brasilien tun so etwas nicht. Unseres Erachtens sollte die Innenpolitik und öffentliche Meinung in anderen Ländern ausschließlich offen beeinflusst werden. Dann werden die Teilnehmer dieser Kontakte maximal verantwortungsvoll handeln.

Neue Herausforderungen und Gefahren

Der Iran zieht zurzeit die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich. Russland ist selbstverständlich um die immer größer werdende Gefahr eines militärischen Schlags gegen dieses Land besorgt. Sollte es dazu kommen, dann würde das katastrophale Folgen haben, deren wahrer Umfang kaum vorstellbar wäre.

Ich bin überzeugt, dass das Problem ausschließlich auf friedlichem Wege gelöst werden sollte. Wir schlagen vor, das Recht des Iran auf die Entwicklung eines zivilen Atomprogramms, darunter auf die Urananreicherung, anzuerkennen. Dafür sollten seine Aktivitäten im Atombereich jedoch unter strenger und umfassender Kontrolle seitens der IAEA erfolgen. Wenn das funktioniert, dann sollten jegliche anti-iranische Sanktionen, darunter einseitige, aufgehoben werden. Der Westen neigt zuletzt allzu stark zur „Bestrafung“ einzelner Länder. Beim geringsten Anlass greift er zu seiner Sanktions- oder auch Militärkeule. Man sollte aber nicht vergessen, dass das 19. und sogar das 20. Jahrhundert schon lange vorbei sind.

Genauso ernsthaft ist die Situation um die nordkoreanische Atomfrage. Pjöngjang verletzt das Regime der Nonproliferation, spricht offen von seinen Ambitionen auf eigene Atomwaffen und hat mittlerweile zwei Atomtests durchgeführt. Nordkorea als Atomwaffenbesitzer wäre für uns inakzeptabel. Deshalb treten wir konsequent für den atomwaffenfreien Status der Korea-Halbinsel ein, verwenden dabei allerdings ausschließlich politische bzw. diplomatische Mittel und plädieren für die baldmöglichste Wiederaufnahme der entsprechenden Sechser-Verhandlungen.

Es sieht aber so aus, als würden nicht alle unseren Partner diese Position teilen. Meines Erachtens sollte man derzeit besonders vorsichtig vorgehen. Unzulässig wären jegliche Versuche, den neuen nordkoreanischen Machthaber unter Druck zu setzen, die ihn im Grunde zu unbedachten Gegenmaßnahmen provozieren würden.

Nicht zu übersehen ist, dass Russland und Nordkorea aneinander grenzen, und Nachbarn sucht man sich bekanntlich nicht aus. Wir werden unseren aktiven Dialog mit der Führung dieses Landes fortsetzen, unsere Kontakte im Sinne der guten Nachbarschaft pflegen und Pjöngjang zur Lösung seines Atomproblems überreden. Offensichtlich ist, dass wir es viel leichter hätten, wenn auf der Halbinsel gegenseitiges Vertrauen herrschen und der Dialog zwischen beiden Koreas weiter gehen würde.

Angesichts der Spannungen um der Atomprogramme Nordkoreas und des Irans komme ich manchmal auf den Gedanken, wie das Risiko der Atomwaffenverbreitung entsteht und wer dieses Risiko fördert. Ich habe den Eindruck, dass die zuletzt häufig gewordenen bewaffneten Einmischungen in die inneren Angelegenheiten einzelner Länder dieses oder jenes autoritären Regimes zum Atomwaffenbesitz provozieren könnten. Solche Herrscher könnten den Eindruck haben, dass sie sich nur mit einer Atombombe in Sicherheit wiegen und dass niemand es wagen würde, sie anzugreifen. Die Länder, die keine eigenen Atomwaffen haben, müssten sich aber auf „humanitäre“ Interventionen gefasst machen.

Egal ob uns das gefällt oder nicht, Tatsache ist, dass einige Länder wegen solcher Einmischungen von außerhalb auf solche Gedanken kommen. Deshalb entstehen immer neue „Schwellenländer“, die kurz vor der Entwicklung eigener Atomwaffen stehen. Unter solchen Bedingungen werden atomwaffenfreie Zonen, die in verschiedenen Teilen der Erde eingerichtet werden, immer wichtiger. Auf Russlands Initiative hat die Arbeit an der Bildung eines solchen Raums im Nahen Osten begonnen.

Wir sollten unser Bestes tun, dass niemand in die Versuchung kommt, eigene Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Zu diesem Zweck sollten aber auch die Bekämpfer der Waffenverbreitung sich umstellen, besonders jene von ihnen, die andere Länder unter Anwendung der Militärstärke bestrafen, ohne zu diplomatischen Mitteln zu greifen. So ist das beispielsweise im Irak passiert, dessen Probleme nach der nahezu zehnjährigen Okkupation nur noch größer wurden.

Wenn die Gründe für die Entwicklung von Atomwaffen endlich beseitigt werden, dann könnte das internationale Regime der Nonproliferation anhand der aktuellen Verträge wirklich universal und dingfest gemacht werden. Dank dieses Regimes könnten alle interessierten Länder vom „friedlichen Atom“ unter IAEA-Kontrolle maximal profitieren.
Für Russland wäre das sehr nützlich, weil wir auf dem internationalen Markt aktiv sind, neue Atomkraftwerke mit modernen und sicheren Technologien bauen und an der Entwicklung von multilateralen Urananreicherungszentren und Kernbrennstoffbanken teilnehmen.

Große Sorgen ruft die Zukunft Afghanistans hervor. Wir haben bekanntlich die Militäroperation zur internationalen Unterstützung dieses Landes befürwortet. Das internationale Militärkontingent unter der Schirmherrschaft der Nato hat seine Aufgaben jedoch nicht erfüllen können. Die aus Afghanistan stammende Terror- und Drogengefahr wird nicht geringer. Seitdem die Amerikaner ihren Abzug aus diesem Land im Jahr 2014 angekündigt haben, errichten sie dort und in den Nachbarländern Stützpunkte, deren Ziele und Vollmachten aber unklar sind. Unbekannt ist auch, wie lange sie dort bleiben sollen. Wir lassen uns so etwas selbstverständlich nicht gefallen.

Russlands Interessen in Afghanistan sind offensichtlich und eindeutig. Afghanistan ist nicht weit entfernt von Russland. Wir sind an einer stabilen und friedlichen Entwicklung dieses Landes interessiert. Am Wichtigsten ist, dass es nicht mehr das Ursprungsland der Drogengefahr sein wird. Der illegale Drogenhandel hat sich als eine der schlimmsten Gefahren etabliert, die den Genpool von ganzen Nationen vernichtet, eine günstige Basis für Korruption und Kriminalität bildet und die Destabilisierung der Situation unmittelbar in Afghanistan zur Folge hat. Nicht zu übersehen ist, dass die Drogenproduktion in Afghanistan nicht geringer wird, sondern im vergangenen Jahr sogar um fast 40 Prozent gewachsen ist. Russland ist mit einem Angriff des Heroins konfrontiert, das für die Gesundheit unserer Bürger sehr schädlich ist.

Wenn man den Umfang der afghanischen Drogengefahr bedenkt, kann man sie nur gemeinsam unter der Führung der UNO und der regionalen Organisationen wie OVKS, SOZ und GUS beseitigen. Wir sind bereit, die Operation zur Unterstützung des afghanischen Volkes maximal aktiv zu fördern – allerdings unter der Bedingung, dass das internationale Kontingent in Afghanistan intensiver vorgeht und Rücksicht auf unsere Interessen nimmt, indem es sich mit der physischen Vernichtung von Drogenanbauflächen und illegalen Drogenlaboren befasst.

Neben der Intensivierung der Anti-Drogen-Maßnahmen in Afghanistan sollten auch die Beförderung der Opiate auf die Außenmärkte, die Finanzierung des Drogenhandels und die Zulieferung von chemischen Stoffen für die Heroinproduktion zuverlässig blockiert werden. Das Ziel ist, ein umfassendes System der Anti-Drogen-Sicherheit in der Region zu errichten. Russland wird sein Bestes tun, um die Bemühungen der Weltgemeinschaft zu bündeln, damit im Kampf gegen die globale Drogengefahr endlich die Wende kommt.

Es ist schwer zu sagen, wie sich die Situation in Afghanistan weiter entwickelt. Die bisherigen Erfahrungen zeugen davon, dass die militärische Präsenz anderer Länder das Land nie zur Ruhe brachte. Nur die Afghanen selbst können ihre Probleme lösen. Russlands Rolle sehe ich darin, dem afghanischen Volk unter Mitwirkung der Nachbarländer bei der Entwicklung einer stabilen Wirtschaft zu helfen, die Widerstandsfähigkeit der afghanischen Streitkräfte im Kampf gegen den Terrorismus und Drogenhandel zu fördern. Wir haben nichts dagegen, dass am nationalen Aussöhnungsprozess auch die Mitglieder der bewaffneten Opposition, darunter die Taliban, teilnehmen – allerdings unter der Bedingung, dass sie auf die Gewaltanwendung verzichten, das Grundgesetz des Landes akzeptieren, ihre Kontakte mit der Al Qaida und anderen terroristischen Gruppierungen einstellen. Im Prinzip glaube ich, dass die Bildung eines friedlichen, stabilen, unabhängigen und neutralen afghanischen Staats durchaus erreichbar ist.

Die vor Jahren und Jahrzehnten eingefrorene Instabilität schafft eine günstige Umgebung für den internationalen Terrorismus. Alle räumen ein, dass er eine der gefährlichsten Herausforderungen an die Weltgemeinschaft darstellt. Nicht zu übersehen ist, dass die Krisenzonen, wo die terroristische Gefahr entsteht, in der Nähe der russischen Grenzen liegen – viel näher als von unseren europäischen und amerikanischen Partnern.

In der UNO wurde eine globale Anti-Terror-Strategie vereinbart, doch es entsteht der Eindruck, dass der Kampf gegen dieses Übel nicht nach einem universalen Plan und nicht konsequent erfolgt, sondern nur als Reaktion auf die schlimmsten barbarischen Auswüchse des Terrors. Die zivilisierte Welt sollte nicht auf große Tragödien wie die Anschläge in New York im September 2001 oder auf ein neues Beslan (Massengeiselnahme im September 2004) warten, um sich erst dann zusammenzureißen und entschlossen zu handeln.

Ich will die bisherigen Erfolge im Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht negieren. Erfolge gab es natürlich auch. So wurde die Kooperation zwischen den Geheimdiensten und Rechtsschutzorganen verschiedener Länder in den letzten Jahren viel aktiver. Offensichtlich ist aber auch, dass die Anti-Terror-Kooperation noch viele Reserven hat. Ich muss auch feststellen, dass es in der Welt immer noch „Doppelstandards“ gibt, so dass Terroristen in verschiedenen Ländern unterschiedlich wahrgenommen werden – als „schlimme“ und „nicht besonders schlimme“. Letztere werden von manchen Kräften in ihrem politischen Spiel eingesetzt, darunter bei der Destabilisierung von unliebsam gewordenen politischen Regimen.

Bei der Vorbeugung des Terrorismus sollten alle Gesellschaftsinstitutionen wie Massenmedien, religiöse Vereinigungen, Nichtregierungsorganisationen, das Bildungs- und Forschungswesen und die Unternehmenskreise zum Einsatz kommen. Erforderlich ist ein Dialog zwischen verschiedenen Konfessionen oder sogar zwischen verschiedenen Zivilisationen, wenn wir die Sache noch umfassender betrachten. Russland ist ein multikonfessioneller Staat, wir hatten nie religiöse Kriege. Wir könnten unseren Beitrag zur internationalen Diskussion zu diesem Thema leisten.

Ausbau der Rolle der Asiatisch-Pazifischen Region

An unser Land grenzt eines der wichtigsten Zentren der Weltwirtschaft – China. Es ist zum Trend geworden, über seine künftige Rolle in der globalen Wirtschaft und in internationalen Fragen zu diskutieren. Im vergangenen Jahr hat China nach dem BIP-Umfang den zweiten Platz in der Welt belegt. Nach Schätzungen von internationalen, darunter US-Experten, wird China in der nächsten Zukunft die USA bei dieser Kennzahl überholen. Auch Chinas allgemeine Stärke steigt, die auch in anderen Regionen sichtbar ist.

Wie sollen wir uns angesichts des sich dynamisch entwickelnden China-Faktors verhalten? Erstens bin ich davon überzeugt, dass das Wachstum der chinesischen Wirtschaft keine Bedrohung, sondern eine Herausforderung ist, die ein riesiges Potential für unsere Wirtschaftskooperation hat. Es bietet sich die Chance, den „chinesischen Wind“ in die „Segel“ unserer Wirtschaft aufzufangen. Wir müssen intensiver neue Kooperationsverbindungen aufbauen, bei denen die technologischen und Produktionsmöglichkeiten unserer Länder gebündelt werden und das chinesische Potential zum Wirtschaftsaufschwung in Sibirien und im Fernen Osten genutzt (selbstverständlich vernünftig) wird.

Zweitens gibt China mit seinem Verhalten in der Weltgemeinschaft keinen Anlass, um über seine Ansprüche auf Dominanz sprechen zu können. Chinas Stimme wird tatsächlich immer stärker in der Welt. Wir begrüßen das, weil Peking unsere Vision der sich herausbildenden gleichberechtigten Weltordnung teilt. Wir werden uns in der Weltgemeinschaft weiter gegenseitig unterstützen, akute regionale und globale Fragen in der internationalen Arena gemeinsam lösen und das Zusammenwirken im UN-Sicherheitsrat, BRICS, SOZ, G-20 und anderen multilateralen Mechanismen stärken.

Drittens sind alle großen politischen Fragen bei den Beziehungen zu China bereits beantwortet worden, darunter die wichtigste – die Grenzfrage. Es wurde ein festes Verfahren der gegenseitigen Beziehungen geschaffen, begleitet von rechtlich verpflichtenden Dokumenten. Zwischen den Führungen der beiden Länder wurde ein präzedenzlos hohes Niveau des Vertrauens erreicht. Das ermöglicht sowohl Russland als auch China, im Geiste einer wahren Partnerschaft vorzugehen, gestützt auf Pragmatismus und mit Rücksicht auf die gegenseitigen Interessen.

Das Gesagte bedeutet natürlich nicht, dass mit China alles reibungslos verläuft. Es gibt auch Problempunkte. Unsere geschäftlichen Interessen in Drittländern stimmen nicht immer überein. Auch die sich herausbildende Struktur des Handelsumsatzes und das niedrige Niveau der gegenseitigen Investitionen passen uns nicht ganz.
Mein Hauptgedanke ist jedoch, dass Russland ein prosperierendes und stabiles China braucht. Ich bin auch davon überzeugt, dass China ein starkes und erfolgreiches Russland braucht.

Auch ein anderer asiatischer Riese – Indien – wächst sehr schnell. Russland unterhält mit Indien traditionell freundliche Beziehungen, deren Inhalt von der Führung beider Länder als eine besonders privilegierte strategische Partnerschaft angesehen wird. Von deren Stärkung werden nicht nur unsere Länder, sondern auch das sich herausbildende polyzentrische System in der Welt profitieren.

Vor unseren Augen verläuft nicht nur das Wachstum Chinas und Indiens, sondern auch die Stärkung der gesamten Asiatisch-Pazifischen Region. In diesem Zusammenhang eröffnen sich neue Horizonte für eine produktive Arbeit im Rahmen des russischen APEC-Vorsitzes. Im September werden wir den APEC-Gipfel in Wladiwostok ausrichten. Wir bereiten uns intensiv darauf vor, schaffen eine moderne Infrastruktur, was die weitere Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens fördern und unserem Land ermöglichen wird, sich an die dynamischen Integrationsprozesse im „neuen Asien“ anzuschließen.

Wir werden dem Zusammenwirken mit den BRICS-Partnern weiter vorrangige Bedeutung beimessen. Diese 2006 geschaffene einmalige Struktur symbolisiert am anschaulichsten den Übergang von einer monopolaren zu einer gerechteren Weltordnung. Sie vereint fünf Länder mit einer Bevölkerung von fast drei Milliarden Menschen, mit den größten Schwellenwirtschaften, enormen Arbeits- und Naturressourcen und sehr großen Binnenmärkten. Mit dem Anschluss Südafrikas kann von einem globalen Format der BRICS gesprochen werden. Heute entfallen auf die BRICS-Länder mehr als 25 Prozent des weltweiten BIP.

Wir gewöhnen uns noch an die neue Zusammensetzung und aneinander. Unter anderem muss eine engere Koordinierung in Bezug auf die Außenpolitik geschaffen und in der UNO enger zusammengearbeitet werden. Nachdem die BRICS wirklich das gezeigt haben, was sie können, wird ihr Einfluss auf die internationale Wirtschaft und die Politik wachsen.

In den letzten Jahren haben die russische Diplomatie und die Geschäftskreise mehr Aufmerksamkeit auf den Ausbau der Zusammenarbeit mit den Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas gelegt. In diesen Regionen ist die aufrichtige Sympathie gegenüber Russland immer noch stark. Eine der Schlüsselaufgaben in der kommenden Zeit ist die Stärkung der Handels-und Wirtschaftskooperation, die Umsetzung von gemeinsamen Projekten in Bereichen wie Energie, Infrastruktur, Investitionen, Wissenschaft und Technik, Bankwirtschaft und Tourismus.

Die wachsende Rolle der genannten Kontinente in einem sich herausbildenden System zur Steuerung der globalen Wirtschaft spiegelt sich wider in der Tätigkeit der G-20. Diese Vereinigung wird sich meines Erachtens in ein strategisch wichtiges Instrument nicht nur in Krisensituationen, sondern auch bei einer langfristigen Reform der weltweiten Finanz- und Wirtschaftsarchitektur sein. Russland wird 2013 den G-20-Vorsitz übernehmen. Wir müssen zweifellos alle Vorsitzfunktionen nutzen, um die Kooperation zwischen der G-20 und anderen multilateralen Strukturen zu stärken, vor allem mit der G-8 und natürlich mit der UNO.

Der Europäische Faktor

Russland ist ein unabdingbarer und organischer Teil des Großen Europas, der breiten europäischen Zivilisation. Unsere Bürger fühlen sich als Europäer. Uns ist es nicht gleichgültig, wie es dem vereinten Europa geht.

Deswegen schlägt Russland vor, sich zur Bildung eines einheitlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik zu bewegen. Diese Gemeinschaft wird von russischen Experten als „Europas Union“ bezeichnet, die die Möglichkeiten und Positionen Russlands bei seinem wirtschaftlichen Streben ins neue Asien stärken wird.

Vor dem Hintergrund der aufsteigenden China, Indien und anderer neuer Wirtschaften werden die Finanz- und Wirtschaftserschütterungen in Europa – der früheren Oase von Stabilität und Ordnung – genauestens beobachtet. Die von einer Krise betroffene Eurozone berührt auch Russlands Interessen – vor allem wegen der Tatsache, dass die EU ein wichtiger außenwirtschaftlicher und Handelspartner für uns ist. Es liegt auf der Hand, dass die Aussichten der ganzen globalen Wirtschaftsstruktur in bedeutendem Maße vom Zustand Europas abhängen.

Russland hat sich intensiv an die internationalen Maßnahmen zur Unterstützung der betroffenen europäischen Wirtschaften angeschlossen und nimmt kontinuierlich an der Ausarbeitung gemeinsamer Entscheidungen im IWF teil. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es auch in einigen Fällen um direkte Finanzhilfe gehen kann.

Zugleich bin ich der Meinung, dass das Problem durch äußere Finanzspritzen nur teilweise gelöst werden kann. Um die Situation völlig in Ordnung zu bringen sind energische systematische Maßnahmen erforderlich. Die europäischen Anführer haben die Aufgabe, große Reformen durchzuführen, die viele Finanz- und Wirtschaftsverfahren prinzipiell verändern und eine wirkliche Haushaltsdisziplin gewährleisten sollen. Wir sind an einer starken EU interessiert, wie sie beispielsweise von Deutschland und Frankreich gesehen wird. Wir sind an der Nutzung des großen Potenzials der Russland-EU-Partnerschaft interessiert.

Das heutige Niveau des Zusammenwirkens zwischen Russland und der EU entspricht jedoch nicht den globalen Herausforderungen, vor allem in Bezug auf die Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit unseres gemeinsamen Kontinents. Ich schlage erneut vor, an der Schaffung einer harmonischen Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok zu arbeiten und in der Zukunft die Bildung einer freien Handelszone und sogar fortgeschrittener Verfahren der Wirtschaftsintegration zu erreichen. Dann werden wir einen gemeinsamen kontinentalen Markt mit einem Wert von einigen Billionen Euro bekommen. Gibt es noch Zweifler, dass dies nicht toll ist und den Interessen der Russen und der Europäer entspricht?

Man soll sich auch Gedanken über eine engere Kooperation im Energiebereich machen – bis zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Energiekomplexes. Als wichtige Schritte können in diesem Bereich der Bau der Pipelines Nord Stream durch die Ostsee und South Stream durch das Schwarze Meer bezeichnet werden. Diese Projekte wurden von den Regierungen mehrerer Länder unterstützt. Große europäische Energieunternehmen beteiligen sich daran. Nach deren völligen Inbetriebnahme wird Europa ein sicheres und flexibles Gasversorgungssystem bekommen, das nicht von politischen Unwägbarkeiten abhängt. Dadurch wird ermöglicht, die Energiesicherheit des Kontinents nicht formal, sondern real zu stärken. Das ist vor allem angesichts der Tatsache aktuell, weil einige europäische Staaten beschlossen haben, die Nutzung der Atomenergie zu verringern oder auf sie gänzlich zu verzichten.

Um es direkt zu sagen: Das von der EU-Kommission lobbyierte „Dritte Energiepaket“, das auf die Verdrängung der russischen Integrationsunternehmen gerichtet ist, würde unsere Beziehungen kaum stärken. Angesichts der gestiegenen Instabilität der alternativen Lieferanten von Energieressourcen werden dadurch die Systemrisiken für die europäische Energie verschärft und potenzielle Investoren für neue Infrastrukturprojekte abgeschreckt. Bei meinen Gesprächen wird das „Paket“ von vielen europäischen Politikern kritisiert. Man sollte Mut fassen und diese Hürde auf dem Weg zur gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit entfernen.

Meines Erachtens ist eine wahre Partnerschaft zwischen Russland und der EU unmöglich, solange die Barrieren bleiben, die die menschlichen und wirtschaftlichen Kontakte hindern – vor allem das Visapflicht. Die Visa-Abschaffung würde ein starker Antrieb für eine reale Integration zwischen Russland und der EU sein. Sie könnte helfen, die Kultur- und Geschäftsverbindungen zu erweitern - vor allem zwischen den Mittelstands- und Kleinunternehmen. Dass die Gefahr einer Welle von russischen Wirtschaftsmigranten besteht, ist in den meisten Fällen eine Erfindung. In unserem Land gibt es für jeden Menschen genügend Möglichkeiten, seine Kräfte und Fähigkeiten anzuwenden. Diese Möglichkeiten wird es immer geben.
Im Dezember wurden mit der EU gemeinsame Schritte zur Visafreiheit vereinbart. Sie sollten ohne zu trödeln umgesetzt werden. Ich meine damit eine intensive Arbeit bei dieser Frage.

Russisch-amerikanische Angelegenheiten

In den letzten Jahren wurde viel für die Entwicklung der russisch-amerikanischen Beziehungen unternommen. Doch es wurde bislang nicht geschafft, die Frage über einen grundlegenden Wandel dieser Beziehungen zu lösen. Es gibt nach wie vor „Ebbe und Flut“. So eine Instabilität der Partnerschaft mit den USA ist anscheinend die Folge der bekannten Klischees und Phobien. Ein anschauliches Beispiel dafür ist, wie Russland im Kapitol wahrgenommen wird. Doch das größte Problem ist, dass ein gegenseitiger politischer Dialog und die Zusammenarbeit sich nicht auf eine feste Wirtschaftsbasis stützen. Der Handelsumsatz entspricht nicht dem Potenzial unserer Wirtschaften. Dasselbe betrifft die gegenseitigen Investitionen. Auf diese Weise ist kein Sicherungsnetz geschaffen worden, das unsere Beziehungen vor Konjunkturschwankungen schützen würde. Daran muss gearbeitet werden.

Die regelmäßigen Versuche der USA, sich mit der politischen Ingenieurskunst zu beschäftigen (darunter in den für Russland traditionell wichtigen Regionen und auch während der Wahlkampagnen in Russland), fördern nicht die Stärkung des gegenseitigen Verständnisses.

Ich sage erneut, dass die Idee der USA, das Raketenabwehrsystem in Europa auszubauen, bei uns berechtigte Befürchtungen auslöst. Warum beunruhigt dieses System uns mehr als die anderen? Es betrifft die nur bei Russland auf diesem Schauplatz vorhandenen Kräfte der strategischen nuklearen Abschreckung und verletzt das seit Jahrzehnten geprüfte militärische und politische Gleichgewicht.

Ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Raketenabwehr und den strategischen Offensivwaffen spiegelt sich in dem 2010 unterzeichneten START-Nachfolgevertrag wider. Der Vertrag ist in Kraft getreten und zeigt seine Wirkung. Das ist ein großer außenpolitischer Erfolg. Wir sind bereit, verschiedene Varianten davon zu erörtern, was unsere gemeinsame Tagesordnung in Bezug auf die Waffenkontrolle in der kommenden Zeit bilden könnte. Eine unverbrüchliche Regel müssen dabei das Interessengleichgewicht und der Verzicht auf Versuche sein, einseitige Vorteile durch Verhandlungen zu erreichen.

Ich hatte bereits dem damaligen Präsident George W. Bush bei einem Treffen in Kennebunkport 2007 eine Lösung der Raketenabwehr-Frage vorgeschlagen, die - falls sie angenommen worden wäre – den gewöhnlichen Charakter der russisch-amerikanischen Beziehungen geändert und die Situation in eine positive Richtung bewegt hätte. Wäre damals ein Durchbruch bei der Raketenabwehr erreicht worden, wären auch in anderen Bereichen die Schleusen für die Schaffung eines quantitativ neuen, fast eines Verbündeten-Modells der Zusammenarbeit geöffnet worden.

Doch das wurde nicht erreicht. Es wäre vielleicht nützlich gewesen, sich die Verhandlungen in Kennebunkport anzuhören. In den letzten Jahren wurden von der russischen Führung auch andere Versuche unternommen, eine Vereinbarung in Bezug auf die Raketenabwehr zu erreichen. Sie sind immer noch aktuell.
Jedenfalls wird die Suche nach Kompromissvarianten zur Lösung der Raketenabwehr-Frage nicht aufgegeben. Es sollte nicht soweit kommen, dass das US-System in einem Maße aufgebaut wird, dass Russland zu den angekündigten Gegenmaßnahmen greifen müsste.

Ich habe vor kurzem mit Henry Kissinger gesprochen. Wir treffen uns regelmäßig. Ich teile vollkommen die These dieses großen Profis darüber, dass ein enges und vertrauliches Zusammenwirken zwischen Moskau und Washington in den Zeiten internationaler Turbulenzen besonders gefragt ist.
Bei den Beziehungen zu den USA würden wir unter einer Bedingung bereit sein, tatsächlich weiter zu gehen - falls sich die Amerikaner tatsächlich an das Prinzip der gleichberechtigten und gegenseitig respektvollen Partnerschaft halten.

Wirtschaftsdiplomatie

Im Dezember ist der jahrelange Marathon bei Russlands WTO-Beitritt endlich zu Ende gegangen. Ich muss betonen, dass die Administration von Barack Obama sowie die Anführer vieler führenden europäischen Staaten das Erreichen von endgültigen Vereinbarungen im Endspurt gefördert haben.

Ich will offen sagen, dass man auf diesem langen und mühsamen Weg einige Male die Tür zugeworfen hätte und die Verhandlungen aufgeben wollte. Doch wir ließen uns nicht von den Emotionen beeinflussen. Im Ergebnis wurde ein für unser Land ziemlich günstiger Kompromiss erreicht. Es wurde geschafft, die Interessen der russischen Industrie- und Landwirtschaftsproduzenten mit Rücksicht auf die von außen kommende Steigerung des Wettbewerbs zu gewährleisten. Unsere Wirtschaftsoperatoren bekommen bedeutende zusätzliche Möglichkeiten für den Aufstieg auf den Weltmarkt und den zivilisierten Schutz ihrer Rechte dort. Gerade darin, und nicht an der Symbolik des russischen Beitritts zum Welthandelsklub besteht das größte Ergebnis.

Russland wird die WTO-Normen wie alle seine internationalen Verpflichtungen beachten. Ich rechne damit, dass unsere Partner ebenso fair und nach den Regeln spielen werden. Zugleich betone ich, dass die WTO-Prinzipien bereits in die Rechtsbasis des Einheitlichen Wirtschaftsraums Russlands, Weißrusslands und Kasachstans übertragen wurden.

Falls man analysiert, wie wir die russischen Wirtschaftsinteressen in der Welt fördern, wird klar, dass wir erst lernen, das systematisch und kontinuierlich zu machen. Es mangelt noch an der Fähigkeit (was viele westliche Partner schaffen), die für das heimische Business wichtigen Entscheidungen auf den außenwirtschaftlichen Plattformen zu lobbyieren.
Doch die Aufgaben in dieser Richtung sind mit Rücksicht auf die Prioritäten der Innovationsentwicklung des Landes, überaus wichtig – Russland die gleichberechtigten Positionen im modernen System der Weltwirtschaftsverhältnisse zu gewährleisten; die Risiken zu minimieren, die bei der Integration in die Weltwirtschaft entstehen, darunter im Zusammenhang mit dem erwähnten WTO-Beitritt und dem kommenden OECD-Beitritt.

Wir brauchen wie die Luft zum Atmen einen breiteren, nicht diskriminierenden Zugang zu den Außenmärkten. Bislang wird auf die russischen Wirtschaftsoperatoren im Ausland keine besondere Rücksicht genommen. Gegen sie werden einschränkende handelspolitische Maßnahmen getroffen und technische Barrieren errichtet, wodurch sie in eine weniger vorteilhafte Position als ihre Konkurrenten gestellt werden.

Ähnlich ist die Situation um die Investitionen bestellt. Wir versuchen, ausländisches Kapital in die russische Wirtschaft zu locken, öffnen die attraktivsten Branchen für sie und lassen sie zu den Leckerbissen, darunter im Brennstoff- und Energiekomplex. Unsere Investoren sind aber im Ausland nicht besonders willkommen und werden oft links liegen gelassen.
Beispiele gibt es genug. Beispielsweise die Geschichte mit dem deutschen Autokonzern Opel, der von den russischen Investoren nicht erworben werden konnte, obwohl dieser Deal von der deutschen Regierung gebilligt und von den deutschen Gewerkschaften positiv bewertet wurde. Oder die eklatanten Situationen, als die russische Wirtschaft, die große Investitionen in ausländische Beteiligungen getätigt hat, nicht die Rechte eines Investors bekommt. Dies geschieht häufig in Mittel- und Osteuropa.

Das bringt einen auf den Gedanken, dass die politisch-diplomatische Begleitung der Handlungen von russischen Unternehmern auf den Außenmärkten gestärkt und große sowie wichtige Unternehmensprojekte stärker unterstützt werden müssen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass Russland Gegenmaßnahmen in Bezug auf diejenigen treffen kann, die zu Methoden des unfairen Wettbewerbs greifen.
Die Regierung und die Unternehmensgruppen sollten ihre Anstrengungen in der außenwirtschaftlichen Richtung deutlicher koordinieren und die Interessen der russischen Wirtschaft beharrlicher fördern und ihm helfen, neue Märkte zu erschließen.

Ich will die Aufmerksamkeit noch auf einen bedeutenden Faktor lenken, der in vielerlei Hinsicht Russlands Platz und Rolle in der heutigen und künftigen internationalen politischen und wirtschaftlichen Situation bestimmt – das riesige Territorium unseres Landes. Zwar reicht es nicht ganz, ein Sechstel des Festlandes der Welt zu bedecken, doch die Russische Föderation ist der flächenmäßig größte Staat mit den meisten Bodenschätzen. Die Rede ist nicht nur von Öl und Gas, sondern auch von Wäldern, landwirtschaftlichen Anbauflächen, Süßwasservorräten.
Russlands Territorium ist also eine Quelle seiner potentiellen Stärke. Vorher waren die riesige Flächen vorwiegend ein Puffer vor äußeren Angriffen gewesen. Jetzt können sie bei einer richtigen Wirtschaftsstrategie eine wichtige Grundlage für die Erhöhung von deren Wettbewerbsfähigkeit werden.

Ich will auf den schnell wachsenden Mangel an Süßwasser in der Welt eingehen. Es ist voraussehbar, dass in nicht so ferner Zukunft ein geopolitischer Konkurrenzkampf um die Wasserressourcen und um die Möglichkeit beginnt, die wasserintensiven Waren herzustellen. Unser Land weiß, dass der zugefallene Reichtum sorgfältig und strategisch richtig genutzt werden muss.

Unterstützung der Landsleute und der russischen Kultur im Ausland

Der Respekt gegenüber dem eigenen Land wird auch dadurch bestimmt, wie es die Rechte seiner Bürger und Landsleute im Ausland schützen kann. Es ist wichtig, die Interessen von Millionen Landsleuten nicht zu vergessen, die im Ausland leben, dort ihren Urlaub verbringen oder auf Dienstreise sind. Ich will unterstreichen, dass alle diplomatischen und konsularischen Vertretungen verpflichtet sind, rund um die Uhr den Landsleuten zu helfen und [sie] zu unterstützen. Die Diplomaten müssen auf entstehende Kollisionen zwischen unseren Mitbürgern und den örtlichen Behörden, Vorfälle, Autounfälle u.a. unverzüglich reagieren. Es darf nicht darauf gewartet werden, bis die Medien darüber berichten. Wir werden die Erfüllung der vielen Empfehlungen anerkannter internationaler Organisationen durch die Behörden Lettlands und Estlands in Bezug auf die Beachtung der allgemein anerkannten Rechte der nationalen Minderheiten entschlossen anstreben. Man darf sich nicht mit der Existenz des schmählichen Status eines „Nicht-Bürgers“ abfinden. Wie kann man sich damit abfinden, dass jeder sechste lettische Bürger und jeder Dreizehnte Bürger Estlands als „Nicht-Bürger“ keine grundlegenden politischen, Wahl- und sozialen und wirtschaftlichen Rechte sowie Möglichkeit haben, die russische Sprache frei zu nutzen.

Das vor einigen Tagen in Lettland stattgefundene Referendum über den Status der russischen Sprache hat der internationalen Gemeinschaft erneut anschaulich gezeigt, wie ernst das Problem ist. Zur Teilnahme am Referendum wurden erneut mehr als 300.000 „Nicht-Bürger“ nicht zugelassen. Eine Frechheit ist der Verzicht der lettischen Zentralen Wahlkommission, der Delegation der russischen Gesellschaftskammer, den Beobachterstatus bei dem Referendum zu gewährleisten. Die internationalen Organisationen, die für die Einhaltung der allgemeingültigen demokratischen Standards verantwortlich sind, schweigen in sieben Sprachen.

Die Art und Weise, wie die Problematik der Menschenrechte im internationalen Kontext genutzt wird, passt uns nicht. Erstens wollen die USA und andere westliche Länder das Menschenrechtsdossier usurpieren, es völlig politisieren und als Druckinstrument anwenden. Sie dulden keine Kritik und empfinden sie als sehr schmerzhaft. Zweitens werden die Objekte für die Rechtsschutzbeobachtung auszugsweise gewählt – nicht nach universellen Kriterien, sondern nach dem Ermessen der Länder, die dieses Dossier „privatisiert“ haben.

Russland spürt die Subjektivität, Voreingenommenheit und Aggressivität der kritischen Verbalschläge, die bisweilen über alle Grenzen hinausgehen. Wenn man uns auf unsere Fehler auf faire Weise aufmerksam macht, kann dies nur begrüßt werden. Daraus werden die notwendigen Schlüsse gezogen. Doch wenn es sich um unbegründete Kritik handelt, eine Welle nach der anderen, und dabei planmäßig versucht wird, sowohl das Verhalten seiner Bürger zu uns als auch die innenpolitische Situation in Russland zu beeinflussen, wird verstanden, dass dahinter keine hohen moralischen und demokratischen Prinzipien stehen.

Der Bereich der Menschenrechte darf nicht verpachtet werden. Russland ist eine junge Demokratie. Wir zeigen häufig eine unangebrachte Bescheidenheit und gehen pfleglich mit den Ambitionen unserer erfahrenen Partner um. Doch wir haben etwas zu sagen – in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte und des Respekts der meisten Freiheiten ist niemand perfekt. Auch in den alten Demokratien sind ernsthafte Verstöße anzutreffen. Dabei soll kein Auge zugedrückt werden. Diese Arbeit soll selbstverständlich nicht nach dem „Du bist selbst Dummkopf“-Prinzip durchgeführt werden – von einer konstruktiven Erörterung der Probleme im Bereich der Menschenrechte profitieren alle Seiten.

Das russische Außenministerium hat am Jahresende seinen ersten Bericht „Über die Situation um die Menschenrechte in vielen Staaten der Welt“ veröffentlicht. Meines Erachtens muss hier aktiver vorgegangen werden. Darunter mit dem Ziel, eine breitere und gleichberechtigtere Zusammenarbeit in der gesamten Bandbreite der humanitären Fragen und die grundlegenden Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte zu fördern.

Das Gesagte ist übrigens ein Teil der Informationsbegleitung unseres außenpolitischen und diplomatischen Kurses, die Erzeugung eines wahrheitsgetreuen Bildes von Russland im Ausland. Es muss zugegeben werden, dass wir hier nicht viel Erfolg haben. Auf dem Informationsfeld haben wir häufig das Nachsehen. Das ist eine einzelne vielseitige Frage, mit der sich ernsthaft beschäftigt werden muss.

Russland hat eine große Kultur geerbt, die sowohl im Westen als auch im Osten anerkannt wird. Doch wir investieren bislang sehr schwach in die Kulturindustrie und ihre Förderung auf dem globalen Markt. Die Wiedergeburt des weltweiten Interesses an den Ideen- und Kulturbereich, die sich durch die Aufnahme der Gemeinschaften und der Wissenschaften in ein globales Informationsnetz zeigt, ermöglicht Russland mit seinen anerkannten Talenten bei der Herstellung von Kulturwerten zusätzliche Chancen.
Russland hat die Möglichkeiten, nicht nur die eigene Kultur zu erhalten, sondern sie auch als einen wichtigen Faktor zur Vorwärtsbewegung auf den globalen Märkten zu nutzen.

[...]

Russland beabsichtigt auch weiterhin, seine Sicherheit und nationale Interessen durch eine aktive und konstruktive Teilnahme an der Weltpolitik und der Lösung der globalen und regionalen Probleme zu gewährleisten. Wir sind bereit für eine sachliche und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit, für einen offenen Dialog mit allen ausländischen Partnern. Wir streben danach, die Interessen unserer Partner zu verstehen und zu berücksichtigen, bitten aber, auch unsere zu respektieren."

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Foto: mn.ru.

Sonntag, 26. Februar 2012

Die Wonnen des Satellitenfernsehens

Newsroom von RIA Novosti in Moskau 5

Nach Jahren des zunehmend schlechteren Kabelempfangs hat Familie Krenkel im vergangenen Dezember auf direkten Satellitenempfang umgestellt. Wenn man schon einmal dabei war, nicht nur auf Astra 19,2°O mit seinen deutschen Kanälen, sondern auch auf Hotbird 13°O, auf dem zahlreiche russisch- und polnischsprachige Sender zu finden sind. Nunmehr habe ich auch direkten Zugang zu zahlreichen Kanälen in englischer Sprache. Nicht nur CNN, wie bisher, sondern auch Russia Today, RT Doc, CCTV News und CCTV Doc (beide aus China), Al Jazeera (Katar), France 24, BBC World News, Press TV (Iran), NHK World (Japan), Arirang (Südkorea) und CNBC (USA). Nicht zu vergessen EuroNews, die auch in deutscher Sprache senden.

Dadurch wird das Bild erheblich bunter und man lernt noch besser, über den kleinen Tellerrand der deutschen Medien hinauszusehen. Man lernt jedoch auch, welche Propagandakriege auch heute noch über den Äther ausgefochten werden. Da ist z.B. Belsat, ein TV-Kanal in weißrussischer Sprache, der vom polnischen Staatsfernsehen TVP produziert wird und auf das Nachbarland Belarus zielt. Belsat wird primär von der polnischen Regierung finanziert und ist unverschlüsselt empfangbar, während man für die polnischen Hauptkanäle TVP 1 und TVP 2 einen Decoder benötigt.

Ebenso erstaunt die Vielfalt von in den USA und Großbritannien produzierten Radio- und Fernsehprogrammen, die in allen möglichen Sprachen verbreitet werden, um Propaganda im Sinne der Regierungen dieser beiden Staaten zu machen. Demgegenüber steht der iranische Staatssender Press TV, der z.T. durchaus treffende Analysen der politischen Lage im Mittleren Osten bringt. So dürfte etwa die Einschätzung eines Teheraner Politologen, daß die Aufstände des „arabischen Frühlings“ eher ein Nachholen der islamischen Revolution in Persien anno 1979 sind, der Wahrheit weitaus näher kommen als andere Deutungen, wonach es dabei um eine Demokratisierung der betroffenen Länder im „westlichen“ Sinn gehe. Um so überraschter war ich, daß die zuständige Behörde im angeblich urdemokratischen und freiheitsliebenden Großbritannien kürzlich Press TV die Lizenz entzogen hat.

Besonders interessieren natürlich die Fernseh- und Radiosender aus Rußland. Hier sind, neben den beiden englischsprachigen Kanälen von RT, vor allem RTR Planeta und der Erste Kanal als Vollprogramme zu nennen. Hinzu kommen die Nachrichtenkanäle Rossija 24 (wie RTR zur staatlichen Medienholding WGTRK gehörend) und RBC TV (ein Ableger der Wirtschaftszeitung RBK Daily, Eigentümer ist der Präsidentschaftskandidat und Oligarch Michail Prochorow). Außerdem sind die drei RTVi-Kanäle des Oligarchen Wladimir Gussinski zu nennen. Abgerundet wird das via Hotbird empfangbare Spektrum durch einige Spartenkanäle (Musik, Kinder usw.).

Zwar fehlen noch einige der größeren Sender aus der RF, da sie über andere (hierzulande schwerer empfangbare) Satelliten verbreitet werden. Nichtsdestotrotz ist dies für mich schon ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem bisher notwendigen Fernsehempfang über Internetstreams, dessen Unzulänglichkeiten offenkundig sind. Endlich kann man sich – nicht nur im wörtlichen Sinne – ein besseres Bild über das Fernsehen in Rußland machen. Das, was darüber hierzulande verbreitet wird, klingt sehr düster. Alles unter strikter staatlicher Kontrolle, kein Aufmucken gegen den omnipräsenten Putin, keinerlei Berichte über die inner- und außerparlamentarische Opposition etc. pp. So schildern deutsche Journalisten die Arbeit ihrer rußländischen Kollegen. Ich fand das schon immer zweifelhaft, waren doch meine eigenen Erfahrungen während meiner Aufenthalte in der RF andere. Jetzt weiß ich, daß das Bild auch heute weitaus bunter ist, als es uns von unseren eigenen Medien dargestellt wird.

Selbstverständlich kommt nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition zu Wort, insbesondere in den Diskussionsrunden (z.B. die von Wladimir Solowjow moderierte Sendung Pojedinok auf RTR). Allein in den letzten Wochen waren dort – in den wenigen Sendungen, die ich gesehen habe – die Präsidentschaftskandidaten Michail Prochorow, Gennadij Sjuganow sowie Maria Gaidar u.a. zu Gast. Und natürlich wird auch in den Nachrichten hinreichend über oppositionelle Politiker und Parteien berichtet, z.B. über die Unterschriftensammlungen von Prochorow und Jawlinskij für die Präsidentenwahl oder über Demonstrationen. Von einem „Verschweigen“ kann keine Rede sein. Das macht es freilich auch so spannend, abends statt den gewohnten deutschsprachigen Sendern mit ihrem vorhersagbaren Einerlei einen russischen im Hintergrund laufen zu lassen.

Man lernt auch, was die außerparlamentarische Opposition von den Medien hält. Als ein Fernsehteam nach einer „Befehlsausgabe“ für Oppositionsgruppen in der Botschaft der USA mit den Teilnehmern sprechen wollte, wurde der Kameramann von der bekannten Umweltschützerin Jewgenija Tschirikowa sogar tätlich angegriffen (Spezialny Korrespondent v. 22. Januar - Video). Diese Leute wollen keine kritischen Nachfragen beantworten.
Ähnlich verhielt sich der Oppositionspolitiker Wladimir Ryshkow in einem Interview auf Rossija 24. Der Moderator versuchte, mit ihm ein sachliches Gespräch zu führen, doch Ryshkow skandierte nur immer wieder dieselben kurzen Parolen. Seine Vorstellung erinnerte an ein Maschinengewehr, nicht jedoch an ein Interview.
Zu einem Dialog mit dem Volk und der Regierung sind die Typen, die sich für die einzig wahre Opposition halten, nicht breit. Statt dessen boykottieren sie Einladungen zu derartigen Veranstaltungen. Nicht besonders konstruktiv.

Bemerkenswert sind auch die Unterschiede bei Dokumentationen. In russischen scheint es üblich zu sein, mehr und längere ungeschnittene Interviewausschnitte zu bringen als hierzulande. Auch kontroverse Themen werden in ihrer gesamten Bandbreite dargestellt und beide Seiten kommen zu Wort. So etwa auf Rossija 24 in einer Reportage über den bis heute umstrittenen Einsatz sowjetischer Sicherheitskräfte im litauischen Vilnius im Januar 1991.

Und ohne die Auslandsberichterstattung von RT, die auch über Astra und Kabel verbreitet wird, wäre der deutsche Zuschauer erheblich schlechter informiert. Er wüßte z.B. nichts von den Mitte Februar wiederaufgeflammten Gewalttätigkeiten in Bahrain (siehe hier und hier), denn das deutsche Staatsfernsehen schweigt darüber. Die Monarchie Bahrain gilt hierzulande wohl als Verbündeter, der den "arabischen Frühling" in Libyen und Syrien unterstützt, nicht jedoch als Unterdrückungsregime.

Einseitige Propaganda konnte ich in diesen Sendungen bisher nicht wahrnehmen. Im Gegenteil, das im rußländischen Fernsehen angebildete Meinungsspektrum ist weitaus größer als in Deutschland (eine Auffassung, mit der ich nicht alleine stehe - siehe hier und hier), wo sich die Mehrzahl der Journalisten als Gralshüter linker Ideologeme versteht und die Welt nur in diesem beschränkten Rahmen deutet. Dazu gehört auch die verzerrte Darstellung von Politik und Medien in Rußland – und darüber hinaus. Blenden wir doch einmal vier Jahre zurück und erinnern uns, wie Barack Obama auch von deutschen Schreiberlingen zu einer messiashaften Heilsfigur hochstilisiert wurde. Heute hat jedoch die Enttäuschung über die ausgebliebene Welterlösung zum Katzenjammer geführt.


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Mittwoch, 8. Februar 2012

Der Bürgerkrieg in Syrien

Video: "Friedliche Demonstration" der "schutzlosen Zivilbevölkerung" in Syrien.

Dieser Tage steht die Situation in Syrien erneut im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit. Dabei könnte die Differenz zwischen dem, was tatsächlich in diesem Land geschieht und dem, was die deutschen Medien daraus machen, kaum größer sein. Wer in der glücklichen Lage ist, ausländische Medien zu konsumieren, reibt sich verwundert die Augen und fragt sich, ob die gleichgeschalteten deutschen Medien wirklich über dasselbe Syrien sprechen wie die Ausländer.

Besondere Aufregung hat der am Samstag gescheiterte Entwurf einer Resolution des UN-Sicherheitsrates hervorgerufen. Zwei Staaten, China und Rußland, hatten ihr Veto gegen einen Antrag eingelegt, in dem u.a. der Rücktritt des syrischen Präsidenten Assad gefordert wurde. "Westliche" Presse und Politiker überschlugen sich daraufhin in moralisierenden Statements. Man habe das syrische Volk verraten, an den Händen Moskaus und Pekings klebe Blut, beide Staaten seien unfähig zu konstruktiver Diplomatie usw. usf. Komischerweise hat sich kaum jemand die Mühe gemacht, die Einwände im Detail zu untersuchen. Das soll nachfolgend geleistet werden - ein Job, den eigentlich die Empfänger meiner Rundfunksteuern bei ARD und ZDF leisten müßten.

Zunächst sieht man in Moskau die Lage in Syrien ganz anders als hierzulande. Während deutsche Zeitungen im Höchstfall schreiben, ein Bürgerkrieg "drohe", steht für die rußländische Regierung fest, daß in Syrien bereits ein Bürgerkrieg tobt. Diese Einschätzung wird durch Meldungen über Attenate auf die Energieversorgung, Anschläge mitten in Damaskus und anderen Städten sowie andere terroristische Operationen, die sich gegen den jetzigen Präsidenten und die ihn stützenden Teile der Bevölkerung richten, untermauert. (Deshalb ist es auch absurd zu behaupten, "das syrische Volk" sei gegen Assad. Es sind vielmehr nur Teile davon.) Spätestens seit im Herbst 2011 eine sog. Syrische Freie Armee gebildet wurde, die vornehmlich aus desertierten Soldaten besteht und über mehrere Zehntausend Mann verfügen soll, kann man redlicherweise nicht umhin, von einem ausgewachsenen Bürgerkrieg zu sprechen. Diese Rebellenstreitkräfte verfügen auch über schwere Waffen und kämpfen gegen die Regierung in Damaskus.

Stellt man diese Fakten in Rechnung, ergibt sich eine andere Einschätzung. Wo in den deutschen Medien fast unisono von heimtückischen Angriffen des bösen Assad-Regimes auf die arme, unbewaffnete und schutzlose Zivilbevölkerung gesprochen wird, tobt in Wahrheit ein blutiger Bürgerkrieg - mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten. Das Blutvergießen geht mitnichten nur von der Regierung aus. Von den bisher 5.000 Toten im Land sollen 2.000 den regierungstreuen Sicherheitskräften angehören. Doch diesen Teil der Wahrheit enthalten uns unsere Journalisten vor. Der Terminus "Bürgerkrieg" wird vermieden, statt dessen sprechen sie von "friedlichen Demonstrationen" oder höchstens von einem "Aufstand", die von "Oppositionellen" oder einer "Demokratiebewegung" getragen würden.

Doch die "Opposition" bleibt seltsam diffus, von deren Militärorganisationen hört man nur wenig, ebenso von ihrer Zusammensetzung und ihren politischen Forderungen. Man muß wieder ausländische Medien konsultieren, um zu erfahren, daß namhafte Teile der Opposition, die sich vornehmlich in der Türkei sammeln und die unverhohlene Unterstützung mehrerer NATO-Staaten genießen, als islamistisch einzustufen sind. Da drängt sich folgende Schlußfolgerung auf: Wenn islamistisch motivierte Selbstmordattentäter Gewaltakte in den USA oder der EU begehen, ist es Terrorismus; tun sie dasselbe in einem anderen Teil der Welt, nennt man es Freiheitskampf.

Sofern die tatsächliche Lage in Syrien berücksichtigt wird, wird auch die Position Moskaus (und Pekings) leicht nachvollziehbar. Während die USA, einige EU-Staaten und die Golfemirate unverhohlen einen "regime change" in Damaskus anstreben (der wahrscheinlich zu einer sunnitischen Dominanz führen würde), wagen sich die rußländische Diplomaten, ganz andere Töne anzuschlagen. Sie plädieren für einen nationalen "innersyrischen Dialogs unter der Ägide der Arabischen Liga". Dabei sollen ohne Vorbehalte die Probleme des Landes erörtert und Lösungen zwischen den Konfliktparteien gefunden werden; es gehe um "die Suche nach Wegen zu einer nationalen Versöhnung". Das klingt ganz anders als die einseitigen Parteinamen in europäischen Hauptstädten und die in Washington erhobene Forderung nach einer weiteren Bewaffnung der Rebellen.

Anfang Februar wurden alle Beteiligten zu Verhandlungen nach Moskau eingeladen. Während Assad erneut seine Gesprächsbereitschaft bekundete, haben sich nur wenige (im Ausland weilende) Oppositionsvertreter dafür ausgesprochen. Die Mehrheit weigert sich jedoch, in Verhandlungen mit der Regierung Assad einzutreten. Und sie werden in ihrer unversöhnlichen Haltung offenkundig aus dem Ausland unterstützt. Während Assad in den letzten Monaten mehrfach politische Reformen angekündigt hat, gab es kein Entgegenkommen der Opposition, ja nicht einmal ernsthaften Gesprächswillen ihrerseits. Wenn also an jemandes Händen Blut kleben sollte, dann an denen der Rebellen, die den Bürgerkrieg rücksichtslos vorantreiben und sich jeder friedlichen, einigermaßen einvernehmlichen Lösung verweigern.

Neben den erheblichen Unterschieden in der Bewertung der Situation in Syrien (wobei die rußländische Position, wie gesehen, schlüssiger ist als die anderer Staaten) gibt es Unterschiede in einer völkerrechtlichen Frage. Der am Wochenende gescheiterte Resolutionsentwurf enthielt eine einseitige Aufforderung zum Rücktritt an Assad. Der Ansatz des Entwurfes war damit nicht nur unausgewogen, sondern nach Auffassung Moskaus und Pekings auch völkerrechtswidrig. Denn gem. Artikel 24 der UN-Charta ist der Sicherheitsrat zuständig für die Wahrung des Welt-Friedens und der internationalen Sicherheit. Dabei muß er sich - was viele deutschen Kommentatoren vergessen - an die in Artikel 2 statuierten Grundsätze halten. In Art. 2 Nr. 7 heißt es:
"Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden".
D.h. der Sicherheitsrat ist schon nach seinen Rechtsgrundlagen gerade keine universale Weltregierung, sondern in seinen Kompetenzen beschränkt. Zwar hat sich das Gremium in der Vergangenheit mehrfach mit Bürgerkriegen befaßt, aber immer unter der Prämisse einer ausgewogenen Konfliktregulierung. Für von außen oktroyierte "Regimewechsel" ist er nicht zuständig. Eine solche wurde von den Staaten, welche den Entwurf eingebracht haben, jedoch nicht angestrebt. Statt dessen sollten schnell Fakten geschaffen werden, ein echter innersyrischer Dialog war und ist in manchen Hauptstädten unerwünscht. Nachdem die Bitte des rußländischen Vertreters im Sicherheitsrat, die Abstimmung zu vertagen, um den für den 7. Februar geplanten Besuch von Außenminister Lawrow in Damaskus abzuwarten, abgelehnt worden war, blieb keine andere Lösung als das Veto. Daß in Moskau indes weiter an einer Verhandlungslösung für Syrien gearbeitet wird, zeigen die starken Aktivitäten des Außenministeriums in dieser Angelegenheit.

Das Veto wurde drittens durch den Präzedenzfall in Libyen beeinflußt. Damals hieß es ebenfalls mit weinerlicher Stimme, es tobe kein Bürgerkrieg, sondern der böse Ghaddafi würde seine eigenen Bürger abschlachten. Eine bewußt mehrdeutig formulierte Resolution des Sicherheitsrates, gegen die es kein Veto gab, wurde mißbraucht, um den (völkerrechtlich zweifelhaften) Einsatz ausländischer Truppen gegen die Regierung von Tripolis zu legitimieren. Viele der seinerzeit verbreiteten Propagandalügen sind bereits entlarvt worden, doch danach fragt hierzulande kaum jemand. Ebensowenig interessiert, was in Libyen weiter passiert. Es gibt eben keine Hinwendung zur Demokratie, sondern das Land versinkt in vormodernen Stammes- und Fraktionskämpfen. Doch darüber schweigen die deutschen Medien zumeist, ebenso wie über die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der neuen Machthaber. (Vgl. hierzu auch "Libyen: Folter und Mord".) Lieber versuchen sie, daß in Libyen erfolgreich erprobte Modell auf Syrien zu übertragen. Doch dagegen verwahren sich Rußland und China. Außenminister Lawrow hat kürzlich in einem Interview die vorsichtige Haltung seiner Regierung verdeutlicht:
"[...]

We would also be guided by the need to avoid taking sides in a situation of internal conflict.
The international community unfortunately did take sides in Libya and we would never allow the Security Council to authorise anything similar to what happened in Libya. Yes, we condemn strongly the use of force by government forces against civilians, but we can condemn in the same strong way the activities of the armed extremist groups who attack government positions, who attack administration in various provinces of Syria, who attack a police station and who terrorise people telling them not to come to jobs, not to come to hospitals, not to come to shops.

It's impossible to ... when you say that government forces must leave towns, but at the same time you watch BBC, you watch CNN and you see that parts of those towns are taken by the armed opposition, are you realistically expecting that any government in this situation would leave the city and leave it to the armed groups? I don't think so.

So, my point is that the international community must speak one voice. If we want to end violence, irrespective of where it comes from - and that's the language of the Arab League - then all those countries on whose soil various opposition groups are present, they must lean on those groups, we all must lean on the Syrian government and tell them that you must sit down and stop this. You must agree how your country is going to be run.

We would not pre-judge the outcome, whether this would involve the president of Syria living, or whether there would be some other solution, we went through this in Libya when the African Union - the organisation of 50-some countries, to which Libya belongs - introduced a plan under which the fate of Gaddafi would've been decided at the end of the negotiating process as part of the overall package.

It was rejected because some countries outside the African Union said no, no, no, Gaddafi must go before anything else happens, and then we had what we did. The African Union was humiliated, because to throw away an initiative which was aimed at peacefully resolving the crisis just because somebody had some very personal animosities was a mistake, [...]"
Selbstkritik ist nicht die Stärke der deutschen Medien, vor allem nicht wenn sie statt dessen moralisieren können. Und so werden die Zuschauer weiter nach Strich und Faden belogen. Es ist auch meines Erachtens so, wie Frank Haubold schreibt:
"[...]

Wer in der Euphorie der Wendetage des Jahres 1989 prophezeit hätte, dass man zwanzig Jahre später in russischen (!) Medien ein realistischeres Bild von den aktuellen Krisenherden vorfinden würde als in den angeblich freien Medien des Westens, wäre ausgelacht worden – bestenfalls. Heute ist das traurige Realität. Bundesdeutsche Journalisten und Kommentatoren degradieren sich selbst willfährig zu Handlangern der Mächtigen und bereiten das Feld für geplante Kriege. Das ist nicht nur verantwortungslos und feige, sondern legt auch die Axt an einen Grundpfeiler der Demokratie, die nur mit freien Medien und unabhängigem Journalismus existieren kann. Widerstand gegen diese Entwicklung ist nicht zu sehen; häufig wartet man in den bundesdeutschen Redaktionsstuben nicht einmal auf eine Weisung „von oben“, sondern schaltet sich in vorauseilendem Gehorsam selbst gleich.

[...]"
Wohl dem, der Russia Today und andere internationale TV-Sender sehen kann, um dem deutschsprachigen Einheitsbrei zu entfliehen. Dort werden Berichte von beiden Seiten der Front in Syrien gezeigt. Gestern hat ausnahmsweise sogar die ARD in den Tagesthemen Material eines russischen Senders gebracht - um heute ihre monotone Litanei über "Angriffe der Regierungstruppen auf Wohnviertel" fortzusetzen.

Bemerkenswert auch die innerdeutschen Facetten des syrischen Bürgerkrieges. Während heute groß getitelt wurde, daß deutsche Sicherheitsbehörden Agenten syrischer Geheimdienste festgenommen hätten, gingen Berichte über die Stürmung der syrischen Botschaft in Berlin durch Demonstranten unter. So müssen unsere Journalisten nicht mehr darüber nachdenken, ob die Bundesrepublik Deutschland möglicherweise ihre Pflichten aus Artikel 22 des Wiener über diplomatische Beziehungen verletzt hat, dessen Absatz 2 lautet:
"Der Empfangsstaat hat die besondere Pflicht, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Räumlichkeiten der Mission vor jedem Eindringen und jeder Beschädigung zu schützen und um zu verhindern, dass der Friede der Mission gestört oder ihre Würde beeinträchtigt wird."
Nein, die armen Demontranten haben nur ihrer gerechten Empörung Luft gemacht. Wer dagegen etwas sagt, kann doch nur eine kleinkarierte Krämerseele oder, schlimmer, ein Feind aller wohlmeinenden Menschen sein. Um jeden Zweifel beim deutschen Michel zu zerstreuen folgen dann Berichte, wie schlimm doch die "Drangsalierung" der armen "Oppositionellen" durch das "Assad-Regime" selbst im Ausland sei.

Wir dürfen gespannt sein, wie die Entwicklung in Syrein weitergehen wird, nachdem mehrere arabische Staaten, die USA und Teile der EU eine auf Verhandlungen beruhende Konfliktlösung hintertrieben haben und es keine Alternative zu einem "Regimewechsel" zu geben scheint. Selbiger dürfte allerdings noch auf sich warten lassen, denn Assad genießt anscheinend noch erheblichen Rückhalt im Volk. Die Opposition will keinerlei Kompromiß, doch für einen militärischen Sieg über Assad fehlen ihr die Kräfte.


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Sonntag, 13. Februar 2011

Raketen über See

Vorab: Ich interessiere mich nicht besonders für militärisches Großgerät wie Panzer, Schiffe oder Flugzeuge. Doch das heute anzuzeigende Buch geht weit über rein technische Fragen hinaus: "Raketen über See - Die taktische Seezielrakete P-15 (Styx) im Kalten und heißen Krieg" von Holger Neidel und Egbert Lemcke ist im Jahre 2008 erschienen. Wie schon mit dem vom selben Verlag herausgebrachten Buch von Frank Preiß werden dem Leser, welcher der russischen Sprache nicht oder nur bedingt mächtig ist, erstmals in seriöser und kompetenter Weise Informationen über das Militär der heutigen Rußländischen Föderation sowie der früheren Sowjetunion präsentiert. Hier geht es zuvörderst um die in den 1950er Jahren entwickelte Seezielrakete P-15 (NATO: Styx) und ihre diversen Abarten und Nachfolgemodelle, wobei die behandelte Zeitspanne von den 1950er Jahren bis 2007 reicht. Schiffsgestützte Flugkörper, die erstmals von der UdSSR gebaut und eingesetzt wurden, waren eine kleine Revolution des Marinewesens.

Dabei werden nicht nur die technischen Entwicklungen detailliert nachvollzogen, die Autoren stellen sie auch in den notwendigen sicherheitspolitischen Kontext: Welchen Sinn ergeben see- und landgestützte Seezielraketen? Sie ermöglichen auch einem vergleichsweise schwachen Staat die kostengünstige Abwehr überlegener Marinekräfte des potentiellen Gegners. Die beiden Autoren vertiefen diese und ähnliche Fragen mehrfach, wenn sie nicht nur Fallbeispiele aus der Sowjetunion selbst, sondern auch aus den Staaten analysieren, die von der SU oder China mit diesen Waffensystemen beliefert worden sind (z.B. DDR, Indien). Neben der Vorstellung der verschiedenen Raketen werden auch ihre Trägerplattformen, insbesondere die damals neuartigen Raketenschnellboote, vorgestellt und ihre Entwicklung nachvollzogen.

Der Band ist durchgängig mit instruktiven Tabellen, Fotos und Zeichnungen versehen. Das alles macht dieses Werk zu einer Fundgrube sowohl für Marineinteressierte als auch für jene, die die Wechselwirkung zwischen Strategie und Technik studieren wollen. Überdies wird man nach der Lektüre besser dazu fähig sein, manches aktuelle militärische Problem zu verstehen. Freilich muß man den beiden Autoren nicht bei jeder Bewertung oder Schlußfolgerung folgen, doch tut dies dem Wert ihres Werkes keinen Abbruch.



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Militärstruktur und Rüstungsprojekte in Rußland

Foto: RIA Nowosti.

Dienstag, 14. September 2010

14.09.2010: Bilder des Tages


Im Mai 2010 hat in Ungarn ein internationaler Wettkampf von Scharfschützen aus Militär und Polizei stattgefunden, bei dem Teams aus der Ukraine und China sehr gut abgeschnitten haben. Einige Teilnehmer haben im Forum von Talks.guns.ru zahlreiche Bilder ins Netz gestellt, darunter auch die hier gezeigten. Mehr davon sind hier zu finden.




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Dienstag, 27. Juli 2010

"Wostok – 2010"


Vom 29. Juni bis zum 8. Juli 2010 hat in den östlichen Gebieten der Rußländischen Föderation die Operativ-strategische Übung „Wostok-2010“ (dt.: Osten 2010) stattgefunden. Sie war nicht nur das größte Militärmanöver in Rußland seit 1991, sondern wies auch manche Neuerungen auf, die nicht einmal zu Sowjetzeiten üblich waren, denn damals waren die Streitkräfte erheblich größer als heute. Insgesamt nahmen 20.000 Soldaten, 40 Schiffe und Boote sowie 75 Flugzeuge und Hubschrauber an der Übung teil.




Handlungen von Überwasserkräften, Kampfschwimmern und Marineinfanterie.


Übungslage

Eigentlich handelte es sich um eine Übungsserie, denn es wurde kein großer Gesamtplan durchgespielt. Vielmehr wurden auf 19 Übungsplätzen zwischen Altaj-Gebirge und Wladiwostok eine Vielzahl kleiner und mittlerer Übungen absolviert, die oft in keinem direkten Zusammenhang zueinander standen. Die dabei zugrundegelegten Szenarien reichten von der Bekämpfung bewaffneter Banden (also den typischen LIC-Szenarien) über konventionelle Operationen zu Lande einschließlich dem Einsatz von Kampfpanzern und Artillerie bis hin zu See- und amphibischen Operationen, insbesondere Seelandungsabwehr und Durchführung einer eigenen Seelandung.



Eingesetzte Truppen

Am Manöver haben die Land- und Luftstreitkräfte des Fernöstlichen Militärbezirks, des Sibirischen Militärbezirks und der Pazifikflotte teilgenommen. Sie wurden durch Verbände aus den westlichen Teilen der RF verstärkt (Stichwort: force projection). Zur See waren dies die Raketenkreuzer „Peter der Große“ (Nordmeerflotte) und „Moskwa“ (Schwarzmeerflotte). Einige motorisierte Schützenbrigaden wurden ganz oder teilweise in den Fernen Osten verlegt; zum Teil per Bahn, zum Teil aber auch per Flugzeug. Letztere versahen sich erst in „frontnahen“ Mobilmachungslagern mit Fahrzeugen und Kampftechnik. Ebenso verlegten Kampfflugzeuge aus West- und Südrußland in den Übungsraum, wobei die in den russischen Luftstreitkräften wenig praktizierte Luftbetankung geübt wurde.

Diese Truppenverlegung war einer der wesentlichen Aspekte des Manövers. Denn die russischen Verbände, die in Ostsibirien und dem Fernen Osten disloziert sind, sind – verglichen mit den Streitkräften anderer Staaten der Region – relativ schwach und kaum fähig, Küste und Landgrenzen einigermaßen zu decken. Dies ist für das russische Militär eine neue Situation. Zu Sowjetzeiten ging man davon aus, daß für jeden potentiellen Kriegsschauplatz ein eigenes, den Gegebenheiten angepaßtes Truppenkontingent aufgestellt wird, welches dort selbständig handeln kann und nur bedingt auf Verstärkungen aus dem Rest des Landes angewiesen ist. Doch die massive Reduzierung der Armee seit 1991 hat diese Doktrin obsolet gemacht. Weder Land-, Luft- noch Seestreitkräfte in einem Teil Rußlands können heute ohne Verstärkungen aus anderen Landesteilen einen etwas größeren Konflikt bestehen. Diese neue Lage führt natürlich auch zu neuen Herausforderungen für Führung, Organisation und Logistik der Streitkräfte.

An einigen Übungsteilen haben neben den Truppen des Verteidigungsministeriums auch Spezialkräfte von Innenministerium und Föderalem Sicherheitsdienst sowie Einheiten der Bereitschaftspolizei und des Katastrophenschutzes teilgenommen. Dies ist in der RF seit Jahren üblich und entspricht dem, was man hierzulande unter dem Stichwort „erweiterter Sicherheitsbegriff“ versteht.



Führungsorganisation

Ein weiterer wesentlicher Aspekt war das praktische Üben der neuen Organisationsformen, namentlich in den Landstreitkräften, wie sie seit 2008 eingeführt worden sind (u.a. Übergang vom Divisions- zum Brigadesystem; siehe auch hier). Insofern scheinen die Ergebnisse positiv gewesen zu sein, d.h. daß die Startschwierigkeiten der ersten Jahre langsam überwunden werden. Das Übungsgebiet von Wostok-2010 entsprach in etwa dem Territorium des zukünftigen Operativ-strategischen Kommandos Ost.



Politischer Hintergrund

Kommen wir zu einer der interessantesten Fragen: Gegen wen hat sich das Manöver „Wostok-2010“ gerichtet? Offiziellen Erklärungen zufolge gegen keinen anderen Staat, was angesichts der quantitativen Schwäche der rußländischen Armee auch glaubhaft erscheint. Dennoch gibt es einen politischen Hintergrund, wenn man derzeit hypothetische, aber für die Zukunft keineswegs ausgeschlossene Konflikte mit Japan und der Volksrepublik China bedenkt.

Mit Japan herrscht de jure nach wie vor der Kriegszustand, auch wenn man fleißig miteinander Handel treibt. Grund ist die Weigerung Tokios, seinen Anspruch auf die 1945 von der UdSSR besetzten Südkurilen-Inseln aufzugeben. Und das japanische Militär ist in den letzten Jahren gewachsen, wohingegen die russischen Streitkräfte, gerade auch im Fernen Osten, reduziert worden sind. Russische Analysten halten daher mittel- bis langfristig eine japanische Militäroperation zur Rückgewinnung der Südkurilen für möglich.
Die Beziehungen zu China sind komplexer und diffiziler. Einerseits kooperieren beide Staaten politisch und ökonomisch auf vielen Gebieten. Andererseits fürchten nicht wenige in Rußland eine chinesische Expansion nach Norden – also in jene Gebiete der RF, die nur dünn besiedelt, dafür aber rohstoffreich sind. Sorgen bereitet insofern auch die Stärke des chinesischen Militärs, gegenüber dem die russische Armee hoffnungslos unterlegen ist. Zum Beispiel bei den Landstreitkräften: Den 12 Brigaden nördlich des Amur stehen auf dessen Südseite in der Militärregion Shenyang 9 Divisionen und weitere 11 selbständige Brigaden gegenüber.

Insofern ist Wostok-2010 vor allem als politische Demonstration zu verstehen: Rußland ist gewillt, seine östlichen Landesteile allen inneren Widrigkeiten und der schwierigen Verkehrsverbindungen zum Trotz gegen Begehrlichkeiten anderer Staaten zu schützen und sie ggf. aktiv gegen einen militärischen Angriff zu verteidigen. Die konventionellen Manöverelemente mechanisierter Truppen entsprachen somit einem eventuellen Konflikt mit China, während die amphibischen Übungen einem Szenario um die Kurilen entsprungen waren (erst Eroberung durch gegnerische Truppen, dann Seelandung der eigenen zwecks Rückeroberung).




Eine Mot. Schützen-Brigade in der Verteidigung.


Manöverkritik

Wie nicht anders zu erwarten, gehen die Bewertungen von Wostok-2010 in der russischen Presse weit auseinander. Manche Kommentatoren meinen, nunmehr sei die Wirksamkeit der neuen Militärorganisation (und damit der gesamten Armeereform) bewiesen. Diese geht von begrenzten lokalen und regionalen Konflikten aus, weshalb die Reduzierung der Armee und das damit im Konfliktfall notwendig werdende Hin- und Herschieben von Truppen durch das ganze Land kein sicherheitspolitisches, sondern nur ein logistisches Problem darstellt.

Die Gegenmeinung wird u.a. vom Politologen Alexander Chramtschichin (der u.a. regelmäßig für die Militärbeilage NWO der als liberal geltenden Nesawissimaja Gaseta schreibt) vertreten. Er sieht die gesamte Militärreform als gescheitert an, was durch das jüngste Großmanöver bewiesen worden sei. Verkleinerung und Umorganisation der Armee hätten zu einer erheblichen Schwächung der konventionellen Streitkräfte in den östlichen Teilen der RF geführt. Diese seien den beiden wahrscheinlichsten Gegnern in der asiatisch-pazifischen Region weit unterlegen. Deren Fähigkeiten seien während der Übung heruntergespielt, die der russischen Armee jedoch zu positiv gesehen worden. Die Mobilmachungsbasen und Flugplätze seien im Kriegsfall viel zu nahe an der Front und könnten somit leicht ausgeschaltet werden. Die Heranführung von Kräften und Mitteln aus anderen Gebieten Rußlands könne fast nur über die ebenfalls sehr verwundbare Transsibirische Eisenbahn geschehen.

Chramtschichin räumt zwar ein, daß viele der Einzelübungen von Wostok-2010 positiv verlaufen seien. Dennoch sieht er jetzt die politische Führung gefordert, ihre Verteidigungspolitik im Fernen Osten zu überdenken. Man brauche starke konventionelle Kräfte in der Region und eine Rückkehr zur Divisionsstruktur, um abschreckend wirken zu können. Die Option einer Verstärkung durch die seines Erachtens insgesamt zu wenigen Brigaden der übrigen Militärbezirke sei unzureichend. Das Manöver habe zwar gezeigt, daß Rußland dort stärkere Kräfte konzentrieren könne, jedoch sei dies sehr aufwendig gewesen und habe den Rest der russischen Streitkräfte – insbesondere die Schwarzmeer- und Nordmeerflotte – von wichtigen Einheiten entblößt.



Nachwort

Jedem, der die sicherheitspolitische und militärtheoretische Diskussion in den NATO-Staaten ein wenig verfolgt, werden viele Elemente von Wostok-2010 bekannt vorkommen. Das Ansinnen von politischer und militärischer Führung, das rußländische Militär zu verschlanken und gleichzeitig zu modernisieren erscheint löblich. Es gibt jedoch Grenzen der Übernahme von fremden Ideen, insbesondere wenn sie von Seemächten (im geopolitischen Sinne) wie den Vereinigten Staaten oder Großbritannien entwickelt wurden. Im Gegensatz dazu ist Rußland eine klassische Landmacht, mit großer territorialer Ausdehnung und langen Grenzen. Und zu Lande muß Logistik anders organisiert werden als zu Wasser.

Das diesjährige Manöver war die Fortsetzung von mehreren kleineren Übungen im vergangenen Jahr. „Sapad-2009“ (dt.: West 2009) wurde, wie der Name schon sagt, in den westlichen Landesteilen gemeinsam mit Belarus durchgeführt; „Kawkas-2009“ (dt.: Kaukasus 2009) u.a. waren hingegen eine rein russische Angelegenheit. Im nächsten Jahr wird sich dieser Kreis mit der Übung „Zentr-2011“ (dt.: Mitte 2011) schließen, die vermutlich in Westsibirien, dem Verantwortungsgebiet des zukünftigen OSK Mitte, stattfinden wird.



Bibliographie und weiterführende Links:

D. Gorenburg: Vostok-2010: Another step forward for the Russian military

I. Kramnik: „Wostok 2010“: Härtetest für erneuerte Armee

I. Kramnik: Seemanöver: Russland braucht mehr Kriegsschiffe

A. Chramtschichin: Njeadekwatnyj „Wostok“

N.N.: Serdjukow nje weljel ustrajwat wojnu dwuch armij

N.N.: Testing Army Reforms in Vostok-2010

N.N.: Battalion Travels Lighter in Mobilnost Redux

N.N.: Old Weapons Good Enough, or Worn Out?

N.N.: Not Enough Officers in ‘New Type’ Brigades?

I. Kramnik: Brennpunkt Zentralasien: Was Russlands Armee drohen kann

M. Chapman: Naturally Kurilly

O. Grizenko: Kurilskaja pretensija

Großmanöver „Ost-2010“ (weitere Materialien von RIA Nowosti)

Berichte und Videos des Fernsehsenders Swesda vom Manöver

A. Chramtschichin: Tschetyrje wektora rossijskoj oboronoj

A. Chramtschichin: Milliony soldat pljus sowremennoje woorushenije



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Karte: mapsof.net; Fotos: RIA Nowosti.