Posts mit dem Label Belarus werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Belarus werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Mittwoch, 3. August 2011

Deutsche Desinformationen III


Wenn ich deutsche Zeitungen lese und Fernsehnachrichten ansehen, dann beschleicht mich immer stärker das Gefühl, Opfer einer großen Manipulationsmaschine zu sein. Nachfolgend zwei Beispiele aus dem letzten Tagen.

1. Putins angeblicher Expansionskurs

Gestern wurde eine Meldung der Deutschen Presseagentur verbreitet, in der von "Putins Expansion nach Westen" die Rede war. (Mittlerweile wurde der Text entschärft.) Die DPA spielt damit mit dem seit 200 Jahren in Deutschland tiefverwurzelten Klischee vom vermeintlich eroberungslustigen russischen Bären. Bei Lichte offenbart diese Horrormeldung jedoch nichts anderes als die bare Unkenntnis der DPA-Journalisten.

In den Äußerungen, die Wladimir Putin während einer Fragerunde in einem Ferienlager mit internationalem Publikum getan hat (hier im Original), ging es keineswegs um eine Expansion Rußlands. Ein weißrussischer Jugendlicher, Dmitrij A. Panko, hatte den Ministerpräsidenten der RF gefragt, ob das Verhältnis zwischen beiden Staaten wieder so werden könne wie zu Zeiten der Sowjetunion. Insbesondere wolle er als Bürger von Belarus nicht von einem rußländischen Polizisten nach seiner Aufenthaltserlaubnis gefragt werden.

Darauf antwortete Putin, daß ein solcher Zustand durchaus möglich und auch wünschenswert sei, seine Realisierung jedoch zu 100 % vom Willen des weißrussischen Volkes abhänge.

Panko meinte sodann, daß das Volk dies wolle, worauf Putin entgegnete, daß es dann darum kämpfen müsse. Angesichts der unterschiedlichen Stimmen in Belarus müßten sie sich Gehör verschaffen. Wladimir Wladimirowitsch meinte weiter, auch wenn es hin und wieder zwischen Minsk und Mokau Streit gebe, so gingen beide Staaten doch weiter auf dem Weg der Integration.

Mit diesen Informationen kann der durchschnittliche deutsche Leser nur wenig anfangen. Deshalb ist die DPA so freundlich, im o.g. Artikel zu informieren:
"[...]

Russland und Weißrussland verbindet eine Zollunion, der auch die Ex-Sowjetrepublik Kasachstan angehört. Bürger beider Länder bejahen eine besondere Nähe, sie können dank einer offenen Grenze weitgehend ungehindert ins Nachbarland reisen.

[...]"
Das stimmt so nicht, besser gesagt: es ist nicht die ganze Wahrheit. Rußland und Belarus verbindet weit mehr als nur die Zollunion. Seit 1997 (!) existiert ein gemeinsamer Unionsstaat, der wie die Zollunion zur Abstimmung auf vielen Rechtsgebieten geführt hat. des weiteren sind beide Staaten militärische Verbündete, insbesondere in der OVKS, und wirken überdies in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (aus der die Zollunion hervorgegangen ist) mit.

Das ist doch weitaus mehr als nur kulturelle Nähe. Und wenn man bedenkt, daß zumindest dem Namen nach bereits seit 14 Jahren ein gemeinsamer weißrussisch-russischer Staat existiert, dann bekommen Putins Einlassungen ein ganz anderes Gewicht. Es geht nicht um Expansion nach Westen, sondern um die Belebung von Kooperationsformen, die auf dem Papier schon lange existieren, aber in der Realität z.T. erst noch umgesetzt werden müssen.
Bemerkenswert auch Putins (durchaus ernstgemeinter) Hinweis auf den Willen des weißrussischen Volkes. Eine Integration zweier Staaten kann kein bloßes Projekt der politischen und wirtschaftlichen Eliten sein, sondern muß von der Mehrheit der Bürger gewünscht werden.

Bei Lichte betrachtet entpuppt sich die alarmistische DPA-Meldung mithin als heiße Luft.



2. US-Staatsschulden

Die jüngste politische Krise in den Vereinigten Staaten von Amerika hat in der deutschen Presse einen großen Widerhall gefunden. fast durchweg einig waren sich die Kommenatoren darin, daß die Ursache der Krise nicht in einer seit Jahren verfehlten Finanzpolitik, die zu den erheblichen Staatsschulden geführt hat, zu suchen sei, sondern in der Weigerung einiger republikanischer Abgeordneter, beim von Obama gewünschten fröhlichen Neuverschulden mitzumachen. Das führt hierzulande zu einer groben Verzeichnung sowohl des Problems als auch der Meinungslage in den USA.

Den besonderen Haß unseres linksdrehenden Medienestablishments hat sich die Tea Party-Bewegung zugezogen. Dieses heterogene bürgerlich-libertär-konservative Sammelbecken, zu dessen Kernforderungen die Gesundung der öffentlichen Haushalte und damit verbunden Steuersenkungen zählt, wird als "ultrakonservativ", "populistisch", "fundamentalistisch" diffamiert und damit mit allen Negativcodes belegt, die die deutsche Politsprache bereithält. Vor allem wirft man ihren Vertretern vor, sie würden einen Kompromiß, der für jede Demokratie unabdingbar sei, unmöglich machen. Dabei wird freilich übersehen, daß es seit Jahren ebendiese faulen Kompromisse waren, die zu den stetig wachsenden Staatsschulden beigetragen haben. Wer damit Schluß machen will, kann sich nicht in den kuscheligen Konsens der politischen Klasse zurückziehen, die wie selbstverständlich davon ausgeht, daß der ganze Spaß ohnehin mit dem Geld anderer Leute (nämlich dem der Steuerzahler) bezahlt werden muß.

Deshalb ist es gut, daß mit der Tea Party-Bewegung endlich eine einflußreiche politische Gruppe in einem Industriestaat entstanden ist, die sich einen ausgeglichenen Staatshaushalt und Steuersenkungen zum Ziel gesetzt hat. Endlich haben Bürger erkannt, daß die Politik ihnen immer mehr Geld wegnimmt, wenn sie nicht endlich dagegen protestieren und selbst politisch aktiv werden. Die Linken fürchten völlig zu recht um die Realisierung ihrer sozialistischen Träume:
"[...]

Die Tea Party hat die große ideologische Auseinandersetzung, die die USA im Prinzip seit den Zeiten des New Deal spaltet, noch einmal auf ihren nackten, eigentlichen Kern zurückgeführt. Es geht darum, ob die USA ein Sozialstaat bleiben, in dem die Gewinner der Gesellschaft mit ihren Steuern sicherstellen, dass die Verlierer nicht untergehen. Oder ob sie eine Raubtiergesellschaft werden, in der jede Steuer als Diebstahl betrachtet wird.

[...]" (Quelle)
Wer nicht freiwillig und gern viele und stetig steigende Steuern zahlt, will also einen herzlosen Raubtierkapitalismus, in dem die Armen krepieren müssen. Aha. Angesichts dieses Kommentars überrascht es kaum, daß dieselbe Zeitung ihren Lesern die Tea Party-Bewegung als "knallhart und kompromißlos" vorstellt:
"[...]

Programmatisch richtet sich die Tea-Party-Movement gegen «big government», also gegen die angebliche Tendenz Washingtons, sich immer mehr in das Leben der Menschen einzumischen und alles zu regulieren. Die Bewegung will weniger Staat, weniger Steuern - und wettert gegen Sozialprogramme europäischer Prägung.

[...]"
Die Tendenz moderner Staaten, immer stärker in alle Bereiche des menschlichen Lebens einzudringen, ist unter Juristen eigentlich unstrittig, weshalb hier das Adjektiv "angeblich" nicht paßt. Es gibt - nicht nur in Deutschland - heute weitaus mehr Gesetze als vor hundert Jahren. In diesem Dickicht verfangen sich oft nicht nur ahnungslose und harmlose Bürger, sondern bisweilen sogar Rechtskundige. Schon deshalb ist eine politische Bewegung gegen zuviel Staatstätigkeit wünschenswert. Daß damit natürlich auch Reduzierungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung und der Finanzen einhergehen müssen, versteht sich von selbst. Schließlich ist die Erhebung von Steuern ein erheblicher Eingriff in die Rechtssphäre der Bürger, der jeden Bürger trifft, nicht nur die "Reichen".

Das dies wollen unsere Journalisten nicht wahrhaben. Sie wollen den totalen Nanny-Staat. Doch politische Kräfte wie die Tea Party stehen dieser Vision (gottseidank) im Wege. Leider gibt es dergleichen bei uns in der BRD nur in kleinen Zirkeln, die, sobald sie etwas größer werden, von den Hyänen der Presse gnadenlos zerfleischt werden.


Verwandte Beiträge:
Deutsche Desinformationen
Deutsche Desinformationen II
Putin, der Universalbösewicht
Sensation: Ein selbstkritischer Journalist
Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung
Totalitarismus auf Samtpfoten
Der Mensch als Sklave der Technik
Das neue Feindbild: Autofahrer
Was wir von der NRA lernen können

Fotos: RIA Nowosti, Wikipedia/NYyankees51.

Sonntag, 20. Juni 2010

Aufruhr in Kirgisistan


Die vergangenen Monate waren voller überraschender Wendungen für die Beobachter der politischen Ereignisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Im Mai/Juni-Heft der Zeitschrift Internationale Politik erschien eine Abhandlung von Antje Kästner und Julia Bader, in dem behauptet wurde, daß Rußland autoritäre Regime in Eurasien stützen würde, wobei der ehemalige kirgisische Staatschef Kurmanbek Bakijew als Beispiel galt. Selbiger Aufsatz war freilich bei seinem Erscheinen schon veraltet, denn in der ersten Aprilhälfte war es in Kirgisistan zu gewalttätigen Unruhen gekommen, in deren Folge Bakijew abdanken mußte. Er, der 2005 durch die sog. Tulpenrevolution an die Macht gekommen war, wurde von seinem Volk auf dieselbe Art und Weise wieder aus dem Amt gejagt. Als Übergangspräsidentin übernahm Rosa Otunbajewa die Macht.
Bald danach kamen neue Gerüchte auf, die vor allem von englischsprachigen Medien verbreitet wurden: Der Aufstand, welcher zu Bakijews Sturz geführt hatte, sei von Moskau initiiert worden, um die geopolitische Stellung der USA zu schwächen. Irgendwelche Belege dafür ließen sich zwar nicht finden, doch gilt offenbar mancherorts die Grundregel, daß Putin und Medwedew im Zweifelsfall immer die Bösen sind.

Nun sind in den letzten Wochen im Süden Kirgisistans, im Ferghanatal rund um die Stadt Osch neue Unruhen aufgeflammt, die einen stark ethnischen Anstrich trugen und sich zuvörderst gegen die dort lebende usbekische Minderheit von fast einer Dreiviertelmillion Menschen richteten. Das Ferghanatal war bereits 1990 Schauplatz zwischen-ethnischer Gewaltausbrüche, die nur durch längere und massive Präsenz der damals noch sowjetischen Sicherheitskräfte zur Ruhe gebracht werden konnten. Tausende bedrohter Usbeken wurden damals über eine Luftbrücke in andere Teile der UdSSR ausgeflogen, wo viele von ihnen noch heute leben.

Nach Ausbruch der neuerlichen Unruhen in Osch und Dschlalabat sind erneut Spekulationen über eine vermeintliche Beteiligung Rußlands ins Kraut geschossen. Würde man diesen Moden folgen, dann ergäbe sich folgendes Bild: Moskau stützt Bakijew, läßt ihn dann fallen, um Otunbajewa an die Macht zu verhelfen, und sechs Wochen später wird wiederum Bakijew unterstützt, der aus seinem Exil in Minsk zum gewaltsamen Kampf gegen die Übergangsregierung aufgerufen haben soll. Das macht alles furchtbar viel Sinn. Man sollte endlich akzeptieren, daß in den Staaten Mittelasiens eigene politische Prozesse ablaufen, die weder von Washington noch von Moskau, weder von Brüssel noch von Peking gesteuert werden können. Das Ausland kann sich bestenfalls mit den Ergebnissen dieser Prozesse arrangieren. (Und es würde mich nicht wundern, wenn die jetzige Hoffnungsträgerin Otunbajewa in einigen Jahren das gleiche Schicksal wie Bakijew ereilen würde.)



Jetzt zu den Unruhen selbst. Meine Kenntnisse der Verhältnisse in Zentralasien sind - ebenso wie die verfügbaren Informationen - sehr beschränkt, weshalb ich zunächst aus einem äußerst lesenswerten Artikel auf NewEurasia.net zitieren möchte:
"[...]

As Managing Editor of neweurasia, I want to take a moment to address something that’s been concerning me throughout the crisis in Southern Kyrgyzstan, namely, the conflation of speculation with fact, ultimately and especially regarding the issue of blame and the problem of evil. To begin with, this is what the international journalistic community thinks it knows and only that: as affirmed by the United Nations’ High Commissioner for Human Rights, it appears that gangs of masked men attacked, in an organized and premeditated fashion, Uzbek and Kyrgyz targets in Osh.

That’s all we know right now. Even the Commissioner is unsure as to these gangs’ intentions, although it’s more than reasonable to conclude they were seeking to provoke a reaction. More importantly, we don’t know who they are. There is no smoking gun — yet. In its place there are a lot of theories buzzing around, everything ranging from Russian special forces to secret agents of the Bakiyev network. But these are only theories at the moment. Until we have hard evidence, e.g., a confession, one that meets international standards of propriety, we do not know what was the plan behind these attacks.

I must remind everyone, especially certain Westerners, that this is not some board game of Risk or hermetically sealed thought experiment in a military lab. The city of Osh has been burned down. The old methodology of identifying likely suspects by who would profit the most from a situation simply doesn’t work. Let’s use the Bakiyev network as an example: even if they didn’t expect the violence to get so out of control, why would they have taken the risk knowing that the interim government would likely blame them anyway? And that’s exactly what has happened, by the way.

That leads me to the next important point: the scale of the violence clearly indicates that there is no easy villain in this. You cannot blame Bakiyevists, mafiosos, Russian special services, Islamist terrorists, or space aliens for the immense and gratuitous bloodletting of the past week. Some bloggers have tried to argue that the extremism of the violence couldn’t have come from “mere” ethnic tension, but they underestimate that there are some chasms in the human soul that are too dark for decency.

That means you also cannot conveniently blame the Kyrgyz military, nation-state, or the entire ethnic group, either. You want to call this a “genocide” and a “conspiracy”? Until you can offer me rigorous proof of a systematic basis for the tragedy, I as a journalist and an academic won’t allow you to call it that. Why? Because truth is what is at stake, and at stake in truth is justice and real human lives.

[...]"
Die Ereignisse an sich sind schlimm genug, da müssen nicht noch dramatische (Verschwörungs-)Theorien erfunden werden. Zur weiteren Vertiefung möchte ich auf die hervorragenden Webseiten bzw. Blogs New Eurasia und Registan sowie die entsprechende Rubrik von RIA Nowosti verweisen, die an Sachkenntnis und Landeskunde schwer zu übertreffen sind.



Nun zu einem anderen Thema. Wie sollen die Unruhen erstickt werden? Vor einer Woche hatte die kirgisische Übergangsregierung zunächst in Washington angefragt, ob die USA zumindest "Riot control"-Ausrüstung liefern könnten. Dies ist abschlägig beschieden worden. Danach wurde die rußländische Regierung um die Entsendung von Truppen in die Unruheregion gebeten. Auch dies ist bis heute nicht erfolgt. Dies wird z.T. sehr kontrovers diskutiert - siehe z.B. "Russia’s Osh Test", "Explosion of violence in Kyrgyzstan: Moscow wins?" und "Konflikt in Kirgistan: Was muss Russland jetzt tun?" (die Lektüre dieser drei Texte wird empfohlen).

Die Lage in Osch und Umgebung ist auch für Moskau höchst unübersichtlich. Da ist der ethnische Konflikt, da sind ordinäre kriminelle und Drogenhändler, da ist die Möglichkeit einer usbekischen Militärintervention im Nachbarland, da sind geopolitische Faktoren wie etwa das Verhältnis zu den USA, wo eine russische Intervention womöglich als "Muskelspiel des Kremls" verurteilt würde. Und zumindest in Usbekistan sind auch islamistische Gruppen aktiv.
Mithin hatte die russiche Regierung auf eine breit angelegte Regelung im Rahmen der Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit (OVKS) angestrebt. Die OVKS hat sich in den letzten Jahren auf ähnliche Szenarien vorbereitet, u.a. indem Anti-Terror-Übungen durchgeführt und gemeinsame Krisenreaktionskräfte gebildet wurden. Doch aus einer gemeinsamen Intervention zur Unterstützung der kirgisischen Übergangsregierung wird anscheinend nichts. Die Gremien der OVKS haben getagt (es hat sogar Konsultationen mit der NATO gegeben), doch zu einem Marschbefehl konnte man sich nicht durchringen.

Die Absage aus Belarus kam nicht überraschend, denn die weißrussische Regierung verfolgt seit Jahren eine äußerst defensive und zurückhaltende Sicherheitspolitik, die Kampfeinsätze von Truppen außerhalb des eigenen Staatsgebietes de facto ausschließt. Entscheidend dürfte die Weigerung Kasachstans gewesen sein, einer Intervention zuzustimmen. Das Land grenzt im Süden sowohl an Usbekistan als auch an Kirgisistan, weshalb ihm in jedem Fall eine wichtige Rolle zukäme (Überflugrechte, Truppentransit usw.). Zu mehr als humanitären Hilfslieferungen für die abertausenden Flüchtlinge, der Entsendung einer Beobachtergruppe (inkl. nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit) und weiterer technischer Unterstützung hat es nach derzeitigem Stand nicht gereicht. Und angesichts des Abflauens der Unruhen könnte sich das Thema ohnehin bald erledigt haben.

Das zeigt - neben gewissen politischen Befindlichkeiten (Bakijews Asyl in Belarus) und völkerrchtlichen Rücksichtnahmen (Stichwort: innerer Konflikt, vgl. auch Artikel 5 der OVKS-Charta) - auch die praktischen Schwierigkeiten bei der Eindämmung solcher Unruhen. Mit ausländischer Militärpräsenz alleine wäre es ja nicht getan, diese Kräfte müßten auch handeln. Doch was sollten sie angesichts der komplexen kirgisischen Gemengelage tun? Massenhafter Schußwaffeneinsatz gegen nur teilweise bewaffnete Randalierer wäre vielleicht zielführend, verbietet sich aber aus rechtlichen und ethischen Erwägungen. Und wie kommt man aus diesem Sumpf wieder heraus, wenn man einmal darin involviert ist? (Aus guten Gründen verzichten auch die USA auf ein militärisches Eingreifen, obwohl sie in Kirgisistan eine Luftwaffenbasis unterhalten.)





Am 15. Juni stellte sich das wie folgt dar:
"[...]

Bei einem Treffen mit Russlands Präsident Dmitri Medwedew gab OVKS-Generalsekretär Nikolai Bordjuscha zu verstehen, dass die Entsendung von Friedenstruppen nicht erwogen werde. Beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) sagte Medwedew, eine Intervention von OVKS-Truppen in Kirgisien sei nicht geplant, doch am Sonnabend wandte sich die kirgisische Übergangsregierungschefin Rosa Otunbajewa mit der Bitte an Russland, in den Süden Kirgisiens Friedenssoldaten zu entsenden. Dafür sprach sich auch der gestürzte Präsident Kurmanbek Bakijew aus.

Laut OVKS-Satzung werden Friedenseinsätze in den Mitgliedsländern der Organisation von den Präsidenten gefasst, und zwar unter Berücksichtigung der nationalen Gesetzgebung und nach einer offiziellen Bitte des betreffenden Mitgliedsstaates. Nach Otunbajewas Bitte könnten Friedenssoldaten entsendet werden, doch wolle sich niemand in diese Situation verwickeln lassen, sagt Wladimir Scharichin, Vizedirektor des Moskauer GUS-Instituts: Die Entsendung eines Truppenkontingents wäre eine extreme Maßnahme.

Der russische Politologe Alexej Wlassow ist der Ansicht, die Entsendung der Friedenstruppen müsse als Konsens beschlossen werden - es müssen also alle sieben Präsidenten der OVKS-Länder dafür stimmen. Die Meinungen der Experten würden auseinandergehen, meint Wlassow. Einige von ihnen hofften, die OVKS werde die Differenzen überwinden und die Entsendung von Friedenssoldaten beschließen, was jedoch nicht der Fall gewesen sei: Was gehen die Ereignisse im fernen Kirgisien Armenien oder Weißrussland an?

[...]"
Die Entscheidung, die Übergangsregierung materiell und begrenzt personell zu unterstützen statt eigene Soldaten nach Kirgisien zu entsenden, war möglicherweise besser. Die kirgisischen Sicherheitskräfte kennen ihre "Pappenheimer" und können mit ihnen entsprechend umgehen. Ausländische Truppen wecken immer negative Emotionen unter den Einheimischen und werden somit leicht zur Zielscheibe von Anschuldigungen oder gar Angriffen. Zudem wäre ein Eingreifen von außen - wie das Beispiel von 1990 lehrt - langwierig und kostspielig und sein Ende möglicherweise unabsehbar. Schließlich wird sich die kirgisische Regierung - sofern es tatsächlich gelingt, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen - von ihrem Volk nicht vorwerfen lassen müssen, daß sie nur eine Marionette des Auslands sei und ihre Macht auf den Bajonetten fremder Truppen beruhe.





Abschließend noch eine Beobachtung über den Verlauf der Unruhen und die Bewaffnung der Randalierer. Medienberichte und Fotos aus Osch zeigen eindeutig, daß die Gewalttäter zunächst fast nur mit improvisierten Waffen wie Metallrohren, Speeren, Messern u.ä. ausgerüstet waren (siehe auch das obige Video). Erst die Erstürmung von Polizeistationen und Armeekasernen führte zum massenhaften Auftauchen von Schußwaffen in ihrer Hand. Mithin war es - wie schon zuvor in vielen Bürgerkriegen - nicht etwa ein laxes Waffenrecht oder privater Waffenbesitz, der zu der hohen Zahl von Opfern beigetragen hat. Vielmehr waren es die offenbar unzureichend gesicherten Behördenwaffen. Man könnte jetzt versuchen, noch weitere Lehren aus den tragischen Ereignissen zu ziehen, doch wären diese angesichts der schwierigen Informationslage reine Spekulation.


Verwandte Beiträge:
Fehleinschätzungen in Washington
Spetsnaz I: Die Gruppe "Alfa" 1974-1991
Spetsnaz IV: Einsätze von Alfa und Vympel seit 1992
Die Militärbezirke werden abgeschafft
Weitere Anschläge im Nordkaukasus
Wahlspiele in der Ukraine

Fotos: RIA Nowosti; Karte: Wikipedia.

Samstag, 5. Juni 2010

Die Militärbezirke werden abgeschafft


Die Beobachtung der im Herbst 2008 begonnenen, großangelegten Militärreform in der Rußländischen Föderation ist hier auf Backyard Safari bis dato zu kurz gekommen. Aber es läßt sich jetzt schon sagen, daß diese Reform – im Gegensatz zu vorherigen Versuchen – tatsächlich ins Werk gesetzt wird und so die russischen Streitkräfte vollständig umkrempelt. Die bisherigen Strukturen, die großteils noch auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurückgehen, wurden und werden durch andere abgelöst. Waren sie bisher auf ein Millionenheer und großangelegte Operationen ausgerichtet, so werden sie nicht nur quantitativ reduziert, sondern komplett umgebaut, um den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Einer der politischen Auslöser waren die in der Vergangenheit sowohl 1999/2000 in Tschetschenien als auch 2008 in Südossetien gemachten Erfahrungen, daß die RF, obwohl sie nominell über eine große Armee verfügt, bestenfalls fähig ist, etwa 65.000 Mann tatsächlich ins Feld zu führen. Der Rest des Personals hat sich selbst oder irgendwelche Depots bewacht, Radar- und (mangelhafte) Funkstationen bedient o.ä. Ziel waren also effizientere und effektivere Streitkräfte.

Einige der wichtigsten Eckpunkte der Militärreform sind:
1. Auflösung aller Mobilmachungstruppenteile, die nur zu 30 bis 50 % mit Personal aufgefüllt waren, aber bereits in Friedenszeiten über den vollständigen Offiziersbestand verfügten. Hier werden auch die meisten der insgesamt rund 200.000 abgebauten Offiziere eingespart. Die russische Armee wird somit nur noch über vollaktive Einheiten verfügen.
2. Drastische Reduzierung des Personals, das im Verteidigungsministerium, im Generalstab und in anderen Militärbehörden tätig ist sowie die Auslagerung und Privatisierung von Dienstleistungen (ähnlich der deutschen Bundeswehr). Insgesamt wird der Personalbestand von 1,2 auf 1 Million Mann reduziert, davon knapp 300.000 in den Landstreitkräften.
3. Umbau der Landstreitkräfte durch Verzicht auf die als schwerfällig geltenden Regiments- und Divisionsstrukturen. Statt dessen wurden „Allgemeine Brigaden“ (russ.: Obschtschewojskowye brigady) geschaffen, die mit ihren Motorisierten Schützen- und Panzerbataillonen das Rückgrat des Heeres bilden. Derzeit existieren 39 Allgemeine Brigaden. Deren Anzahl könnte sich irgendwann noch bis auf die angedachte Zahl von 85 erhöhen (wenn die Reste der alten Armeestruktur aufgelöst sind), doch zunächst muß die genaue Organisation der Brigaden festgeschrieben werden. Insofern werden zur Zeit verschiedene Modelle diskutiert.
4. Die Fliegerkräfte sämtlicher Waffengattungen und Teilstreitkräfte (mit Ausnahme der Strategischen Raketentruppen) sind in die Luftstreitkräfte überführt worden.
5. Dazu kamen noch zahlreiche weitere Maßnahmen, z.B. die Reduzierung des Grundwehrdienstes auf 12 Monate im Jahre 2008, Änderungen in der Offiziersausbildung, Gründung eines bisher nicht gekannten Unteroffizierskorps, das nicht mehr aus besonders guten Wehrpflichtigen, sondern nur noch aus Berufs- und Zeitsoldaten besteht u.v.a.m.

Das in aller Kürze. Einen guten Überblick über die Reform bieten in deutscher Sprache dieser Artikel von RIA Nowosti, dieser Beitrag von Frank Preiß sowie der Beitrag „Mehr als ein neuer 'Look'“ in der Frankfurter Allgemeinen vom 02.12.2009. (Sonst ist die Rußlandberichterstattung der FAZ eher mit Vorsicht zu genießen, wenn etwa behauptet wird, daß Moskau die Schwelle für den Atomwaffeneinsatz senken werde, um leichter damit „drohen“ zu können. Dem ist jedoch nicht so, die neue Militärdoktrin sagt etwas gegenteiliges.)
Viele weitere, wichtige Informationen sind diesem und jenem Weblog zu entnehmen. Da die Ähnlichkeit zu der schon vor Jahren in Belarus erfolgreich durchgeführten Militärreform unverkennbar ist, möchte ich ergänzend noch auf diese Arbeiten über die weißrussische Armee hinweisen.

Die bereits vollzogenen Reformschritte haben keinen Bereich der russischen Armee unberührt gelassen und sie entsprechend durcheinandergeschüttelt – die Ergebnisse der im vergangenen Jahr durchgeführten Manöver waren entsprechend negativ. Die öffentliche Kritik an Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow ist heftig (und nur selten höflich formuliert) und es dürfte noch einige Jahre dauern, bis sich die erwarteten positiven Folgen zeigen.



Die Reform scheint langsam zum Dauerzustand zu werden (wofür man in der Bundeswehr den Begriff Transformation verwendet). Dieser Tage ist bekannt geworden, daß es auch den traditionellen Militärbezirken, in denen die gesamte Armee mit Ausnahme der Marine organisiert ist, an den Kragen gehen wird. Das System der Militärbezirke (MB), wie es bis heute existiert, geht auf einen Befehl von Leo Trotzki aus den Anfangsjahren der Sowjetmacht zurück, der wiederum auf Vorläufer aus der Zarenzeit aufbauen konnte. Die Militärbezirke waren nicht nur eine militärische Verwaltungsorganisation, sondern bildeten zugleich im Kriegsfall die operative und teilstreitkraftübergreifende „Front“.

Die derzeit existierenden sechs Militärbezirke sollen nun zum Jahresende aufgelöst werden. Statt dessen werden vier „Operativ-strategische Kommandos“ (OSK) gebildet, denen wahrscheinlich sämtliche nicht-strategischen Verbände der Land-, Luft- und Seestreitkräfte unterstellt werden. Die Idee solcher „joint commands“ stammt natürlich aus den USA. In der sowjetischen bzw. russischen Militärgeschichte gab es derartige Kommandos lediglich im Rahmen des Warschauer Vertrages, z.B. das Kommando des westlichen Kriegsschauplatzes. Das waren aber ganz andere Größenordnungen als heute, wo es primär um flachere Hierarchien und weniger „Verwaltung der Verwaltung“ geht, welche kosten- und zeitintensiv ist. Während der zurückliegenden 15 Jahre wurde in russischen Militärkreisen unter dem Stichwort „strategische Richtungen“ mehrfach über Alternativen zu diesem System, das nur bei einem riesigen Multimillionenheer effizient ist, nachgedacht, aber nichts davon realisiert (sofern man von einem kurzzeitigen Experiment im Fernen Osten absieht).

Die neuen OSKs werden im folgenden kurz vorgestellt. (Als Grundlage diente mir primär dieser Artikel des Militäranalysten Alexander Chramtschichin vom 21.05.2010. Chramtschichin ist am [privaten] Institut für politische und militärische Analyse tätig und stand der ehemaligen [liberalen] Partei SPS nahe. Seine Texte, die bisweilen auch von RIA Nowosti übersetzt werden, sind von großer Nüchternheit geprägt und kommen ohne ideologische Nebelkerzen aus. Die nachfolgend gezeigten Karten stammen aus dem Jahr 2006 und stellen die noch bestehenden Militärbezirke, aus denen die OSKs gebildet werden, sowie die in diesen zum damaligen Zeitpunkt – also noch vor Beginn der Militärreform! – dislozierten Einheiten und Verbände dar. Die [noch] aktuellen Gliederungen können den verlinkten Wikipedia-Seiten der MBs entnommen werden.)





Operativ-strategisches Kommando West

Hauptquartier: Sankt Petersburg. Es wird aus den Land- und Luftstreitkräften des Moskauer Militärbezirks und des Leningrader Militärbezirks gebildet; außerdem werden ihm die Baltische Flotte und die Nordmeerflotte sowie die im Kaliningrader Gebiet stationierten Verbände unterstellt. Das OSK West wird somit – nach heutigem Stand – über folgende Kräfte und Mittel verfügen:

Landstreitkräfte: 9 Allgemeine Brigaden (2 Panzer- und 7 Mot. Schützenbrigaden; dazu kommen noch 2 Marineinfanteriebrigaden bei den beiden Flotten), 6 Raketen- bzw. Artilleriebrigaden, 2 Flugabwehrbrigaden, 5 Basen für die Aufbewahrung von Kampftechnik (für den Mobilmachungsfall).
Luftstreitkräfte/Luftverteidigung: 21 Fliegerbasen (es gibt keine Fliegerregimenter mehr), 2 Flugabwehrbrigaden und 20 Flugabwehrregimenter.
Seestreitkräfte: vgl. hier und hier.

Das alles verteilt sich auf einen geographischen Raum, der von Murmansk und Archangelsk im Norden über Belgorod im Südwesten bis nach Nishnij Nowgorod im Osten reicht und an folgende Staaten grenzt: Norwegen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Belarus (mit dem die RF im Rahmen der OVKS kooperiert), Ukraine sowie Polen (Exklave Kaliningrad). Das sind außerdem die mit am dichtesten besiedelten Gebiete der RF, worin mit Moskau, St. Petersburg und Nishnij Nowgorod auch drei Millionenstädte liegen.
Chramtschichin meint, nachdem er ausführlich Zahlen miteinander verglichen hat, daß diese Kräftegruppierung in etwa der polnischen Armee entspreche und in einer (freilich hypothetischen) Auseinandersetzung mit den in Mittel- und Westeuropa stationierten NATO-Streitkräften hoffnungslos unterlegen wäre.




Operativ-strategisches Kommando Ost

Hauptquartier: Chabarowsk. Wird gebildet aus dem Fernöstlichen Militärbezirk, dem östlichen Teil des Sibirischen Militärbezirks und der Pazifikflotte. Ihm stünden wohl folgende Kräfte und Mittel zur Verfügung:

Landstreitkräfte: 10 Allgemeine Brigaden (1 Panzer- und 9 Mot. Schützenbrigaden; plus 1 Marineinfanteriebrigade der Pazifikflotte), 1 MG-/Artilleriedivision (Küstenverteidigung), 9 Artillerie- bzw. Raketenbrigaden, 4 Flugabwehrbrigaden, 12 Basen für die Aufbewahrung von Kampftechnik.
Luftstreitkräfte/Luftverteidigung: 13 Fliegerbasen, 8 Flugabwehrregimenter.
Seestreitkräfte: vgl. hier.

Chramtschichin stellt an dieser Stelle ebenfalls Vergleiche mit den Streitkräften der Nachbarstaaten Japan und China an und konstatiert auch für das OSK Ost eine eindeutige Unterlegenheit Rußlands. Die Mobilmachungsbasen liegen relativ nahe an der Grenze, weshalb sie im Zweifelsfall eher einem eventuellen Gegner als der russischen Armee helfen dürften. Zudem sei die für die Logistik existentiell wichtige Transsibirische Eisenbahn ungeschützt und könne wegen ihrer grenznahen Lage leicht durch Luftschläge oder Kommandounternehmen unterbrochen werden.
Ähnliches gilt für das in Chabarowsk residierende Hauptquartier des OSK Ost. Die Stadt liegt am Amur nahe der Grenze zu China und wäre somit – ebenso wie St. Petersburg im Westen – im Falle eines großen Krieges kaum zu schützen.





Operativ-strategisches Kommando Süd

Hauptquartier: Rostow am Don. Es wird aus dem Nordkaukasischen Militärbezirk, den südlichen Teilen des Wolga-Ural-Militärbezirks, der Schwarzmeerflotte und der Kaspischen Flottille gebildet.

Das Hauptaufgabengebiet dieses OSK liegt naturgemäß in Kaukasusraum. Dazu kommt die Unterstützung verbündeter Staaten wie etwa Armenien, wo derzeit zwei Mot. Schützenbrigaden sowie Fliegerkräfte stationiert sind. Die genaue Zusammenstellung der Kräfte und Mittel ist aufgrund der noch unklaren Aufteilung des Wolga-Ural-MB bisher nicht bekannt, doch wird das OSK Süd zumindest die Verbände des heutigen Nordkaukasischen MB verfügen, die im Bereich der Landstreitkräfte u.a. wären: 10 Allgemeine Brigaden (Mot. Schützen, inkl. der in Armenien), 4 Artillerie- bzw. Raketenbrigaden.




Operativ-strategisches Kommando Mitte

(Wird in manchen Quellen auch als OSK Nord bezeichnet.) Hauptquartier: Jekaterinburg. Es wird aus dem westlichen Teil des Sibirischen Militärbezirks und dem größten Teil des Wolga-Ural-Militärbezirks gebildet und verfügt aus geographischen Gründen als einziges OSK über keine unterstellten Seestreitkräfte.

Das Gebiet des OSK Mitte grenzt lediglich an Kasachstan, mit dem Rußland im Rahmen der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) sowie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) eng kooperiert. Mithin besteht die Hauptaufgabe des OSK Mitte im Bereitstellen von Kräften und Mitteln als Reserve für die drei übrigen OSKs sowie ggf. für die anderen Mitgliedsstaaten von OVKS und SOZ. Hierfür könnten u.a. 6 Allgemeine Brigaden des Heeres zur Verfügung. Weitergehende Details sind auch hier noch unbekannt.



So viel für den Moment. Die Überlegungen hinsichtlich der OSKs sind noch nicht abgeschlossen. So muß beispielsweise noch entschieden werden, ob und, wenn ja, inwieweit die strategischen Truppen (Strategische Raketentruppen, Fernfliegerkräfte, SLBM-tragende U-Boote) den neuen Kommandos unterstellt werden.
Dennoch zeigt sich hier die Intensität, mit der die politische Führung der RF gewillt ist, innerhalb des Militärs alte Zöpfe abzuschneiden – auch gegen erheblichen Widerstand in der veröffentlichten Meinung, deren Kommentatoren manchmal wohl in den Denkmustern des Jahres 1944 befangen bleiben und von gewaltigen Panzerschlachten wie einstmals am Kursker Bogen (alb-)träumen. (Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß jegliche Kritik an der Militärreform und ihrer Umsetzung unsachlich oder gar unredlich sei!) Es bleibt abzuwarten, inwieweit das OSK-Konzept erfolgreich sein wird. Demnächst wird es bei der im Fernen Osten stattfindenden Großübung „Wostok-2010“ erprobt. Vieles hängt auch davon ab, wie gut die neuen Systeme zur automatisierten Truppenführung funktionieren werden.

Die umfassenden Veränderungen an Haupt und Gliedern führen in den rußländischen Streitkräften stellenweise zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. So haben beispielsweise die Luftlandetruppen bisher noch keine Brigadestruktur eingenommen, sondern gliedern sich nach wie vor in 3 Divisionen sowie diverse selbständige Brigaden, Regimenter und Bataillone, die sich in unterschiedlichen Unterstellungsverhältnissen befinden. Ich vermute, daß in ein oder zwei Jahren, wenn sich die neuen Strukturen in der übrigen Armee „eingeschliffen“ haben, auch hier ein großer Umbau, der mit deutlichen Reduzierungen verbunden ist, einsetzen wird.
Ähnliches gilt für die Aufklärungstruppen der Spetsnaz. Bereits 2009 wurden sie dem Generalstab „weggenommen“ und direkt den Militärbezirken unterstellt. Zudem wurden mehrere Spetsnaz-Einheiten aufgelöst – eine Maßnahme, die ebenfalls viel öffentliche Entrüstung hervorgerufen hat. Vermutlich werden die Spezialkräfte, sobald sich die vier OSKs formiert haben, ebenfalls umstrukturiert und an die neue Führungsorganisation angepaßt.



PS: Weitere Aussagen Alexander Chramtschichins sind auch in deutscher Sprache verfügbar, siehe z.B. hier, hier und hier.


Verwandte Beiträge:
Militärreform in Rußland
Krieg im Baltikum
Kein Luftzwischenfall über der Ostsee
Gedanken zur Woche
Spetsnaz: Neue Serie über russische Spezialeinheiten
Sicherheitspolitische Debatten in der RF
AK-200 - Die neuen Kalaschnikows
Von der Katjuscha zur Kursk
Die russische Armee vor dem 1. Weltkrieg

Fotos: www.mil.ru.

Montag, 10. Mai 2010

10.05.2010: Videos des Tages

Die gestrigen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges in Moskau waren schon beeindruckend, auch hinsichtlich ihrer Fähigkeit, verschiedene Altersgruppen (wie beim spätabendlichen Konzert im Lushniki-Stadion) und Nationen anzusprechen. Für letzteres mag eine kleine Episode stehen. Etwa fünf Minuten vor Beginn der Parade gab es eine interessante Szene, die zumindest im russischen Fernsehen beobachtet werden konnte. Dutzende von Staatsgästen begaben sich vom Kreml auf die Zuschauertribüne. Angeführt wurde der Troß von Dmitrij Medwedew - und Angela Merkel. Danach saß die Kanzlerin neben Wladimir Putin, mit dem sie sich intensiv unterhalten hat.

Auch die Berichterstattung der Medien war - wie seit vielen Jahren! - völlig frei von jeglicher Form der Germanophobie. Man gedachte der Abermillionen von Opfern - den Gefallenen, den verhungerten Zivilsten, jenen, die in KZs und dem Gulag (!) leiden mußten etc. Die Erinnerung ist lebendig, aber sie ist Geschichte und kein Gegenstand der aktuellen Politik gegenüber den 1945 Besiegten.

Wer sich die gestrige Militärparade noch einmal ansehen will, kann dies in den beiden folgenden Videos, die über englische Kommentare verfügen, tun.
(Am Freitag hatte ich dem WDR unrecht getan, denn die Phoenix-Übertragung der Parade war überraschend gut. Dort war ausnahmsweise ein kompetenter Kommentator zugegen.)








Dann waren da noch die beiden, höchst würdigen Feiern am Grabmahl des unbekannten Soldaten (am Samstag mit den Präsidenten der Ukraine, Weißrußlands und der RF, am Sonntag mit den übrigen Staats- und Regierungschefs) sowie die landesweite Gedenkminute um 19.00 Uhr.
(In puncto angemessener Selbstdarstellung hat der deutsche Staat der Gegenwart noch Nachholbedarf.)








Gefeiert wurde nicht nur in Moskau, sondern in vielen Städten in der gesamten früheren UdSSR, u.a. in Kiew, Minsk, Brest, Wolgograd (ehem. Stalingrad), Rostow am Don und St. Petersburg. Die Erinnerung an den 2. WK und die großen Opfer verbindet diese Völker, ungeachtet eventuell vorhandener aktueller politischer Differenzen.





Am Sonntagabend um 22.00 Uhr gab es in Moskau noch einen 65-schüssigen Artilleriesalut inklusive großem Feuerwerk, von dem das folgende Video zeugt:





Verwandte Beiträge:
Die Feierlichkeiten zum Kriegsende

Sonntag, 14. Februar 2010

Spetsnaz I: Die Gruppe "Alfa" 1974-1991

Entgegen populären Vorstellungen vom „Reich des Bösen“ war die Sowjetunion keineswegs ein monolithischer, von der Außenwelt hermetisch abgeschlossener Block. Die kaukasischen und mittelasiatischen Sowjetrepubliken waren immer der „weiche Unterleib“ des roten Reiches. Dort führten ethnische, religiöse, politische und kriminelle Motive regelmäßig zu Spannungen und Gewaltausbrüchen. Der Bürgerkrieg ist stellenweise nie richtig beendet worden; Teile der genannten Regionen wurden nur oberflächlich sowjetisiert. Daher überrascht es nicht, daß Sicherheitstruppen in der SU immer eine große Rolle spielten. Gerade der Dienst in den Grenztruppen konnte bisweilen ein echtes Abenteuer sein. Doch auch im Landesinnern kam es zu Gewaltakten wie Bombenanschlägen (z.B. 1977 in Moskau) oder Flugzeugentführungen (mehrere zu Beginn der 1970er Jahre). Neben ordinären Kriminellen und Extremisten unterschiedlicher Couleur stellten Wehrpflichtige, die unter Mitnahme ihrer Waffen desertierten, ein beachtenswertes Problem dar.

Doch die Initialzündung für die Aufstellung einer polizeilichen Spezialeinheit war auch in der UdSSR der Angriff auf die Olympischen Sommerspiele 1972 in München. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch mehrere Anschläge auf den zivilen Luftverkehr, auf welche die sowjetischen Sicherheitsorgane nur unzureichend reagieren konnten. Am 18.05.1973 versuchte ein Passagier einer Tu-104, die sich auf dem Flug von Moskau nach Tschita befand, die Weiterreise nach China zu erzwingen. Ein an Bord befindlicher Milizbeamter eröffnete das Feuer auf den Entführer – mit einem verheerenden Resultat: Infolge einer Beschädigung der Kabine stürzte das Flugzeug aus einer Höhe von 6600 m ab, es gab keine Überlebenden.



Angesiedelt war die neue Einheit wegen der besonderen Brisanz des Themas im Komitee für Staatssicherheit (KGB). Am 29.07.1974 unterzeichnete der KGB-Vorsitzende Andropow den Aufstellungserlaß der Gruppe „A“, die später (eher inoffiziell) auch Alfa“ genannt werden sollte. Angesiedelt war die Gruppe in der für Be- und Überwachungsaufgaben zuständigen 7. Verwaltung des KGB, d.h. sie gehörte weder zur Auslandsaufklärung noch zur Spionageabwehr i.e.S., sondern zu einem eher technischen Bereich.

Der Schwerpunkt sollte von Beginn an auf klassischen Anti-Terror-Operationen, insbesondere bei Geiselnahmen und Flugzeugentführungen, liegen. Erster Kommandeur wurde der damalige Oberleutnant Witalij Bubenin (letzter Dienstgrad: Generalmajor). Bubenin hatte zuvor in den Grenztruppen gedient und sich bereits 1964 während eines Gefechts um die Damanskij-Insel ausgezeichnet. (Die Grenztruppen wurden zum bevorzugten Rekrutierungsfeld der Spezialeinheiten des KGB [und sind es, wenn man bekanntgewordene Biographien liest, bis heute]. Schließlich brauchte man Personal mit einem eher militärischen Hintergrund, den viele operative Mitarbeiter in den nachrichtendienstlichen Bereichen des KGB nicht besaßen.)
Zum Personalbestand von „Alfa“ gehörten (und gehören auch heute) fast ausschließlich Offiziere und Berufsunteroffiziere (Praportschniki – entsprechen den Fähnrichen der NVA). Das sichert ein für die Spezialaufgaben erforderliches hohes (Aus-)Bildungsniveau sowie die nötige Verweildauer in der Einheit.



Der Aufbau der Gruppe „A“ war – ähnlich den Sondereinheiten in Westeuropa – von vielen Experimenten, bisweilen skurril anmutenden Ideen und dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ geprägt. Es gab keine fertigen Dienstvorschriften, ja nicht einmal konkrete Vorbilder, auf die man hätte zurückgreifen können. Die Auslandsaufklärung hatte ein paar amerikanische Publikationen über die Delta Force beschafft, die von den ersten Alfa-Kämpfern eifrig rezipiert worden sind. Auf dem gleichen Weg gelangten einige M-16-Gewehre und UZI-MPis in das Arsenal der Einheit, so daß eine umfassende Schießausbildung betrieben werden konnte, die über die klassische Kalaschnikow hinausging. Einige Sonderwaffen (z.B. Scharfschützengewehre) entstanden später auch in Kleinserien in der Tulaer Waffenfabrik (TOZ).
Ansonsten übte man alle möglichen Techniken, von denen man annahm, daß sie für eine derartige Einheit relevant sein könnten: Nahkampf, Fallschirmspringen, Gebirgsausbildung, Tauchen etc., wobei vieles noch an klassischen militärischen Konzepten ausgerichtet war. Zugleich machten sich die Angehörigen mit möglichen Einsatzorten wie Flugzeugen, Flughäfen, Waggons, Bahnhöfen, Passagierschiffen oder auch der Moskauer Kanalisation vertraut.

Das Auftreten der Alfa-Kämpfer in den 1970er Jahren unterschied sich im Hinblick auf Uniformierung und persönliche Ausrüstung kaum von der regulären Sowjetarmee. Allerdings haben bereits damals Versuche mit kugelsicheren Westen aus Titan und Kevlar begonnen. Es wurde außerdem mit chemischen Mitteln wie z.B. Tränengas experimentiert.
Der Aufbau von Alfa vollzog sich unter größter Geheimhaltung. Veteranen berichten, daß sie sogar formell aus dem Staatsdienst entlassen wurden sind, aber trotzdem ihre neue Arbeitsstelle sogar vor der eigenen Familie verheimlichen mußten.
Doch das lange und intensive Training zahlte sich aus. Die KGB-Führung war von den Fähigkeiten ihres neuen Werkzeugs überzeugt und übertrug der Gruppe „A“ zunehmend Sicherungsaufgaben bei Staatsbesuchen und anderen, als heikel erscheinenden Anlässen.



Im April 1977 sah Bubenin die Aufstellung als weitgehend abgeschlossen an und ließ sich von Andropow zurück in die Grenztruppen versetzen. Sein Interimsnachfolger wurde Robert Iwon, der jedoch bereits im November 1977 wieder zum Stellvertreter wurde. Denn dann kam ein Kommandeur, der Alfa nachhaltig prägte und dessen Name noch heute am stärksten mit der Einheit verbunden ist: Gennadij Sajzew (letzter Dienstgrad: Generalmajor). Sajzew diente nicht nur von 1977 bis 1988 als Chef der sowjetischen Gruppe „A“, sondern nach dem Ende der UdSSR noch einmal von 1992 bis 1995 als Kommandeur der rußländischen Alfa. Er hatte seinen Dienst 1953 als Wehrpflichtiger im Kreml-Regiment begonnen (das Regiment unterstand wie die Grenztruppen dem KGB) und war danach viele Jahre in der 7. Verwaltung tätig, wo er u.a. als Personenschützer für Andropow eingesetzt wurde. Sajzew genießt heute in Rußland einen ähnlich legendären Ruf wie Ulrich Wegener in Deutschland.



1979 war ein turbulentes Jahr für die Gruppe „A“. Im März hatte ein psychisch gestörter Mann in Moskau den Zweiten Sekretär der US-Botschaft angegriffen, wobei auch Alfa-Männer zum Einsatz kamen. Der Dezember brachte dann den ersten großen und vielbeachteten Einsatz der Einheit – allerdings in einer völlig artfremden Rolle. Nicht als Terroristenjäger, sondern als Diversanten, verkleidet mit afghanischen Uniformen, sind einige Angehörige der Gruppe „A“ (zusammen mit anderen Sondereinheiten des KGB, der GRU und Fallschirmjägern) am 27.12.1979 in Kabul aufgetreten.
Die insgesamt rund 700 Mann starke Streitmacht bestand aus folgenden Kräften: 500 Mann eines rein moslemischen Spetsnaz-Bataillons der GRU, eine Kompanie des 345. Fallschirmjägerregiments sowie 48 Spezialkräfte des KGB, davon 24 aus der Gruppe „A“. Sie hatte zu Beginn des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan die Aufgabe, den bisherigen Staats- und Parteichef Hafisullah Amin auszuschalten und seinen Palast zu besetzen. Die Operation „Sturm-333“ konnte zwar erfolgreich abgeschlossen werden (Amin hatte Selbstmord begangen), doch waren erhebliche Verluste zu verzeichnen.
In den „Schwarzbüchern des KGB“ werden Zahlen genannt, die von den obigen erheblich abweichen. Von den beiden Autoren wird u.a. die starke Beteiligung von Einheiten des Verteidigungsministeriums verschwiegen. Demzufolge kann die dort erwähnte Zahl von 100 in Kabul gefallenen KGB-Angehörigen ebenfalls nicht stimmen, denn so viele waren ja überhaupt nicht im Einsatz. Die Zahl 100 bezieht sich vielmehr auf die Verluste der gesamten Kampfgruppe. Selbige waren mit Sicherheit beachtlich, denn ihnen standen nur ca. 200 afghanische Soldaten gegenüber, die den gut ausgebauten Palast Amins verteidigten. Von den 24 Alfa-Kämpfern sind zwei (Hptm. D. Wolkow, Hptm. G. Sudin) nicht wieder aus Kabul zurückgekehrt. Dafür wurden die überlebenden Soldaten großzügig ausgezeichnet.
Ironischerweise war es dieser untypische Einsatz im Dezember 1979, der den legendären Ruf von Alfa begründen sollte – worüber mancher ehemalige Angehörige der Einheit bis heute nicht glücklich ist.
Von Februar 1981 bis März 1987 wurden insgesamt 140 Alfa-Männer nach Afghanistan zur Bekämpfung der Mudschaheddin abkommandiert. Dort waren sie z.T. in Manöver- und Luftsturmgruppen der Grenztruppen integriert.



Im Jahre 1980 konnte die Gruppe „A“ jedoch wieder zu ihrem Kerngeschäft zurückkehren, denn die Olympischen Sommerspiele machten umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen in Moskau und Tallin, dem Austragungsort der Segelwettbewerbe, erforderlich.
Die 1980er Jahre sahen eine deutliche Zunahme der Einsätze zur Terrorabwehr. Am 18.12.1981 nahmen zwei bewaffnete Deserteure in Sarapul (Udmurtien) die Schüler einer zehnten Klasse als Geiseln. Es gelang den aus Moskau eingeflogenen Alfa-Kräften, sie am folgenden Tag zur Aufgabe zu bewegen. Überhaupt konnten erstaunlich viele Einsätze ohne Abgabe eines einzigen Schusses beendet werden, wobei sich Gennadij Sajzew mehrfach als geschickter Verhandlungsführer erwies. Erstaunlich deshalb, weil das Image der sowjetischen (und heute der rußländischen) Spezialeinheiten im Ausland doch stark in die Richtung von rücksichtslosem Gewalteinsatz geht.

Härter ging es am 18./19.11.1983 auf dem Flughafen von Tiflis zu. Sieben Mitglieder einer Terrorgruppe hatten eine Passagiermaschine auf dem Flug von Tiflis nach Leningrad in ihre Gewalt gebracht, dabei fünf Personen getötet und forderten sodann eine Kursänderung in Richtung Türkei. Es gelang dem Piloten jedoch, die Angreifer aus dem Cockpit zu drängen, die Tür zu blockieren und nach Tiflis zurückzukehren. Am 19. November wurde das Flugzeug von Alfa-Kräften gestürmt. Dabei gab es glücklicherweise keine weiteren Opfer unter den Geiseln, allerdings konnten nur drei der Entführer festgenommen werden.
Am 20.09.1986 wurde Alfa wieder zu einer Flugzeugentführung, allerdings noch im Anfangsstadium, gerufen. In Ufa (Baschkirien) hatten drei fahnenflüchtige und bewaffnete Wehrpflichtige eine Tu-134 mit 76 Passagieren und 5 Besatzungsmitgliedern in ihre Gewalt gebracht, wobei zwei Menschen ums Leben kamen. Ihre Forderung: Ein Flug nach Pakistan. Noch in der Nacht stürmte Alfa die Maschine, wobei einer der Entführer getötet und ein zweiter verwundet wurde.



Während man Einsätze, die durch abgängige Soldaten ausgelöst worden sind, durchaus noch als Verzweiflungstaten einstufen kann, welche durch die bisweilen unangenehmen Lebensumstände der sowjetischen Wehrpflichtigen begründet waren, so gab es doch auch Terrorakte, bei denen lupenreine Kriminelle agierten und wo man nicht über eine fadenscheinige politisch-ideologische Rechtfertigung („Freiheitskämpfer“) diskutieren kann.
So z.B. am 01.12.1988 in Ordshonikidse (bei Wladikawkas in Nordossetien gelegen), als vier Banditen einen mit 32 Schülern besetzten Bus kaperten, um mit diesem zum Flughafen von Mineralnyje Wody zu fahren. (Stadt und Flugplatz sollten später in den 1990er Jahren zu einem wahren Tummelplatz von Terroristen werden.) Als sie dort ankamen, waren gerade Alfa-Angehörige aus Moskau eingetroffen. Nach siebenstündigen Verhandlungen ließen sich die Entführer erweichen und die Kinder sowie ihre Lehrerin wurden gegen Waffen, Munition, kugelsichere Westen und Drogen ausgetauscht. Die Terroristen wollten nach Israel ausgeflogen werden, was ihnen von den sowjetischen Behörden auch zugestanden wurde, nachdem das israelische Außenministerium sein Einverständnis signalisiert hatte. Nach ihrer Ankunft auf dem Ben-Gurion-Flughafen wurden sie von israelischen Sicherheitskräften überwältigt und kurz danach an die UdSSR ausgeliefert.
Es erscheint unproduktiv, wenn, wie in diesem Fall, der Staat den Terroristen Waffen liefert, um die Geiseln freizubekommen. Hier ist jedoch zu bedenken, daß die Gruppe „A“ immer nur ausführendes Organ war. Verantwortlich für die Einsatzleitung waren in jedem Fall die örtlichen Dienststellen von KGB bzw. Miliz.



Die Gruppe „A“ hatte sich auch mit niedriger aufgehängten Formen der Gewaltkriminalität zu befassen. So etwa vom 10. bis 12. Mai 1989, als in Saratow Gefängnisausbrecher, die sich in einem Haus verschanzt und Geiseln genommen hatten, wieder eingefangen werden mußten. Eine ähnliche Lage, wenngleich in größerem Umfang, wurde vom 11. bis 15. August 1990 in Suchumi (Abchasien) bewältigt.

Um den zunehmenden Anforderungen aus allen Teilen der SU gerecht zu werden und die Reaktionszeiten von Alfa zu verkürzen, beschloß die Leitung des KGB im Frühjahr 1990 das Aufspannen eines „Anti-Terror-Schirmes“ über dem Land. Dies bedeutete, daß die bisher zentral bei Moskau stationierte Einheit aufgeteilt wurde. In der Folge entstanden in Kiew (10. Gruppe), Minsk (11. Gruppe), Alma-Ata (12. Gruppe), Swerdlowsk (14. Gruppe) und Krasnodar (13. Gruppe) „Filialen“ der Gruppe „A“. Erste Erfahrungen mit dieser Organisationsform hatte man bereits seit Juni 1984 gesammelt, als in Chabarowsk (Ferner Osten) die 7. Gruppe formiert worden war. Letztere hatte damals eine Stärke von 21 Mann; die 1990 gebildeten Gruppen umfaßten jeweils 45 Kämpfer.
In der russischen Wikipedia finden sich erstaunlicherweise folgende Stärkeangaben von Alfa (sogar mit Fundstellen): 1974 – 30 Mann; November 1977 – 52 Mann; Januar 1980 – 122 Mann; Dezember 1981 – 222 Mann. Nähme man die letztgenannte Zahl auch für das Jahr 1991 an und addierte die Stärken der sechs Außenstellen hinzu, so käme man auf eine Gesamtstärke von 468 Mann. Diese Angabe ist jedoch spekulativ und m.E. zu hoch, denn ich glaube nicht, daß die Aufstellung der regionalen Teileinheiten 1984 und 1990 nicht auf Kosten der Zentrale bei Moskau gegangen sein sollte. Ich halte für 1991 eine Gesamtstärke von etwa 400 Mann für realistisch.
Nach der Auflösung der UdSSR wurden die regionalen Alfa-Teams in der Ukraine, Belarus und Kasachstan von den dort neu entstehenden Sicherheitsbehörden (welche ebenfalls aus dem vormaligen KGB entstanden sind) übernommen. Sie firmieren m.W. bis heute – wie ihre Kollegen in Rußland – unter dem Traditionsnamen „Alfa“ und pflegen mit ihnen das gemeinsame Erbe, beispielsweise bei Vergleichswettkämpfen. (Überarbeitet am 16.02.2010.)



Als sich 1990 in der Sowjetunion erste, auch gewaltträchtige Zerfallserscheinungen zeigten, hat Staatschef Gorbatschow – neben anderen Sondereinheiten von Innenministerium, KGB und Armee – auch Alfa aufgeboten, um ihnen zu begegnen. Dabei kam es zu zahlreichen, bisweilen äußerst unappetitlichen Einsätzen, die nicht ohne Verluste abliefen. So z.B. im Januar 1990 in Aserbaidshan (gemeinsam mit den Kollegen von Vympel), im Januar 1991 in Vilnius (Litauen) und, gewissermaßen als Tiefpunkt, während des August-Putsches 1991 in Moskau. (Diese Ereignisse können hier nur kurz erwähnt werden, da ihre Darstellung und politische Einordnung doch sehr viel Platz braucht und somit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden muß.)

Neben ihrem Einsatz als Bürgerkriegstruppe mußten die Männer von Alfa auch weiterhin Einsätze auf ihrem originären Aufgabenfeld leisten – etwa bei der Entführung eines Moskauer Touristenbusses am 07.06.1991, wo erfreulicherweise wieder Verhandlungen, an denen ein Abgeordneter beteiligt war, zur Aufgabe des Täters führten.
Bereits im November 1988 hatte die Gruppe „A“ einen neuen Kommandeur erhalten. Viktor Karpuchin (letzter Dienstgrad: Generalmajor) blieb nur bis zum 23.08.1991, zwei Tage nach Ende des Augustputsches, im Amt und wurde danach von Michail Golowatow (letzter Dienstgrad: Oberst) abgelöst. Doch diese Personalentscheidungen gehören bereits zum Strudel der Auflösung der UdSSR.
Am 31.12.1991 verabschiedete sich das „Paradies der Werktätigen“, dessen Komitee für Staatssicherheit bereits einige Tage zuvor aufgelöst worden war, aus der Geschichte. Was danach passierte, können Sie im dritten und vierten Teil dieser Serie lesen, während wir im nächsten Artikel noch einmal ins Jahr 1979 zurückblenden werden, um den zweiten Zweig der Spezialeinheiten des KGB zu beleuchten (Stichwort: „Vympel“).




Bibliographie

Die im vorliegenden Text verarbeiteten Informationen wurden aus folgenden Quellen geschöpft:

C. Andrew / W. Mitrochin: Das Schwarzbuch des KGB, München 2001.

C. Andrew / W. Mitrochin: Das Schwarzbuch des KGB 2, Berlin 2006.

P. Ewdokimow: „Alfa“. Istorija antiterrora, in: Bratischka 8/2009, S. 2 ff.

P. Ewdokimow: Operazija „Grom“, in: Bratischka 4/2006, S. 36 ff.

P. Ewdokimow: Polkownik Speznasa, in: Bratischka 1/2010, S. 8 ff.

Geschichte der Grenztruppen der UdSSR, Berlin 1988.

W. Gondusow: Gruppa „A“. Natschalo, in: Bratischka 8/2009, S. 8 f.

W. Nitsch: Die Steppenwölfe, in: Visier 7/1992, S. 114 ff.

A. Pljusnin / D. Beljakow: „Tak ush wyschlo, tschto likwidirowal Chafisullu Amina imenno ja…“, in: Bratischka 12/2009, S. 22 ff.

Sa drugi swoja…, in: Bratischka 8/2009, S. 38 f.

G. Sajzew / P. Ewdokimow: Gruppa krowi „A“ (1), in: Bratischka 8/2007, S. 14 ff.

G. Sajzew / P. Ewdokimow: Gruppa krowi „A“ (2), in: Bratischka 9/2007, S. 32 ff.

M. Sotnikow: „Alfa“, stawschaja ego sudboj, in: Bratischka 9/2009, S. 28 ff.

Wikipedia: Alfa (russ.)



Die Kommandeure von Alfa (v.l.n.r.): Golowatow, Bubenin, Andrejew, Sajzew, Gusew, Miroschnitschenko und, ganz rechts, der derzeitige Chef, Generalmajor Wladimir Winokurow.

Verwandte Beiträge:
Spetsnaz: Neue Serie über russische Spezialeinheiten
Spetsnaz II: Die Gruppe "Vympel" 1981-1991
Spetsnaz III: Der FSB nach 1991
Spetsnaz IV: Einsätze von Alfa und Vympel seit 1992
Spetsnaz V: Alfa und Vympel heute
29.07.2009: Video des Tages
Tacticoole Kalaschnikows
11.12.2008: Bilder des Tages
Die militärischen Einheiten der Staatssicherheit I
Die militärischen Einheiten der Staatssicherheit II
01.09.2009: Videos des Tages

Fotos: Bratischka.

Donnerstag, 11. Februar 2010

Wahlspiele in der Ukraine


Die politische Lage in der Ukraine ist seit der "Orangenen Revolution" 2004 immer spannend gewesen und hatte bisweilen einen echten Unterhaltungswert. Bedauerlich ist nur, daß dies in den deutschen Medien meist sehr stereotyp verkauft worden ist. Da gab und hibt es sog. "pro-westliche" Politiker - gemeint sind der scheidende Präsident Viktor Juschtschenko und die Noch-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko - und andererseits sog. "pro-russische" Politiker, womit vor allem auf den vermutlichen Wahlsieger Viktor Janukowitsch abgestellt wird. Doch die Situation in der Ukraine ist erheblich komplexer und wird durch solche extrem simplifizierenden Adjektive nicht einmal ansatzweise korrekt erfaßt.
Hier ist jetzt (leider) nicht der Platz, um eine vollständige Korrektur des medialen Zerrbildes zu leisten; ich muß mich mit einigen kurzen Stichpunkten begnügen.

Die Figur Timoschenko ist doch ziemlich schillernd (um es milde auszudrücken). Diese Frau scheint mir nicht einmal ansatzweise von ideologischen Motiven, sondern ausschließlich vom Willen zur persönlichen Macht getrieben. (Noch viel stärker, als wir es von deutschen Berufspolitikern gewöhnt sind.) Das führt einserseits zu einem ausgeprägten Sinn für Realpolitik (was sie von Juschtschenko unterscheidet), andererseits war Timoschenko in häufig wechselnden Koalitionen zu finden. Im Frühjahr 2007 hat sie beispielsweise in Foreign Affairs noch für eine Eindämmung Rußlands durch die USA plädiert, ein Jahr später ist sie hingegen für eine gedeihliche Kooperation mit der RF in der Gasfrage eingetreten, während Juschtschenko auf stur geschaltet und im Januar 2009 die Pipelines nach Mittel- und Westeuropa zugedreht sowie die Unterzeichnung eines neuen bilateralen Vertrages wochenlang blockiert hat. (Ganz zu schweigen von seinen zahlreichen Drohungen gegen die Regierungschefin.)

Andererseits war sich Juschtschenkos Partei nicht zu fein, kurz vor der Stichwahl mit Janukowitschs Partei der Regionen zusammenzuarbeiten, um das Wahlgesetz zu ändern. Das mag andeuten, wie unscharf ein Begriff wie "pro-westlich" im Kontext der ukrainischen Politik ist. Überhaupt: Was soll dieser Begriff denn aussagen? Was ist denn der "Westen"? Nichts mehr als ein höchst unscharfes Konstrukt, mehr Ideologie denn Realität (vgl. D. Gress: "From Plato to Nato"). Etwas deutlicher ist da schon die Kennzeichnung Timoschenkos als "pro-europäisch". Doch ist diese Zuordnung ebenfalls nicht zutreffend, hat die Ministerpräsidentin doch im Wahlkampf erklärt, sie wolle die Seegrenze zum benachbarten Rumänien (immerhin EU- und NATO-Mitglied) neu ziehen. Insofern dürfte Timoschenkos Wahlniederlage auch für die EU besser sein.

Andererseits ist die Titulierung Janukowitschs als "pro-russisch" maßlos übertrieben. Er wird vermutlich im Kulturbereich die von seinem Amtsvorgänger forcierte "Ukrainisierung" abschwächen. Denn immerhin ist die Sprache, die man heute Ukrainisch nennt, kaum 150 Jahre alt; sie ist nicht nur ein künstliches Konstrukt, sondern außerdem in vielen Teilen des Landes (vor allem im Osten und Süden) bis heute eine Fremdsprache geblieben. Dort spricht man seit altersher Russisch. Doch in hochpolitischen Fragen ist Janukowitschs Spielraum stark eingeschränkt (Stichworte: Wirtschaftskrise und Auslandsverschuldung; siehe dazu auch diese gute Analyse). Die Ukraine hängt finanziell am Tropf des IWF, weshalb dieser einen Gutteil von Janukowitschs Politik bestimmen wird und kein grundstürzender Politikwechsel zu erwarten ist. Vielmehr dürfte Janukowitschs Wahl einen Wechsel des politischen Stils bedeuten: weg von hektischen Emotionen, hin zu einer ruhigen Sachpolitik.

Zudem lehrt das Beispiel des bereits seit 1999 existierenden Unionsstaates zwischen Rußland und Belarus, wie eng begrenzt alle Versuche einer Reintegration im postsowjetischen Raum sind. Wenn manche europäischen und amerikanischen Autoren von der angeblichen Gefahr einer Wiederherstellung der Sowjetunion reden, dann gehen sie lediglich den Blütenträumen einiger Hinterbänkler von einer "Sammlung der slawischen Erde" auf den Leim. In der Realität steht dergleichen nicht zur Debatte. Die schablonenhafte Vorstellung, es gehe in der Ukraine um eine Art Zweikampf zwischen dem (lichten) "Westen" und (dem finsteren) Rußland ist absurd und wird den (geo-) politischen und ökonomischen Gegebenheiten des Landes nicht einmal ansatzweise gerecht.

Dennoch wird sich Janukowitsch stärker als seine "orangenen" Vorgänger um ein gedeihliches Verhältnis zu Moskau bemühen. Das ist jedoch nicht Ausdruck finsterer Absichten, sondern Zeugnis seines Realitätssinnes. Denn der etwa von Timoschenko angestrebte EU-Beitritt der Ukraine würde fast zwangsläufig dazu führen, daß zwischen beiden Staaten die gegenseitige Visapflicht eingeführt würde. Das würde für viele Familien, die Verwandte im jeweils anderen Land haben, erhebliche Erschwernisse mit sich bringen. Was sollen diese Menschen im Gegenzug mit dem möglicherweise visafreien Reiseverkehr in die EU-Staaten anfangen?
Dasselbe Problem stellt sich auch auf volkswirtschaftlicher Ebene. Heute werden ukrainische Staatsbürger als Bürger aus einem GUS-Staat bevorzugt behandelt, wenn es z.B. um die Erteilung von Arbeitserlaubnissen geht. Das würde wohl zwangsläufig wegfallen. Und welcher EU-Staat wäre im Gegenzug bereit, großzügig ukrainische Arbeitskräfte aufzunehmen?
Beispiel Tourismus: Die Krim ist seit Jahrzehnten das bevorzugte Urlaubsziel vieler Russen (und anderer ehem. Sowjetbürger). Wie wollte die dortige Wirtschaft den eventuellen Ausfall dieser Kunden kompensieren? Wären wirklich so viele Deutsche bereit, statt nach Mallorca auf die Krim zu fahren?

Man kommt nicht um die Feststellung herum, daß die kulturellen, ökonomischen und familiären Verbindungen zwischen der Ukraine und Rußland sehr viel enger sind als die mit der EU. Vom Wahlsieger Janukowitsch ist in Zukunft eine Politik zu erwarten, die diesen Tatsachen verstärkt Rechnung trägt. Wir Mittel- und Westeuropäer dürften damit auch einen weiteren, ganz handfesten Vorteil haben: Denn die seit Jahren zu einer sehr häßlichen Neujahrstradition gewordenen Streitigkeiten um den Transit von Erdgas und Erdöl sollten hinfort der Vergangenheit angehören. Vorbei die Zeiten, als Politiker aus der EU nach Kiew reisen mußten, um mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche um die Sicherstellung der europäischen Gasversorgung zu "werben".
Positive Folgen sind auch für die deutsche Wirtschaft zu erwarten. Juschtschenko hat mehrfach ein unangenehmes Doppelspiel getrieben, indem er parallel mit europäischen und amerikanischen Unternehmen verhandelt hat, um im Zweifelsfall letzteren den Vorzug zu geben. (Ob es insoweit wohl einen Zusammenhang mit seiner Ausbildung in den USA und seiner Ehe mit einer Amerikanerin gibt?)

Am deutlichsten wird sich der anstehende Wechsel im Präsidentenamt in der Außen- und in der Geschichtspolitik auswirken. Juschtschenkos Vision eines NATO-Beitritts der Ukraine ist im Volk immer äußerst unpopulär gewesen und wird jetzt ad acta gelegt. Juschtschenko hat sich zu einer Neutralitätspolitik bekannt. Der Verzicht auf den Beitritt zur EU dürfte den Europäern sehr gelegen kommen, schließlich hat man mit den "armen Schluckern" im eigenen Haus schon genug Probleme.

Geschichtspolitisch erwarte ich, daß Janukowitsch von der von seinem Vorgänger betriebenen Heroisierung von NS-Kollaborateuren Abstand nehmen wird. So hatte der noch amtierende Präsident vor kurzem den Separatisten und Terroristen Stepan Bandera zum Helden der Ukraine erklärt, was weltweite Proteste hervorgerufen hat. Die polnische Regierung verurteilte diesen Schritt und man verwies in Warschau darauf, daß das Todesurteil eines polnischen Gerichts gegen Bandera aus den 1930er Jahren nach wie vor rechtskräftig sei. Bandera war damals am Attenat auf einen polnischen Minister beteiligt. In Polen soll es sogar zu Protestdemonstrationen gekommen sein. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum und andere jüdische Funktionäre erinnerten an die Beteiligung Banderas und seiner Organisationen OUN und UNA bei der Vernichtung der ukrainischen Juden während der deutschen Besetzung im 2. WK.
Dies ist ebenfalls ein Thema, welches viele deutsche Medien wohlweislich verschwiegen haben, um den Mythos des angeblich "pro-westlichen" Juschtschenko nicht zu beschmutzen. Und es spricht Bände über die "pro-westliche" Julia Timoschenko, daß sie sich ausgerechnet um Unterstützung durch die Nachfolger der OUN/UPA bemüht hat.

Bleibt zu hoffen, daß Janukowitsch diese Entscheidungen seines Vorgängers, die – gelinde gesagt – zu Irritationen geführt haben, revidiert und sich um die Aussöhnung der beiden Landesteile bemüht, um deren Spaltung sich Juschtschenko so sehr bemüht hat. Denn es war ausgerechnet dieser einstmals strahlende Held der "orangenen Revolution", dessen Politik die Ukraine in die internationale Isolierung treiben könnte – allen NATO- und EU-Ambitionen zum Trotz. Das Schicksal des gewesenen Präsidenten zeigt die Differenz zwischen der Wahrnehmung dieses Mannes im Ausland und im Inland.

Doch der Wahlkrimi scheint noch nicht zu Ende zu sein. Obwohl alle internationalen Beobachter von einer fairen Wahl sprechen und bereits mehrere Staatschefs Janukowitsch zum Wahlsieg gratuliert haben, weigert sich Timoschenko beharrlich, ihre Niederlage einzugestehen. Statt dessen behauptet sie, es habe massive Fälschungen zu ihren Ungunsten gegeben – was nicht einmal mehr ihre eigenen Anhänger überzeugt. Dennoch scheint sie das Wahlergebnis gerichtlich anfechten zu wollen (für Massendemonstrationen wie 2004/2005 fehlt ihr jetzt jedoch das Fußvolk). Hoffentlich ändert sie ihre Haltung schnell, sonst kommt das Land nach mehreren turbulenten Jahren immer noch nicht zur Ruhe und die endlos scheinende Serie von Anschuldigungen und Schlammschlachten geht in eine neue Runde.

Über die neuesten Schach- und Winkelzüge der ukrainischen Politik kann sich der geneigte Leser zeitnah hier und hier informieren; dort passiert zu viel, als daß ich an dieser Stelle vollständig darüber berichten könnte.

Nachtrag: Zwei eher witzige Aspekte muß aber noch vermelden. Nachdem Timoschenko behauptet hatte, ihr Gegner Janukowitsch plane einen Putschversuch, hat der Ukrainische Sicherheitsdienst (SBU; ebenfalls eine Nachfolgebehörde des KGB), der bisher treu zu Juschtschenko stand, erklärt, daß dies keineswegs den Tatsachen entspreche. Und am 5. Februar ist ein georgischer Staatsbürger, der mit Sprengstoff und Schußwaffen ausgerüstet war, festgenommen worden. Was der wohl wollte?

Sollte sich jemand noch weiter in die Lage in der Ukraine vertiefen wollen, dann kann ich das folgende Video empfehlen:



Verwandte Beiträge:
Osteuropäische Unübersichtlichkeit
Bemerkungen zum Gasstreit I
Bemerkungen zum Gasstreit II
Bemerkungen zum Gasstreit III
Sowjetisch oder russisch?

Grafik: Wahlkreisergebnisse des Präsidenten-Stichwahl am 07.02.2010; blau = Janukowitsch, pink = Timoschenko (Quelle: Wikipedia).