Dem deutschen Beobachter der Präsidentenwahl vom vergangenen Sonntag stellt sich die Frage, ob er weiter die Vorgänge in Rußland selbst erörtern oder sich lieber mit der oft stark verzerrten Darstellung derselben in den deutschen Medien befassen soll. Da letzteres wenig spannend ist, habe ich mich (vorerst) für die erste Alternative entschieden.
In der Debatte wurde immer wieder erwähnt, daß Wladimir Putin sich seinen Wahlsieg hart erarbeiten mußte. Einen derart intensiven Wahlkampf wie 2012 habe er noch nie geführt, nie zuvor habe er so viele Aufsätze zu verschiedenen politischen Themen veröffentlicht (in diesem Jahr waren es sieben). Viele seiner Wähler hätten eine doppelte Erwartung an ihn: Einerseits soll das Positive am bestehenden Zustand erhalten werden, andererseits trauen sie ihm zu, als notwendig empfundene Reformen durchzuführen (wie es in den vergangenen Jahren schon geschah - Stichwort: Militärreform). Deshalb wird der gemeinsame Auftritt von Putin und Medwedew am Wahlabend auch als Ausdruck echter Emotionen gewertet; der Noch-Premier habe die richtigen Worte gefunden. In diesem Geist soll er seine neue Amtszeit beginnen.
Schon nach den Verlusten seiner Partei bei der Parlamentswahl im Dezember fiel mir auf, daß Putin die ihm zugeschriebene Rolle des allumfassenden Landesvaters verlassen hat und in die des (Partei-)Politikers geschlüpft ist, der weiß, daß er nur einer von mehreren Akteuren in der Arena ist. Und er kam mit diesem Rollenwechsel besser zurecht als manche Bürger und Beobachter, die nicht glauben wollten, daß der vermeintliche Autokrat das Vorhandensein abweichender Meinungen tatsächlich akzeptieren kann. Noch am vergangenen Sonntag hat im Fernsehen jemand gefordert, Putin solle der Präsident aller Bürger der RF werden, worauf der Moderator mit der spöttischen Bemerkung reagierte, diese Aufgabe könne höchstens "Djed Moros" (also der Weihnachtsmann) erfüllen, nicht jedoch ein Politiker.
In der politischen Landschaft kündigen sich größere Veränderungen an, man diskutiert über die Zukunft von Parteien und Politikern. Besondere Aufmerksamkeit hat das gute Abschneiden von Michail Prochorow mit fast 8 % der Wählerstimmen gefunden. Der Publizist Maxim Kononenko hat eine interessante Analyse über prochorows Ergebnis verfaßt. Darin betrachtet er zunächst die schlechten Wahlergebnisse rechtsliberaler Parteien nach 1999 (damals kam die Partei SPS auf einen Höchstwert von 8,5 %). Das Problem der Parteien sieht er vor allem in deren unklaren Programm und Propaganda, worin oft diametral entgegengesetzte Forderungen erhoben wurden. Zunächst machten sie (zuletzt im Herbst 2011) mit klassisch liberalen Positionen Wahlkampf, doch dann merkten sie, daß die Umfragewerte schlecht blieben. Also wurden wenige Wochen vor der Wahl die Wahlkampfmanager ausgetauscht. Diese haben den Parteiverantwortlichen dann klar gemacht, daß es im Land viel mehr Renterinnen als typisch liberale Wähler gäbe. Also wurde der Wahlkampf kurzfristig auf sozialistische Parolen umgestellt ("höhere Renten" etc.). Dadurch wurden die klassisch liberalen Wähler jedoch verschreckt und haben ihr Kreuz entweder bei Putin gemacht oder blieben zu Hause. Und die Rentner hatten ohnehin andere Parteipräferenzen.
Doch mit Prochorows Betreten der politischen Bühne hat sich das geändert. Der Mann ist selbst reich genug, weshalb er im Wahlkampf keine Rücksicht auf die Meinungen von Sponsoren oder Parteifunktionären nehmen mußte. Ein wahrhaft unabhängiger Kandidat. Mithin konnte er seine rechtsliberale Position durchgängig vertreten. Und prompt tauchten die liberalen Wähler, deren Potential von Soziologen auf eine Größenordnung von 15 bis 20 % geschätzt wird, aus der Versenkung auf. Diese Wählergruppe war vorher nur theoretisch existent, doch dank Prochorow hat sie sich materialisiert. Sie ist jetzt in Rußland eine Größe, mit der gerechnet und gearbeitet werden kann. Kononenko prognostiziert, daß der politische Liberalismus in den nächsten Jahren einen Aufschwung erleben und in der nächsten Staatsduma auch eine liberale Partei in Fraktionsstärke vertreten sein werde. Zudem ist Prochorow ein unverbrauchtes Gesicht, das frischen Wind in die Politik gebracht hat.
Das gesamte Parteiensystem dürfte mittelfristig vor großen Veränderungen stehen. Die bei den Dumawahlen im Dezember angeschlagene Partei Einiges Rußland könnte im Laufe des Jahres umgebaut werden. Möglicherweise hat sich die Idee einer umfassenden Partei der rechten Mitte überlebt, vielleicht kommt es sogar zu Spaltungen.
Etwas konkreter sind die Umbaupläne bei den Sozialdemokraten vom Gerechten Rußland. Nach dem deutlichen Mißerfolg von deren Präsidentschaftskandidaten Mironow wird nun parteiintern an dessen Stuhl gesägt. Andere Funktionäre wollen die Partei anders ausrichten und aggressivere Oppositionsarbeit betreiben. Zudem wollen sie, daß GR mit anderen linken Parteien fusioniert. Wer damit gemeint ist, bleibt zwar vorerst offen, doch dürfte es sich nur um die KPRF oder Teile davon handeln.
Allerdings ist unklar, warum die Kommunisten, die im Land als zweitstärkste Kraft (anders als GR) über eine solide Wählerbasis verfügen, sich darauf einlassen sollten. Aber vielleicht ändert sich ebenfalls in der KPRF die Stimmung, denn der Abgang von Parteichef Sjuganow dürfte absehbar sein. Damit könnte, wie die Zeitung Moskowskij Komsomolez schreibt, "in der Perspektive [...] eine 'normale' sozialistische Partei entstehen, die sich nicht mehr nach der Sowjetunion sehnen und nicht mehr von einer durchgehenden Verstaatlichung träumen würde. Wie aber eine solche Partei entstehen könnte und wer an ihrer Spitze stünde, kann vorerst nicht einmal geraten werden."
Wie schon am Montag ausgeführt, stehen vermutlich auch in der LDPR personelle Veränderungen an, die vielleicht auch zu programmatischen Veränderungen führen. Dann könnten sich ER und die Liberaldemokraten auf dem Feld des Konservatismus Konkurrenz machen.
Zur außerparlamentarischen Opposition hatte ich mich schon am Dienstag geäußert. Sie steht an einem Scheideweg. Die für den kommenden Samstag auf dem Neuen Arbat angemeldete Demonstration wird wohl die letzte in dem Format, das sich seit Dezember entwickelt hat, sein. Die Organisatoren rechnen mit 50.000 Teilnehmern, doch diese Zahl wird m.E. nicht erreicht werden. Der größere Teil der (ehemaligen) Demonstranten und Aktivisten wird sich einen Platz für politisches Engagement im Rahmen des politischen Systems suchen (den Weg dafür hat schon Jawlinskij gewiesen), einige wenige werden jedoch den Gestus des Revolutionärs beibehalten wollen. Für die alte Garde wie Nemzow, Ryshkow & Co. gilt jedoch das gleiche wie für Sjuganow und Shirinowskij - ihre Uhr ist nach zwei Jahrzehnten in der Politik abgelaufen.
Damit verbunden ist eine der wichtigsten Fragen, nämlich die nach der parteipolitischen Zukunft des Liberalismus (der in der RF oft als "rechts" gilt). Prochorow will demnächst eine eigene Partei gründen. Fraglich ist hierbei, ob damit tatsächlich eine solide Partei entstehen wird, die nicht von den typischen Krankheiten der rußländischen Liberalen wie Egomanie und Spaltertum befallen ist. Eine neue liberale Partei müßte auf jeden Fall ein ernsthaftes Programm vorlegen und dann versuchen, in den nächsten Jahren bei Regionalwahlen erfolgreich zu sein. Sonst klappt es nicht mit dem Erfolg auf Föderationsebene. Der MK schreibt dazu:
"[...]Bleibt abschließend noch die Frage, was Wladimir Putin in der Zukunft tun wird. In der ausländischen Presse wurde verschiedentlich die Befürchtung geäußert, jetzte würden "die Daumenschrauben wieder angezogen", es drohe gar eine neue Diktatur. Dieser Dramatik entbehrt allerdings jegliche Basis in der Realität. Warum sollte der neue Präsident das tun? Weshalb sollte das, was er kurz vor der Wahl in einem langen Pressegespräch gesagt hat, nicht mehr gelten? Warum sollten die Reformen, welche z.T. schon als Gesetzesprojekte in der Duma verhandelt werden, wieder rückgängig gemacht werden?
Nach der Präsidentenwahl haben die Rechten in Russland viel bessere Erfolgschancen als jemals zuvor. Sie werden nicht mehr mit den Reformern der 1990er Jahre identifiziert, die in den frühen 2000ern die Macht verloren haben und sich jetzt danach sehnen. Das ist gut für die liberale Idee, die Politik und Russland im Allgemeinen."
Ich kann keinen Grund für einen solchen "roll-back" erkennen. Zudem erinnere ich mich noch sehr gut, wie in den Jahren 2006 bis 2008 dieselben Journalisten, Aktivisten und Politiker, die jetzt Panik schüren, hektisch und hyperventilierend durch Veranstaltungen und Medien gezogen sind. Damals hieß es, Putin würde niemals die Macht als Präsident abgeben und aus dem Kreml ausziehen. Eher gäbe es eine Verfassungsänderung oder einen Staatsstreich. Das, was 2007/2008 tatsächlich geschehen ist - nämlich das verfassungsmäßige Ausscheiden des Präsidenten aus dem Amt -, war für die Alarmisten und ihre Satrapen unvorstellbar.
Dasselbe passierte danach während der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 bis 2010. Auch da gab es immer wieder Stimmen, die behaupteten, Putin könne dem unerfahrenen Medwedew nicht das Ruder überlassen und würde sich mit irgendwelchen Tricks zurück in den Kreml befördern. Ist dieser Fall eingetreten? Nein. Die Machtwechsel vollziehen sich in Rußland ganz legal nach Wahlen.
Mittlerweile habe ich gelernt, nicht auf diese Alarmisten und ihre hechelnden Schriften zu hören. Zu oft haben sie etwas gesagt oder geschrieben, was sich später bei einer Überprüfung an den Quellen in Rußland selbst als falsch erwies. Die regelmäßigen schlimmen Vorhersagen sind ebenso regelmäßig ausgeblieben.
Nun nachfolgend meine Einschätzung der politischen Zukunft des Wladimir Putin. Die bereits eingeleiteten politischen Reformen (Direktwahl der Gouverneure, leichtere Registrierung von Parteien, Änderungen am Wahlrecht etc.) werden fortgesetzt. Was sich daraus entwickeln wird, hängt jedoch von allen gesellschaftlichen und politischen Akteuren ab. Putin ist kein dämonischer allmächtiger Diktator und war es auch zu keinem Zeitpunkt, Politik ist auch in Rußland ein Spiel mit vielen Mitspielern.
Putin wird voraussichtlich bis zum Ende der Wahlperiode im Jahr 2018 im Präsidentenamt bleiben. Für mich ist kein Grund ersichtlich, weshalb er wesentlich früher zurücktreten sollte (manche spekulieren auf einen Rücktritt 2014). In dieser Zeit wird er jedoch einen Nachfolger aufbauen, den er 2018 den Wählern empfehlen wird. Wer das sein könnte, ist natürlich noch unklar, es gibt jedoch schon Spekulationen darüber, daß es 2018 zu einem "Showdown" zwischen Prochorow und Dmitrij Rogosin kommen könnte.
Interessanter ist die Frage, wer in den nächsten Jahren Ministerpräsident und Minister werden wird. Dmitrij Medwedew wird voraussichtlich im Sommer ins Moskauer Weiße Haus einziehen, doch glaube ich nicht, daß er dort lange verbleiben wird. Für Putin ist es wichtig, die liberal gesinnte Mittelschicht, die sich in der Protestbewegung der letzten Monate artikuliert und jetzt bei den Präsidentenwahlen für Prochorow gestimmt hat, einzubinden. Das wird vermutlich geschehen, indem er den ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin erneut ins Kabinett beruft oder ihn sogar zum Premierminister ernennt.
Spekulationen über einen Eintritt Prochorows in die Regierung halte ich für wenig wahrscheinlich, auch wenn Putin sich so geäußert hat. Denn damit würde Prochorow seine längerfristigen politischen Pläne sabotieren und sich möglicherweise im Tagesgeschäft verbrauchen.
Und für Medwedew wird sich schon ein angemessener Posten finden lassen, etwa in einer akademischen Einrichtung, von dem aus er als "elder statesman" wirken kann. Schließlich war er vor seiner politischen Karriere Uni-Dozent.
Die nächsten Jahre werden auf jeden Fall spannend. Die politische Landschaft in Rußland wird sich verändern. Die Gesichter (und Parteien?) der 1990er Jahre werden von der politischen Bühne abtreten, viele neue werden hinzukommen. Die gesellschaftlichen Veränderungen wie das Erstarken der Mittelschicht, die eine Folge von Putins Regierungspolitik sind, werden sich noch stärker in der politischen Szenerie widerspiegeln. Ebenso spannend ist die Frage, wie die deutschen Medien über diese Vorgänge berichten werden. Genau so eintönig, schematisch und voreingenommen wie bisher, wo das Ergebnis oft schon vor Beginn der Recherche feststand? Oder werden sie bereit sein, sich auf das, was in Rußland passiert, wirklich einzulassen?
Weiterführende Links:
OSZE-Gebetsmühlen verstellen den Blick auf den Wandel
Opposition am Scheideweg – wo führt der Weg hin?
Russian Presidential Elections Aftermath
Tapping on the Shoulder
Mitleid mit Putin
Why Golos’ Own Figures Support Only 3 % - 6 % Fraud
Austrian MP disputes charge of flawed Russia vote
Putin: Es gab Wahlverstöße, sie sind aufzuklären
Prokhorov, President Of Londongrad
Elections 2012 and DDoS attacks in Russia
Verwandte Beiträge:
Wahlnachlese I
Wahlnachlese II: Droht ein Bürgerkrieg?
Vor der Präsidentenwahl
Die Kandidaten positionieren sich
Warum Putin wählen?
Foto: www.nakanune.ru.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen