Sonntag, 11. März 2007

Völkergewohnheitsrecht

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes hat eine Zusammenfassung der gewohnheitsrechtlichen Teile des Kriegsvölkerrechts erarbeitet (siehe auch hier und hier) und 2005 veröffentlicht. Dieses Projekt ergänzt die schon recht umfangreichen Kodifikationen, insbesondere in der Haager Landkriegsordnung von 1907, den vier Genfer Abkommen von 1949 und deren beiden Zusatzprotokollen von 1977. Gerade für die Rechtsanwender, primär also die Soldaten, ist es hilfreich, die relevanten gewohnheitsrechtlichen Normen in einem Kompendium zu finden. So weit, so gut.

Nun äußern Rechtsberater der US-Regierung Bedenken gegen das Werk:
"The top lawyers in the State Department and DoD have sent a letter to the International Committee of the Red Cross criticizing the methodology authors used in compiling a study that purports to be a definitive explanation of the laws of war.

[...]

“We recognize that a significant number of the rules set forth in the study are applicable in international armed conflict because they have achieved universal status,” Bellinger and Haynes wrote in their letter. “Nonetheless, it is important to make clear - both to you and to the greater international community - that, based upon our review thus far, we are concerned about the methodology used to ascertain rules and about whether the authors have proffered sufficient facts and evidence to support those rules.”
The study is an ICRC attempt to define “customary international humanitarian law.” Even this term is somewhat contentious, officials said. In the letter to the ICRC, the U.S. officials state that the preferred term for this body of law is “the law of war” or “the law of armed conflict.”
The ICRC tried to pull together the practices of all nations with respect to the law of war and compile rules that the ICRC concludes reflect customary international law binding on nations, said Charles A. Allen, DoD’s deputy general counsel for international affairs.“
In doing so, however, they approached it in a way that was problematic, and we think, in terms of process and approach, they did some things wrong, as explained by Mr. Haynes and Mr. Bellinger, that call into question the validity of many of the rules articulated,” Allen said.

[...]

The main problem with the study is what appears to be a lack of rigor and discrimination in assessing information that was gathered, Parks said. He likened the methods the authors used to performing an Internet search and then not assessing the results for applicability or accuracy. The authors took information from many sources without judging whether it accurately mirrored that state’s practice. For example, Parks said, one source the authors cited was a study prepared by an Air Force judge advocate for a class he was teaching. That study certainly was not official U.S. government policy, he said.
The study also fails to take into consideration what a country does, rather than what its officials say the country does. How military forces operate on the ground and how they put the law of war in practice are certainly more important than a “pie in the sky” government statement that does not reflect actual practices, Allen said.
The authors also seemed to give equal weight to statements of all countries. The statements by a country that hasn’t been in a war in a century is given the same weight as those of countries that have participated in armed conflicts through the 20th century, Parks said. U.S. officials believe the authors should have given the positions of countries with experience in the law of war on the field of battle more weight than those whose armed forces haven’t been involved in armed conflict, he said.
The U.S. letter detailed only four of the 161 rules the study published. “But there are problems with many others,” Parks said, “and we anticipate further work to identify the more serious additional shortcomings of the study.”

[...]"

Und diese Kritik ist vollauf berechtigt, thematisiert sie doch die Wege und Irrwege der Völkerrechtswissenschaft. Seit Jahrzehnten ist sie zu einer Spielwiese von Personen geworden, die, um ihren ideologischen Zielen von "Weltstaat", "Weltgesellschaft", "Weltfrieden" usw. näherzukommen, es an wissenschaftlicher Redlichkeit mangeln lassen. Der gute Zweck rechtfertigt für sie auch die haarsträubendsten Konstruktionen und Theorien.
Offenbar ist auch mit den Autoren der genannten Studie der missionarische Eifer durchgegangen. Das ganz zu Recht kritisierte Vorgehen ist doch mittlerweile - leider - usus.
Gerade beim Nachweis der Existenz einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm wird bisweilen sehr oberflächlich vorgegangen. Eine opinio iuris zu entdecken fällt meist weniger schwer, aber die ebenso erforderliche allgemeine Übung ist in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger beachtet worden, so daß manche Autoren mittlerweile sogar eine "spontane" Entstehung von Völkergewohnheitsrecht zulassen wollen - ein klarer Widerspruch zu Art. 38 I lit. b des IGH-Statuts. Auch liegt es in einer Zeit, in der Theorien von der "Konstitutionalisierung des Völkerrechts" im Schwange sind, nahe, die vermeintlich antiquierten Methoden hintanzustellen und sich der Erschaffung einer schönen neuen Welt zuzuwenden. Der Wunsch wird zum Vater der Wissenschaft, die eigentlich nur auffinden soll, was vorhanden ist. Und wer dagegen Einspruch erhebt, kann eigentlich nur ein Reaktionär sein oder Böses im Schilde führen. Oder beides.

Bleibt nur zu hoffen, daß die Kritik aus Washington auf fruchtbaren Boden fällt. Man kann von der Außenpolitik der Bush-Administration halten, was man will, aber viele der seit 2001 aufgeworfenen und objektiv gegebenen völkerrechtlichen Fragen müssen dringend geklärt werden. Was bedeutet etwa das völkerrechtliche Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta) beim Auftreten nichtstaatlicher Akteure in den internationalen Beziehungen, die im Friedenssicherungssystem der UN einfach nicht vorgesehen sind? Oder wie muß mit den Kämpfern solcher (terroristischen) Gruppen umgegangen werden (Stichwort: Guantanamo): sind sie Kriegsgefangene, ordinäre Kriminelle oder eine dritte Kategorie sui generis?
Auch muß man sich ehrlich die Frage vorlegen, ob die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts in den vergangenen 100 Jahren wirklich als Fortschritt zu bewerten ist, oder ob unter dem Stichwort der Humanisierung nicht vielmehr versucht worden ist, den Krieg wenn schon nicht abzuschaffen, so doch durch ein enges Regelwerk fast unmöglich zu machen. Manche Regeln werden sich trotz besten Willens nur schwer beachten lassen. Oder ist die große Distanz zwischen Sollen und Sein im Kriegsvölkerrecht quasi systemimmanent erforderlich, um in der Praxis wenigstens einen gewissen Mindeststandard zu erreichen? (Dann darf man freilich bei Verstößen nicht überempfindlich reagieren.)

All diese Fragen drängen und die übliche Reaktion "alter Europäer", der Verweis auf das geltende, aber den aktuellen Anforderungen nur bedingt genügende Völkerrecht, bremst die notwendige Weiterentwicklung des Rechts. Dieser Reflex ist ebenfalls ideologisch begründet und hinterläßt den Eindruck, man glaubte daran, daß wir heute in der besten aller Welten leben würden, wenn, ja wenn der böse Bush nicht wäre. Die sicherheitspolitische Sondersituation nach 1945 hat bei vielen Deutschen den Hang zur Realitätsverweigerung in der Politik genährt, doch mit frommen Wünschen allein ist es nicht getan. Und ein "Ende der Geschichte" ist nicht absehbar!

Update (13.04.2007)

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