Mittwoch, 30. Mai 2007

(Nichts) Neues im Fall Litwinenko

In den Fall Litwinenko ist in der vergangenen Woche wieder Bewegung gekommen. Die britischen Strafverfolgungsbehörden beschuldigen Andrej Lugowoj, ehemaliger Mitarbeiter des FSB und Beresowskis, des Mordes an Litwinenko und haben Rußland um seine Auslieferung ersucht. Die russischen Behörden verweigern sich diesem Ansinnen und bieten stattdessen einen Prozeß gegen Lugowoi vor einem russischen Gericht an. (Eine gute Erörterung findet sich bei Sean Guillory.) Unterdessen ist der Beschuldigte zum öffentlichen Gegenangriff übergegangen.

Die Auslieferungsfrage ist damit zum Kern der juristischen und politischen Auseinandersetzung geworden. Bereits im Dezember 2006 habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß (wie in Deutschland auch) die Auslieferung eines russischen Staatsbürgers durch die russische Verfassung untersagt wird und das zwischen Rußland und Großbritannien auch kein bilaterales Auslieferungsabkommen existiert. Insoweit findet zwischen beiden Staaten also das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 Anwendung, dessen Art. 6 jedoch eine wichtige Bestimmung enthält:

"(1) a. Jede Vertragspartei ist berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen.
b. Jede Vertragspartei kann, was sie betrifft, bei der Unterzeichnung oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine Erklärung den Begriff "Staatsangehörige" im Sinne dieses übereinkommens bestimmen.
c. Für die Beurteilung der Eigenschaft als Staatsangehöriger ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung maßgebend. Wird diese Eigenschaft jedoch erst zwischen der Entscheidung und dem für die übergabe in Aussicht genommenen Zeitpunkt festgestellt, so kann der ersuchte Staat sich ebenfalls auf die Bestimmung des Buchstaben a dieses Absatzes berufen.

(2) Liefert der ersuchte Staat seinen Staatsangehörigen nicht aus, so hat er auf Begehren des ersuchenden Staates die Angelegenheit den zuständigen Behörden zu unterbreiten, damit gegebenenfalls eine gerichtliche Verfolgung durchgeführt werden kann. Zu diesem Zweck sind die auf die strafbare Handlung bezüglichen Akten, Unterlagen und Gegenstände kostenlos auf dem in Artikel 12 Abs. 1 vorgesehenen Wege zu übermitteln. Dem ersuchenden Staat ist mitzuteilen, inwieweit seinem Begehren Folge gegeben worden ist."
Dazu hat die Russische Föderation am 9. März 2000 folgende Erklärung abgegeben:

"With respect to sub-paragraph "a" of paragraph 1 of Article 6 of the Convention the Russian Federation declares that in accordance with Article 61 (part I) of the Constitution of the Russian Federation a citizen of the Russian Federation may not be extradited to another State."
Damit ist die Rechtslage klar und die Verlautbarungen der russischen Generalstaatsanwaltschaft dürften eigentlich niemanden überraschen; genauso wie ihr Vorschlag, Lugowoj in Rußland anzuklagen, in völliger Übereinstimmung mit dem Abkommen steht. Auch in der britischen Presse wird das von kundigen Autoren festgestellt. Selbst Robert Amsterdam kann sich vor diesem Ergebnis nicht drücken (auch wenn er dabei seinem Lieblingssport - Putin- und Rußland-bashing - nachgeht):

"[...]

Can Russia credibly assert that it joined the Extradition Convention with no intention ever to extradite a Russian citizen suspected of murder?

While, as described above, the Russian Constitution declares that Russian citizens "may not" be extradited - and while the Extradition Convention contains an opt-out clause regarding a state's own nationals, how can Russia expect comity in international legal cooperation if it invokes these narrow exceptions in all cases involving its citizens - especially for a grave crime such as murder? And what signal does this send to Russian criminals or would-be wrongdoers about the consequences of committing serious misdeeds abroad?

In November 2006, Russian prosecutors signed a memorandum of understanding with their British counterparts, intended to facilitate extraditions between them. Clearly, that agreement is now in tatters.
After desperately seeking extradition to Russia of various political opponents over the past several years, the Kremlin's refusal to yield one of its nationals in this remarkable murder case is yet another example of "à la carte" legalism - invoking the law when it achieves objectives and ignoring it when convenient to do so.

[...]"

Folgte man Amsterdams (verworrener) Argumentation, so wäre jeder Staat, der sich weigert, seine eigenen Staatsbürger auszuliefern, unfähig und unwürdig für die internationale Rechtshilfe. Bedenkt man, daß dazu auch Deutschland zählt, dann wird die Haltlosigkeit dieses Einwandes ("À la carte-Legalismus") schnell klar.

Was macht nun die angelsächsische Presse aus diesem juristischen Befund? Sie versucht, einen Skandal herbeizuschreiben. Dazu drei Beispiele. Der Daily Telegraph kommentiert:

"[...]

[Putin's] government is expected to refuse flatly to extradite the former KGB officer Andre Lugovoi, who has been formally charged by Britain with the murder of Alexander Litvinenko. Mr Litvinenko was granted political asylum by this country and had become a British citizen. He was murdered on British soil. There can be no legal doubt that the man alleged to be responsible for the crime should be returned to this country for trial.
Whatever the affiliations of any of the figures in this murky drama, it is outrageous that Russian agents should be allowed to settle their internecine scores in Britain and remain beyond the reach of our due process. Russia may claim the right, under article six of the 1957 European Convention on Extradition, to refuse to extradite its own national, but the spirit of that convention would oblige it to try Mr Lugovoi in its own courts.

Needless to say, Russia's history of non-cooperation with British police in this case inspires very little confidence of a just outcome. Britain's request for extradition can scarcely be more than a gesture on the part of the Foreign Office - presumably designed to make clear the contempt in which Russia holds international legal standards.
The request and the inevitable refusal will provide another chapter in the sinister story of Russia's determination to be a law unto itself in its relations with the world.

[...]"
Und in der Washington Post heißt es:

"[...]

Russia's refusal to extradite the prime suspect in the polonium poisoning of Alexander Litvinenko in London last November reveals the essential amorality of the Putin regime and its false narrative of recent history. That narrative increasingly undermines the Kremlin's relations with Europe and the United States.

[...]"

Edward Lucas nimmt schließlich den Fall zum Anlaß, um in der Daily Mail - zum wiederholten Male - zu einem neuen Kalten Krieg mit Rußland zu blasen.

Die russischen Behörden können offenkundig also tun, was sie wollen, die "westliche" Presse wird ihr Handeln immer als 'unmoralisch' oder 'rechtswidrig' kritisieren. Das ist jetzt der Fall und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann getan werden, wenn es zu einer Auslieferung Lugowojs käme. Dann würden die Journalisten sofort den offenen Verstoß gegen die russische Verfassung brandmarken und - wie auch jetzt - den Mangel an einer "rule of law" beklagen. Um von dem dünnen Eis, auf dem man sich damit bewegt, abzulenken, befleißigt man sich einer aggressiven Rhetorik.

Dieses Beispiel macht deutlich, daß es nicht um berechtigte und sachlich fundierte Kritik an der russischen Regierung und den unstreitig vorhandenen Problemen in Rußland geht, auch nicht um Rechtsstaatlichkeit etc., sondern um pure Russophobie. Mithin gibt es im Kern nichts neues im Fall Litwinenko zu vermelden: immer noch die gleiche Unsachlichkeit und die gleiche Ignoranz der Medien wie im November und Dezember 2006.

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