Montag, 21. Mai 2007

Das germanische Vasallistan

In der vergangenen Woche ist etwas für die politische Klasse Deutschlands ungehöriges geschehen: Peter Struck, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, hat die heilige Kuh der pro-amerikanischen Außenpolitik vorsichtig in Frage gestellt. Berthold Kohler berichtet voller Empörung in der FAZ:

"[...]

Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte er, Deutschland müsse zu Amerika und Russland „die gleiche Nähe“ haben. Diese Forderung nach Äquidistanz ist eine Abkehr von einer Konstante der deutschen Außenpolitik, der Westbindung, die seit Adenauer die Außenpolitik der Bundesrepublik bestimmte - auch die der ersten beiden SPD-Kanzler. Doch niemand fühlte sich berufen, Struck öffentlich zu widersprechen. Nimmt man nicht ernst, was er sagt? Dann müsste die SPD sich nicht nur Sorgen um ihren Vorsitzenden machen.

„Neue Ostpolitik“

Es gibt aber noch eine Erklärung: Die SPD blieb still, weil sie die Ansicht ihres Fraktionsvorsitzenden teilt. Auch vom zuständigen Außenminister, der von einer „neuen Ostpolitik“ spricht, kam kein Widerwort. Struck zog schließlich nur die Linie weiter, die der heute im Gasgeschäft tätige Bundeskanzler a.D. Schröder vorgegeben hatte zu einer Zeit, als Steinmeier sein Amtschef war.
Auf dieser Linie bewegt Deutschland sich weg von Amerika und hin zu Russland. Für die SPD ist dies keine widernatürliche Richtung. Die Distanz zur Hochburg des Kapitalismus jenseits des Atlantiks, gepflegt im Streit über Vietnam, die Nachrüstung und den Irak-Krieg, gehört zur emotionalen Grundausstattung der Partei, die sich, wie Schröder zeigte, von talentierten Parteiführern jederzeit mobilisieren lässt. Beck versuchte es jüngst mit dem Thema Raketenverteidigung.

„Los von Amerika“

Russland dagegen, obwohl nicht mehr das friedliebende sozialistische Paradies der Bauern und Werktätigen unter Sowjetverwaltung, genießt in weiten Teilen der deutschen Linken bis heute einen schier unerschöpflichen Vertrauensvorschuss.
Auch die Nachkriegsträume von einem neutralen Deutschland zwischen den Blöcken sind in den Reihen der SPD unvergessen. So war es ein Leichtes für Schröder, die Anhänger der SPD für seinen „deutschen Weg“ zu gewinnen, den er auch unter das Motto „Los von Amerika“ hätte stellen können. Struck präzisierte jetzt, wo diese schleichende Absetzbewegung fürs Erste zum Stehen kommen soll: im Niemandsland zwischen den beiden Mächten, an dem instabilen Punkt, an dem sich ihre Anziehungskraft wechselseitig aufhebt.

[...]

Doch seit wann ist es nicht wichtig, wie Deutschland zu Amerika und Russland steht? Nicht wichtig, dass ein führendes Mitglied der Regierungspartei SPD die Beziehungen zur autoritärer werdenden Putinokratie auf dieselbe Stufe stellt wie das Verhältnis zu dem fehlbaren, mitunter überheblichen, aber dennoch urdemokratischen Hauptverbündeten? Die Koalition geriet schon wegen weit Geringerem aneinander.

Ohne amerikanische Hilfe geht es nicht

Russlands Fürsprecher in Deutschland werden nicht müde herauszustellen, dass Moskau zur Bewältigung der vielen Krisen in der Welt gebraucht werde. Washington nur im selben Maße? Amerika hat die Grenzen seiner Macht erfahren. Doch verfügt es immer noch über ungleich größere Gestaltungskraft als Russland, das bei der Krisenbewältigung gerne erst seine Lizenz zum Neinsagen ausschöpft.
Ohne die Bereitschaft und die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, zusammen mit ihren Verbündeten internationale Ordnungsaufgaben zu übernehmen, wäre es noch schlechter um den Zustand der Welt bestellt. Zu Stabilisierungsoperationen wie in Afghanistan ist allein das atlantische Bündnis fähig. Die EU hatte es ohne amerikanische Hilfe noch nicht einmal vermocht, dem Völkermorden auf dem Balkan Einhalt zu gebieten.
Es versteht sich von selbst, dass Amerikas (wie auch Russlands) globales Engagement den eigenen nationalen Interessen folgt. Doch überschneiden sich viele davon mit den Zielen und Vorstellungen der Europäer. Die Liste der Gemeinsamkeiten, insbesondere bei der Definition der Leitwerte, ist lang.

Putin hat das vorausgesehen

Der Vergleich mit Russland dagegen fällt ernüchternd aus: Das Reich im Osten hat sich, was seine innere Verfasstheit und seine neoimperialen Anwandlungen nach außen angeht, wieder deutlich vom westlichen Demokratieverständnis wegbewegt. Zu einem solchen Staat kann Deutschland nicht „die gleiche Nähe“ haben wie zu jenem Land, das auf die längste Demokratiegeschichte der Neuzeit zurückblickt. Und das von sich sagen darf, wie kein zweites die deutsche Wiedervereinigung unterstützt zu haben.
In den mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländern der EU und der Nato käme niemand aus einem Regierungslager auf die Idee, Äquidistanz zu Moskau und Washington zu fordern. Dort spürt man im Genick schon wieder den heißen Atem des russischen Bären, den man so lange zu ertragen hatte.
Je mehr diese Staaten den Eindruck gewinnen müssen, dass Deutschland eine Sonderbeziehung zu Russland sucht, desto enger werden sie sich an Amerika klammern. Auch so vertieft man die Spaltung eines Bündnisses in „alt“ und „neu“. Putin muss nur noch ab und zu das richtige Stichwort liefern. Einer, der Deutschland so gut kennt wie er, wird das vorausgesehen haben."
Auch Jörg Himmelreich, als Mitarbeiter des German Marshall Fund quasi ein Gralshüter der transatlantischen "Einbindung" Deutschlands, erregt sich in der Welt:

"[...]

Insbesondere in Teilen der SPD wabern noch die Geister der ewiggestrigen Russlandträumer von den besonderen deutsch-russischen Beziehungen und dem besonderen Verständnis für Putins autokratische Demokratie.

Wenn alle Fernsehkanäle in Russland gleichgeschaltet sind, wenn friedliche Demonstrationen gewaltsam verhindert oder untersagt werden, und wenn Demonstranten vor dem Beginn der Demonstration an der Teilnahme gehindert werden, dann ist das keine Wertedifferenz, die aufgrund des noch langen Wegs Russland in die Demokratie verständlich sei, sondern eine gnadenlose Werteunterdrückung, eine Beraubung von Freiheitsrechten, die von der russischen Verfassung selbst garantiert werden. Wie der SPD Fraktionsvorsitzende Struck - bei allen Fehlern der US-amerikanischen Außenpolitik - von einer deutschen Äquidistanz zu Moskau und Washington sprechen kann, ist völlig unverständlich. Atemberaubend ist es, dass ihm aus den Reihen der Regierungsparteien niemand widerspricht.

[...]"
Diese Einlassungen zeigen deutlich, wie emotional das Thema der Partnerschaft mit den USA behandelt wird. Die Beschwörung einer Kontinuität der bundesrepublikanischen Außenpolitik nach 1945 (die in dieser simplen und starren Form allerdings nicht existiert hat) entbindet nicht davon, die außenpolitischen Koordinaten des wiedervereinigten Deutschland in der Welt nach 1990 zu bestimmen. Die Anrufung der deutsch-amerikanischen Freundschaft als Grundkonstante der deutschen Außenpolitik, verbunden mit der Suggestion ewiger Dankesschuld, ist genauso irrational wie es ein Appell an die deutsch-russische Freundschaft wäre.
Selbst wenn man anerkennt, daß Adenauers Politik damals für die damalige Bundesrepublik richtig und vielleicht sogar die einzig erfolgversprechende war, so ist dies kein Präjudiz für die heutige deutsche Außenpolitik. Selbige kann keine Gefühlspolitik sein, sondern muß sich an der gegenwärtigen internationalen Lage orientieren.

Weniger konkrete geopolitische oder strategische Erwägungen prägen die obigen Artikel, sondern - erneut - der Verweis auf "gemeinsame Werte" (respektive deren teilweise Abwesenheit) un das Demokratieverständnis. Dabei bleiben die Autoren allerdings die Erklärung schuldig, welche Bedeutung "Werte" denn für die internationale Politik haben sollen, wenn man denn von ihren privaten Sympathien absieht. Auch Demokratien neigen bekanntlich dazu, Angriffskriege zu führen oder andere Staaten mit Handelssanktionen zu belegen. Und "neoimperiale Anwandlungen" (Kohler über Rußland) mitsamt "Vasallen" und "Protektoraten" (Zbigniew Brzezinski über Westeuropa) haben auch die lupenrein demokratischen USA aufzuweisen. Desweiteren ist die Situation in Afghanistan viel zu verfahren, um sie, wie Kohler es macht, als Beispiel einer erfolgreichen Militäroperation der NATO heranzuziehen. Dort wie auch im Irak läßt sich ferner die Bilanz der amerikanischen Ordnungsleistung bewundern.
(Außerdem dachte ich bisher, die längste Demokratiegeschichte hätte England, nicht jedoch die USA aufzuweisen.)

Mit diesem, dem Kalten Krieg entlehnten Denken zeigen die beiden Weltanschauungskrieger nur, daß es sich bei ihnen nicht nur um "Ewiggestrige", sondern (wenn man dieses Wortungetüm akzeptieren will) um 'Ewigvorgestrige' handelt, die nicht dazu befähigt sind, heute eine deutsche Außenpolitik zu formulieren. Stattdessen wird auf Adenauers Rezepturen zurückgegriffen, im blinden Vertrauen darauf, daß sie schon wirken werden.
Hier wird deutlich, auf welch niedrigem Niveau das weltpolitische Denken in Deutschland mittlerweile stagniert. Es ist die reine Vasallengesinnung, die im Dritten Reich vielleicht genauso enthusiastisch gerufen hätte: 'Führer befiehl, wir folgen dir'. Caspar von Schrenck-Notzing hatte ganz recht mit seinem Diktum, daß über die Westbindung in Deutschland nicht mehr diskutiert, sondern daß an sie nur noch geglaubt werden dürfe.

Entfernt man diese beiden Punkte - transatlantische Freundschaft und Werte - aus der Argumentation der beiden Texte, bleibt nichts mehr übrig was gegen Strucks These von der Äquidistanz zwischen Washington und Moskau sprechen würde.

Eingedenk dieses Befundes argumentiert Michael Stürmer in der Welt auch erheblich sachlicher:

"[...]

Russland ist nie so schwach, wie es aussieht. Aber auch nie so stark. [...] Beide, Europäer und Amerikaner, müssen aufpassen, dass ihre Wege in Richtung Kreml wie ihre Interessen an einem auskömmlichen Verhältnis mit der östlichen Großmacht sich nicht trennen.

Die Kreml-Diplomaten haben ihr altes Ziel nicht aufgegeben, den Atlantik zu verbreitern, und einige Europäer sind dem mehr zugeneigt als andere. Das testet nicht nur den weltpolitischen Zusammenhalt des transatlantischen Systems, sondern auch innere Solidarität und äußere Handlungsfähigkeit Europas. In Russlands großem Spiel sind die Europäer beides, Objekt und Subjekt. Ohne das Gegengewicht Amerikas liegt das Schachbrett schief.

[...]"
Stürmer, ebenfalls als 'Atlantiker' bekannt, vertritt also die Auffassung, die EU brauche die USA als strategisches Gegengewicht zu Rußland - was dann natürlich auch umgekehrt gilt! Mithin wäre die weltpolitische Handlungsfreiheit der EU nur mit und gegen die beiden großen Flügelmächte gesichert. Dieser Gedanke ist durchaus erwägenswert. Wenn man ihn konsequent weiterdenkt, dann liegt er allerdings nicht allzuweit von Strucks Meinung entfernt. Und das, obwohl sich Stürmers Plädoyer in seiner Zielrichtung sonst nur wenig von den zahlreichen anderen, die in den letzten Tagen publiziert worden sind, unterscheidet.
(Auch Klaus Naumann hatte im März - in seltener Offenheit - von deutschen Abhängigkeiten gegenüber den USA und Rußland gesprochen, anstatt von ewiger Freundschaft oder Werten zu faseln.)

Stellt man diese Grundsatzfrage über die Orientierung der deutschen Außenpolitik in den Kontext der aktuellen Debatte über die Beziehungen zu Rußland, so stellt man fest, daß selbst die vorsichtige Politik Schröders (Deutschland ist bekanntlich nach wie vor Mitglied in NATO, EU etc.!) für einige in der deutschen Elite schon zu viel war. Das ist ein Indiz dafür, wie abhängig man hierzulande auch geistig von den USA ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen