Dienstag, 1. Mai 2007

"Russland glaubt der NATO nicht"

Der zweite, bereits erwähnte RIA-Nowosti-Text stammt von Jekaterina Kusnezowa:

"[...]

Die Konsultationen im NATO-Hauptquartier über die US-Raketenabwehrbasen in Osteuropa haben jene Beobachter widerlegt, die eine Entscheidung ohne Zustimmung aller europäischen NATO-Mitglieder für unwahrscheinlich halten.
Laut offiziellen Quellen waren die hohen Vertreter der NATO-Staaten sich darin einig, dass Europa der Gefahr eines Raketenangriffs ausgesetzt ist. Ebenso einmütig versuchten die NATO-Bürokraten während der Sitzung des Russland-NATO-Rates, die Russen davon zu überzeugen, dass es keine Gefahr für sie gibt. Moskau ließ sich jedoch nicht überreden.

In der NATO wird über den Aufbau eines Raketenabwehrsystems seit Mitte der 90er Jahre diskutiert. 2005 nahm der NATO-Rat das ALTBMD-Programm (Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence) an. Dieses System soll bis zum Jahr 2010 fertig gestellt werden und die Truppen der Nordatlantikpaktes sowohl in den Mitgliedstaaten als auch außerhalb vor eventuellen Raketenangriffen schützen.

Der Ärger Moskaus über die geplante Aufstellung der US-Raketenabwehr in Osteuropa war vorauszusehen und ist wohl verständlich.

In der öffentlichen Wahrnehmung Amerikas und Europas ist Russland nach wie vor ein potentieller Feind. Diese Vorstellung wird dadurch gestärkt, dass der Kreml das iranische Regime sowie die nicht anerkannten Staaten im postsowjetischen Raum unterstützt, die Opposition im Land unterdrückt und Gaskriege mit Nachbarstaaten führt. Auch der jährliche Anstieg des russischen Militäretats von durchschnittlich 30 Prozent spielt denjenigen in die Karten, die vor der russischen Bedrohung warnen.

Andererseits erscheint die Installierung der Raketenabwehr in den Staaten, die Rachegelüste wegen der „Verbrechen des Kommunismus“ haben, nicht als ausgewogene Entscheidung, sondern als Provokation. Die Bestrebung Polens, Russland zur Reuebekenntnissen für die „Okkupation“ zu zwingen, ist mittlerweile paranoid. Dabei greift Warschau zu barbarischen Methoden: Erwähnt seien das Lustrationsgesetz, die Anklage gegen General Wojciech Jaruzelski oder das Verbot für die russische Ausstellung in Auschwitz.

Die gegenseitige Entfremdung wächst, obwohl sich die NATO und Russland 2002 auf eine Zusammenarbeit beim Aufbau eines tief gestaffelten Raketenabwehr-Systems geeinigt haben. Seitdem machten die Seiten nur bei den linguistischen Übungen Fortschritt, indem sie die Fachbegriffe der Raketenabwehr in Englisch, Französisch und Russisch abgestimmt haben.

Das Skandal um die geplante Aufstellung der Raketenabwehr-Teile in Osteuropa zeigt die Rolle, die Russland bei der Bewältigung der Existenzkrise der NATO spielt. Um so mehr, als die NATO nach Ende des Kalten Krieges ihren Daseinszweck verloren hat. Eines der wichtigsten außenpolitischen Ziele der US-Administration bestand im zurückliegenden Jahrzehnt darin, der Nordatlantikpakt-Organisation neue kräftige Impulse zu verleihen. In der Tat wurde das gutgemeinte Ziel, die Aufgaben der NATO umzudenken, jedoch durch die „technische“ Erweiterung der Allianz mit mittel- und osteuropäischen Staaten ersetzt.

Der Beitritt dieser Staaten zur NATO, in der die Entscheidungen auf Grundlage eines Konsens gefällt werden, änderte schließlich die Entwicklungsrichtung der Organisation. Aus dem Friedenshüter im Westen verwandelte sich die Allianz in einen Hüter der Demokratie in der ehemaligen „sowjetischen Einflusssphäre“. Die NATO-Mitgliedschaft ist nunmehr ein Mittel, um demokratische Errungenschaften zu sichern und sich vor den Großmächten zu legitimieren. Von allen Feldzügen, die die NATO in den vergangenen zehn Jahren unternommen hat - von Friedensmissionen am Balkan bis hin zu Anti-Terror-Einsätzen in Zentralasien - waren die Anstrengungen in der europäischen Richtung besonders erfolgreich. Anders als die alten EU-Mitglieder, die sich nach einer selbständigen Politik sehnen, signalisieren die „neuen Europäer“ die Bereitschaft, NATO-Vorposten im Osten zu werden.

Ergibt sich daraus eine Gefahr für Russland? Gehört Russland zu den potentiellen Feinden, gegen die das Raketenabwehrsystem gerichtet ist? Ganz formell haben die NATO-Militärs Recht, wenn sie sagen, dass das System nicht gegen Russland gerichtet sei. Es wäre sehr schwer, wenn nicht unmöglich, die Abfangraketen auf die Flugbahn der russischen Raketen auszurichten. Doch die Radaranlage in Tschechien kann das russische Territorium in einer Tiefe von mehreren hundert Kilometer und ab 2015 (sobald das Raketenabwehrsystem auch Interkontinentalraketen abfangen kann) sogar mehrere tausend Kilometer tief erfassen. Russland besitzt heutzutage keine Mittel- und Kurzstreckenraketen, auf die das System zugeschnitten ist. Die Raketen dieser Klasse wurden entsprechend dem sowjetisch-amerikanischen Vertrag über die Beseitigung von Mittel- und Kurzstreckenraketen von 1987 vernichtet. Daraus folgt, dass das US-Raketenabwehrsystem für Russland ein rein politisches Problem ist.

Angesichts der scharfen Kritik aus Moskau wegen der geplanten US-Raketenabwehr in Europa mussten die Amerikaner mildere Töne anschlagen und Russland sogar eine Zusammenarbeit in der Raketenabwehr anbieten. Es wäre für Moskau ein Fehler, diese Chance zu verpassen. Die Frage ist, ob sich diese Chance wirklich bieten wird. Dafür besteht nur wenig Hoffnung: Die USA gaben Russland mehrmals Versprechen, hielten sie jedoch nicht. Der von Präsident Wladimir Putin bereits 2002 gemachte Vorschlag zum Aufbau einer europäischen Raketenabwehr wurde geschickt als geplanter Teil der US-Raketenabwehr unter NATO-Schirmherrschaft umgestaltet. Der Geist der Moskauer Deklaration von 2002, in der die USA und Russland die Absicht erklärten, sich gegenseitig über Raketenabwehrsysteme zu informieren, ist unwiederbringlich verloren gegangen.

Angesichts der jüngsten Pläne erscheint die Idee von einem US-unabhängigen europäischen Raketenabwehrsystem illusorisch. Die Umsetzung der US-Pläne gefährdet nicht die Sicherheit Russlands, sondern eher die Einigkeit Europas. Denn die „neuen Europäer“ ziehen die Ausarbeitung einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik - mit Hilfe der USA - weiter in die Länge.
Bilaterale Vereinbarungen Washingtons mit ihren nächsten Verbündeten hinter den Kulissen sind ein Lieblingstrick der amerikanischen Außenpolitik. Doch jetzt scheinen die Amerikaner sich selbst überlistet zu haben, indem sie die Versprechungen an Russland gebrochen haben und zu einem Instrument für die Rache der osteuropäischen Staaten an ihrem alten Widersacher geworden sind.

[...]"

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