Montag, 14. Mai 2007

Liegt Scholl-Latour falsch?

Heribert Schindler hat in seinem Blog den von mir hier in der letzten Woche auszugsweise wiedergegebenen Aufsatz Peter Scholl-Latours zur deutschen Außenpolitik aufgegriffen und kritisiert. Ich möchte darauf gern eingehen, lege zuvor aber Wert auf die Feststellung, daß ich nicht der Advokat P.S.L.s bin (und auch nicht der Advokat des Kreml) ;-).

Zunächst: Ich stimme mit Heribert in den meisten der von ihm angeführten Punkte überein, zwischen uns bestehen keine grundsätzlichen Differenzen. Dennoch scheint mir das von ihm gezeichnete Bild etwas zu unterkomplex zu sein.


1. Deutsche Außenpolitik ist auch dann eine solche, wenn sie mehr oder weniger fremdgesteuert ist. Man wird wohl kaum leugnen können, daß seit 1990 die außenpolitische Handlungsfähigkeit des wiedervereinigten Deutschland erheblich gewachsen ist, nicht zuletzt aufgrund des Wegfalls der beiderseitigen Blockdisziplin aus den Zeiten des Kalten Krieges. Ein besonderes Verdienst in dieser Hinsicht kommt - positiv wie negativ - der Regierung Schröder zu.

Gleichwohl gibt es hierzulande in fast allen politischen Lagern starke Vorbehalte gegen eine eigenständige Außenpolitik. Die einen sind eher auf der politischen Linken beheimatet, sind pazifistisch orientiert und haben mit Staat und Nation weitgehend abgeschlossen; ihre Haltung ist von einem gewissen Defätismus, gemischt mit Welteinheitsphantasien gekennzeichnet.
Die anderen sind eher auf der Rechten zu finden ("NATO-Konservative"), die nach der Niederlage von 1945 ihr Heil in der schon mystifizierten "Westbindung" gefunden haben und einen vermeintlichen "deutschen Sonderweg" fürchten, obwohl es einen solchen in der Geschichte nicht gegeben hat und er auch von keinem ernsthaften Historiker mehr behauptet wird. Letztere vollziehen sehen in der NATO kein Militärbündnis, sondern die "Wertegemeinschaft" eines freilich unscharf bleibenden "Westens". In Verkennung der Konstellation des Kalten Krieges wird angeführt, daßdie Deutschen vor allem den USA dankbar sein müßten und sich daher als treue Gefolgsleute zu erweisen hätten. In diesem Denken hat die "transatlantische Partnerschaft" eine schon fast religiöse Qualität angenommen, es ist manchmal sogar von einer "Schicksalsgemeinschaft" die Rede.

Beiden Richtungen ist gemeinsam, daß sie nach 1945 den Schritt von der vorherigen "Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit" vollzogen haben (wie ein Buch von Hans-Peter Schwarz heißt) - die einen, weil sie die Macht ganz abschaffen wollen, die anderen, weil sie ihre Ausübung gern auf andere delegieren und sich selbst mit der Rolle des folgsamen Knappen begnügen. Über diesen Befund sollte nicht hinwegtäuschen, daß sich die zweite Gruppe bisweilen einer durchaus militanten Rhetorik bedient. Für beide Gruppen gilt in der Tat die von Heribert erwähnte negative Abhängigkeit von der deutschen Geschichte.

Die einzigen, die sich für eine eigenständige deutsche Außenpolitik engagieren sind die 'Europäer' (nicht zu verwechseln mit EUrokraten ;-)); etwa jene, die sich wie P.S.L. für eine "karolingische Lösung" zwischen Deutschland und Frankreich einsetzen. Sie wissen um die Bedeutung politischer Macht, die auch glaubwürdig militärisch abgestützt sein muß. Ohne eigene Macht keine eigene Außenpolitik. Sie wissen aber auch, daß sich die gewachsenen Nationen Europas nicht einfach in einem utopischen Einheitsbrei auflösen lassen, Europa ist für sie daher eine übergreifende politische Größe

Die soeben skizzierten Gruppen sind nicht zu 100 % trennscharf und es tauchen hin und wieder auch Überschneidungen zwischen ihnen auf. Trotzdem dürften sie als Typisierung geeignet sein. Im politischen Leben lassen sie sich in fast allen Parteien (allerdings in unterschiedlicher Mischung) finden.


2. P.S.L. hat m.E. Recht, wenn er den von ihm diagnostizierten Mangel einer deutschen Außenpolitik maßgeblich den Vertretern der politischen Klasse in Deutschland ankreidet. Denn, wie wir gesehen haben, wird dieser Mangel von nicht wenigen ihrer Vertreter gar nicht als Problem wahrgenommen. Nicht wenige sind über die Dominanz des vermeintlich "sanften Hegemonen" namens USA ganz froh.

Die gegenwärtige Lage Deutschlands ist auch nicht unwesentlich von deutschen Politikern mitbestimmt worden. Nach 1991 waren die USA zu einem weitgehenden Rückzug aus Europa bereit, hatte sich doch der Gegner in Gestalt der Sowjetunion und des Warschauer Paktes gerade aufgelöst. Dieser Augenblick bot die historisch vielleicht einmalige Chance, sich in der NATO gütlich zu trennen und in der EU eine Außenpolitik zu schaffen, die diesen Namen auch verdient. Doch diese Chance wurde vertan. Stattdessen hat die Bundesregierung (BMVg Volker Rühe vor allem) die Erweiterung der NATO nach Osten propagiert - gegen anfängliche Bedenken in Washington. (Ich habe desöfteren den Eindruck, daß Präsident Bush sen. der für Europa, Deutschland und Rußland verträglichste Staatschef der USA gewesen ist.)
Dann hat es die EU nicht geschafft, die Balkankriege der 90er zu befrieden, was erst nach einem Eingreifen der USA gelungen ist. Zu diesem Zeitpunkt war klar, daß die Idee einer Europäischen Union als weltpolitischem Akteur mittelfristig auf Eis liegen wird.
Sodann hat das Jahr 1999 zwei wichtige Ereignisse gebracht: Die Verabschiedung einer neuen NATO-Strategie und den, noch stärker als der Irak-Krieg 2003, völkerrechtswidrigen Kosovokrieg. An beidem war Deutschland unter der Regierung Schröder/Fischer beteiligt, auf US-Seite war der Demokrat Bill Clinton verantwortlich.

Auch ist vielen Westdeutschen meiner Beobachtung nach die NATO mit all ihren Implikationen so selbstverständlich geworden, daß man in der politischen Klasse instinktiv dazu neigt, alle Ereignisse der Weltpolitik primär durch die Washingtoner Brille zu sehen anstatt eigene Interessen und eine eigene Politik zu definieren. Im einfachen Volk entspricht dem dann die Ansicht, daß die in Deutschland stationierten US-Truppen keine Besatzungstruppen (mehr) seien, sondern "Freunde". Dafür habe ich (wie die meisten Ostdeutschen) wiederum kein Verständnis (vielleicht ist hier das Sensorium für Abhängigkeiten stärker ausgeprägt?).


3. M.E. steht die Notwendigkeit einer politischen Organisation Europas außer Zweifel. Der einzelne Staat war bereits nach dem Ersten Weltkrieg zu klein für viele, insbesondere wirtschaftliche Prozesse geworden, weshalb verschiedene Wissenschaftler an "Großraum"-Theorien arbeiteten. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist diese Entwicklung noch verstärkt worden.
Allerdings ist eine Europäische Union mit heute 27 Mitgliedern doch kaum handlungs- und entscheidungsfähig. Überdies muß es in der EU zuvörderst um gemeinsame Interessen gehen, die verfolgt werden; die Mitgliedschaft stellt keinen Dispens für einzelne Staaten dar, sich in außenpolitischen Narreteien zu üben, deren Folgen sie nicht zu tragen vermögen.

Das amerikanische divide et impera im Hinblick auf die europäische Sicherheitspolitik ist evident, sei es die erhebliche Verzögerung beim Aufbau der EU Battle Groups, welche durch die später veranlaßte Aufstellung der NATO Response Force hervorgerufen worden ist oder der aktuelle Raketenabwehrstreit (siehe dazu auch hier). Allerdings ist es zu einseitig, dies ausschließlich den USA anzulasten, denn es waren auch hier europäische und deutsche Vertreter beteiligt - man kann sich (frei nach Lenin) bisweilen selbst entscheiden, ob man Amboß oder Hammer sein will. Wenn wir keine eigenständige Politik betreiben wollen, dann wird uns niemand dazu zwingen. Das Zusammenschlagen der Hacken genügt.

Und auch Deutschland und die anderen EU-Mitglieder sind mitverantwortlich dafür, daß die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die nach dem Ende des Kalten Krieges der Rahmen für die (sicherheits-)politische Zusammenarbeit in Europa hätte werden können, mittlerweile zu einem besseren Wahlbeobachter (mit einem teuren bürokratischen Apparat) degeneriert ist.


4. Zitat H.S.:
"Deutschland muss sich emanzipieren, der Hegemonialmacht den Gehorsam verweigern und endlich seine reale Souveränität erklären. Hierzu gehört auch der Austritt aus der NATO und der Eintritt in ein rein europäisches Verteidigungs- und Sicherheitsbündnis, ein Bündnis ohne Fremdbestimmung durch Washington."

Hier sind wir d'accord. Doch wird dieses Ziel nicht erreicht werden können, solange die Vasallenmentalität in Deutschland noch so viele Anhänger hat, denn die NATO hat hierzulande nicht nur eine militärische, sondern auch (und vor allem) eine psychologische Dimension. Solange in der politischen Klasse die Furcht vor einem transatlantischen Liebesentzug stärker ist als die Einsicht in die Selbstentwürdigung, besteht nur wenig Hoffnung. Kanzler Schröder hat hier - aus welchen Gründen auch immer - einen Grundstein gelegt, auf dem man aufbauen könnte - wenn es nicht Merkel und Sarkozy gäbe.

Am Ende dieser kleinen Abhandlung bleibt festzuhalten, daß die gegenwärtige - auch für mich unbefriedigende - Situation Deutschlands und Europas nicht allein dem Wirken finsterer Mächte jenseits des Atlantik angelastet werden kann, sondern von Deutschen (durchaus nicht unbeabsichtigt) mit erzeugt wurde. Die amerikanische Politik (die teilweise ja nachvollziehbar ist!) wird hierzulande nicht richtig erkannt und benannt (stattdessen schwafelt man z.B. von einer "westlichen Wertegemeinschaft" oder bleibt im Bush-bashing befangen), von einer konsequenten und gleichzeitig realistischen Gegenpolitik ganz zu schweigen. Sollte letztere denn doch einmal in Erscheinung treten, ist sofort mit dem Einsatz der Geschichte zwecks Disziplinierung zu rechnen (Joschka Fischer wollte im Kosovo schließlich ein neues Auschwitz verhindern).
Solange das so ist, wird sich an den aufgezeigten Mißständen nichts ändern; ihre Ursachen liegen zuvörderst in Deutschland selbst.

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