Montag, 7. Mai 2007

Nachtrag zum KSE-Vertrag

Zum vor anderthalb Wochen verkündeten russischen Moratorium des KSE-Vertrages hat wiederum Alexander Chramtschichin einen lesenswerten Artikel verfaßt:

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Der 1990 unterzeichnete Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) hatte eine Parität zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt hinsichtlich der Panzer, gepanzerten Fahrzeuge, Artilleriesysteme mit einem Kaliber von mehr als 100 mm, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber geschaffen.
Heute gehören die Mitglieder des Warschauer Paktes und einige ehemalige Teilrepubliken der Sowjetunion und Jugoslawiens zur NATO. Aus geopolitischer Sicht hat der KSE-Vertrag jeden Sinn verloren.

Der angepasste KSE-Vertrag, der Quoten für die einzelnen Staaten festsetzt, wurde bisher von keinem NATO-Land ratifiziert - unter dem Vorwand, dass Russland seine Truppen aus Georgien und Moldawien (Transnistrien) nicht abgezogen hat. Der Vertrag setzt Flankenbegrenzungen fest, die im Grunde nur für Russland gelten. Für Russland sind diese Begrenzungen, insbesondere im Kaukasus, sehr nachteilig. Hinzu kommt, dass Slowenien und alle drei baltischen Staaten der NATO angehören, jedoch den KSE-Vertrag nicht unterzeichnet haben. Sie dürfen deshalb ihre Streitkräfte beliebig aufstocken und beliebig große Truppenkontingente anderer NATO-Staaten auf ihrem Territorium stationieren lassen. Slowenien beunruhigt Russland weniger, sondern vielmehr Litauen, Lettland und Estland.

Die Lücken im KSE-Vertrag gehören übrigens eher in den Bereich der Theorie. In der Praxis erreicht keiner der 30 Vertragsstaaten seine Quoten in einer der fünf Waffenklassen (Island, Kasachstan, Kanada und Luxemburg haben überhaupt nichts aufzuweisen). Probleme gibt es in südkaukasischen Ländern, in denen nicht anerkannte Staaten (Bergkarabach, Abchasien und Südossetien) bestehen. Diese De-facto-Staaten unterhalten starke Armeen, die von keinem der völkerrechtlich anerkannten Staaten kontrolliert werden. Doch die Probleme des Südkaukasus scheinen die übrige Welt nicht beunruhigen.

Die Besorgnis Russlands über den KSE-Vertrag ist um so erstaunlicher, als es nicht einmal seine offiziell erlaubte Rüstungsquote erreicht hat. Auch die russischen Bedenken gegen die Osterweiterung der Nato sind erstaunlich, weil diese Erweiterung mit einer Abrüstung der alten und der neuen NATO-Mitglieder einhergeht.

Gegenwärtig ist die NATO mit ihren 26 Mitgliedern hinsichtlich aller Waffenklassen um ein Drittel kleiner als die NATO aus dem Jahr 1991, die aus nur 16 Staaten bestanden hat. Die Nordatlantikpakt-Organisation rüstet inzwischen weiter ab. Vier Mitgliedstaaten haben nur symbolische Armeen. Das trifft vor allem auf Litauen, Lettland und Estland zu. Diese drei Baltikum-Staaten haben insgesamt drei veraltete Panzer T-55 (in Lettland) und vier Flugzeuge L-39 (in Litauen), die man nur mit viel gutem Willen zu den Kampfflugzeugen zählen kann. Die einzige ausländische Truppe im Baltikum ist eine aus vier Jagdflugzeugen bestehende Luftwaffenstaffel der NATO, die auf Bitte der Balten auf dem litauischen Flugplatz Zokniai stationiert wurde. Ein NATO-Stützpunkt besteht in Osteuropa nicht. Zumindest weil der Begriff „NATO-Stützpunkt“ nur auf die Basen in Afghanistan Anwendung findet. Alle anderen NATO-Militärobjekte sind national. Auf dem Territorium der neuen NATO-Mitlieder gibt es - abgesehen von Zokniai - keine fremden Truppen.

Auch die US-Truppen in Europa werden schnell abgebaut. Befanden sich Ende der 1980er Jahre vier amerikanische Divisionen (plus eine Brigade in Westberlin) und neun taktische Fliegergeschwader in Europa, so sind heute nur zwei Divisionen (die sich de facto im Irak befinden), eine Brigade und drei Geschwader übriggeblieben. Die USA pachten zudem einige Objekte in Bulgarien, Rumänien und Polen, auf denen nur technisches und Bedienungspersonal untergebracht werden soll. In diesen Objekten können zwar große Truppenkontingente stationiert werden, doch das würde viel Zeit in Anspruch nehmen, so dass ein Überraschungsangriff nicht in Frage kommt. Wichtig ist, dass die USA keine freien Ressourcen für Truppeneinsätze außerhalb des Iraks und Afghanistans mehr haben. Außerdem steht die US-Gesellschaft aufgrund der Irak-Katastrophe vor einem neuen psychologischen Syndrom und wird sich noch lange für keinen neuen Großkrieg entscheiden.

Ein noch größeres Problem für die NATO ist die Pazifismus-Welle in Europa. Wenn weder Völker, noch ihre Regierungen noch Armeen einen Krieg wünschen, dann ist es völlig egal, wieviel und welche Waffen sie haben. Ein Paradebeispiel dafür ist Afghanistan. Die europäischen Staaten schicken dorthin symbolische Kontingente, die sich trotz Forderungen aus Washington immer häufiger weigern, Waffen einzusetzen. Man denke allein an die Festnahme der britischen Marinesoldaten, die so gut wie keinen Widerstand leisteten.

Deshalb ist es unvernünftig, die NATO als eine Bedrohung für Russland zu betrachten. Das bedeutet jedoch nicht, dass der KSE-Vertrag vernachlässigt werden darf. Ein einseitiger Ausstieg aus dem Vertrag würde Moskau schaden. Mit der Kündigung des Vertrages würde Moskau das erreichen, was Washington heiß begehrt, nämlich die NATO-Staaten angesichts der neuen Gefahr aus dem Osten wieder zusammenrücken zu lassen.
Eine Modernisierung des Vertrages ist hingegen sehr empfehlenswert. Hier sind zwei Varianten möglich.

Erstens kann man die NATO hinsichtlich der Zahl der Waffen mit der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) gleichstellen. Von den OVKS-Staaten unterliegen Russland, Weißrussland, Armenien und Kasachstan dem KSE-Vertrag. Sämtliche Flankenbegrenzungen könnten dabei gestrichen werden. Man müsste vor allem vereinbaren, dass die Änderung der Zusammensetzung jedes der beiden Bündnisse keine Auswirkungen auf die vereinbarten Obergrenzen der Waffen haben darf. Bei der Aufnahme neuer Mitglieder und bei Entlassung von alten müssen die Obergrenzen innerhalb des Bündnisses neu verteilt werden, wobei die gesamte Obergrenze unverändert bleiben muss. Für die Staaten außerhalb der beiden Bündnisse (Ukraine, Moldawien, Georgien und Aserbaidschan) könnten die gegenwärtig geltenden Obergrenzen in Kraft bleiben. Natürlich müssten Slowenien und die Baltikum-Staaten in den Vertrag eingebunden werden und künftig auch Kroatien, Albanien und Mazedonien, wenn diese der NATO beitreten.

Die zweite Variante besteht darin, die NATO Russland gleichzustellen. Da dies kaum realistisch erscheint, muss das Verhältnis bei allen Waffenklassen mit 1,5:1 festgesetzt werden. Die NATO muss sich verpflichten, an den vereinbarten Obergrenzen unabhängig von ihrer zukünftigen Zusammensetzung festzuhalten.

Da derzeit kein Land seine Quoten erreicht, müsste Russland neue, niedrigere Obergrenzen durchsetzen. Das würde niemandem Schaden bringen, denn man wird entweder gar nichts oder veraltete Technik reduzieren müssen. Die Unterzeichnung eines neuen Vertrages an sich würde das gegenseitige Vertrauen fördern und für Entspannung sorgen.

[...]"

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