Samstag, 5. Mai 2007

Ein aufgebauschter Streit


In den vergangenen zwei Wochen ist der schon lange schwelende Streit um die Verlegung eines Soldatendenkmals in der estnischen Hauptstadt Tallin offen ausgebrochen und hat auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt. Unstrittig dürfte die Verurteilung der Ausschreitungen des Mobs in Tallin sein, der sich kaum für die historischen und politischen Fragen interessiert, sondern z.T. aus purer Lust an der Randale agiert hat. Die polizeiliche Reaktion darauf hat freilich auch gezeigt, daß 'brutale' Polizeieinsätze kein Privileg der russischen OMON sind, sondern auch in der EU vorkommen.

Richtig ist auch, daß Estland als souveräner Staat über die Denkmale, die auf seinem Boden stehen - rechtlich - frei entscheiden kann. Das hat, dem Vernehmen nach, sogar Wladimir Schirinowski akzeptiert. Dennoch ruft es Erstaunen hervor, wie leicht einigen Europäern und Amerikanern das Souveränitätsargument im Falle Estlands über die Lippen geht, die hingegen nicht bereit sind, sich ihrer eigenen Interventionen in die russische Innenpolitik zu enthalten und auch sonst von der Souveränität fremder Staaten nicht allzuviel halten.

Und dann sind da noch die - in solchen Fällen wohl fast unvermeidlichen - estnischen Vorwürfe der Nichtbeachtung der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen durch die russischen Behörden wegen der Protestaktionen vor den diplomatischen und konsularischen Vertretungen des Landes in Moskau und St. Petersburg, wobei die Arbeit der Petersburger Miliz offensichtlich die Billigung der Esten fand, nicht jedoch die der Moskauer. (Im übrigen kann man von den Naschi oder der Jungen Garde halten, was man will, aber ihre Aktionen wird man wohl oder übel auch als Ausdruck der russischen "Zivilgesellschaft" akzeptieren müssen - mindestens ebenso sehr wie wie diejenigen Kasparows.)

Drei Aspekte dieses Konfliktes verdienen auch im Nachhinein noch eine nähere Betrachtung.

Da ist zunächst der estnische Umgang mit der größten ethnischen Minderheit im Land, den Russen, die etwa ein Viertel der Einwohner stellen, von denen rund 125.000 Personen staatenlos sind. Konnte man - wie auch der Verfasser dieser Zeilen - für die harte Position Estlands (und Lettlands) bezüglich der im Lande lebenden ethnischen Minderheiten in den 1990er Jahren noch sehr viel Verständnis aufbringen, da die Sowjetunion erst kurz zuvor untergegangen war, so fällt das heute, im Jahre 2007, schon erheblich schwerer. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als glaubten manche baltischen Politiker, den für alle Beteiligten unbefriedigenden Ist-Zustand unbegrenzt in die Zukunft fortschreiben zu können, anstatt in absehbarer Zeit eine Lösung - etwa durch erleichterte Einbürgerung oder vielleicht auch durch Anreize zur 'Rückwanderung' in die Herkunftsgebiete - anzustreben.

Die Politik der beiden baltischen Staaten erinnert leider deutlich an eines der dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte: die Nationalitätenkämpfe in Ostmitteleuropa während des 19. und 20. Jahrhunderts. Waren z.B. in den 1920er Jahren die dort ansässigen Deutschen nicht nur in Polen, sondern auch im Baltikum die Opfer dieser Politik, so sind es heute eben die Russen. Es zählt m.E. zu den Lektionen der europäischen Geschichte dieser Zeit (insbesondere durch die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des Reiches), daß der Preis eines "reinen Volkstums" in diesem Teil Europas zu hoch ist, um erstrebenswert zu sein. Und solange man im Baltikum diese Lektion nicht gelernt hat, erscheint deren selbstgewählte Rolle als 'östlicher Vorposten Europas und seiner Zivilisation' einfach nur lächerlich.

Damit erhebt sich, zweitens, auch die Frage, wie sich die anderen EU-Mitglieder in diesem Fall verhalten sollten. Selbst der notorisch russophobe Edward Lucas kann nicht umhin, der estnischen Führung eine Mitverantwortung für die Eskalation des Konflikts zuzuweisen (siehe hier und hier). Somit war es das Klügste, sich aus dieser Krise weitgehend herauszuhalten und beide Seiten zur Mäßigung aufzufordern.

Hingegen ist nicht einsichtig, weshalb EU und NATO zugunsten Estlands intervenieren sollten, denn - politisch-diplomatische wie militärische - Beistandsgarantien können natürlich nur für unprovozierte Angriffe gelten, anderenfalls würden sich die übrigen Vertragspartner auf Gedeih und Verderb der - möglicherweise destruktiven - Außenpolitik eines einzigen Staates ausliefern. Und eine solche hat Estland in den letzten Jahren bezüglich Rußland zweifellos betrieben. Da will man z.B. die Witwe des Tschetschenführers Dudajew einbürgern, da werden 'farbige Revolutionen' in der GUS unterstützt und Solidaritätsadressen mit Georgiens Präsident Saakaschwili ausgetauscht, kurz: man läßt keine sich bietende Gelegenheit aus, um die russische Staatsführung zu ärgern und zu provozieren. Und wenn kommt, was kommen muß - nämlich eine unfreundliche Reaktion Rußlands -, dann spielt man die beleidigte Unschuld vom Lande und läuft zu seinen 'großen Brüdern' in NATO und EU, um sich an ihrer Brust über die ach so bösen Russen auszuweinen.

Frappierend ist auch, daß der Beitritt der baltischen Staaten nicht, wie allseits prognostiziert, zu mehr Ruhe und Entspanntheit in der Region geführt hat, obwohl sie sich nun, vielleicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte, vor einer eventuellen Bedrohung durch Rußland wirklich sicher fühlen können. Stattdessen nutzt man die neue Rückendeckung, um endlich für alle historische Unbill an den Russen Rache zu nehmen. So ist etwa bis heute kein - eigentlich rein technischer - Grenzvertrag zwischen beiden Staaten zustande gekommen, da die estnische Seite den bereits unterzeichneten Vertrag eigenmächtig mit einer geschichtspolitischen Präambel versehen hat, die für die russische Seite nicht akzeptabel war. (Damit haben, nota bene, NATO und EU ein Mitglied aufgenommen, dessen Grenzverlauf nicht abschließend geklärt ist.)

Angesichts dieser estnischen Politik, welche die notwendigen Minimalanforderungen für nachbarschaftliche Beziehungen nur bedingt erfüllt, ist es mithin durchaus angebracht, sich deutscherseits in Zurückhaltung zu üben und den Esten mitzuteilen, daß man ihnen mit ihrer Aufnahme in EU und NATO nicht Carte blanche gegeben hat, um sich ständig mit Rußland anzulegen. Beide Organisationen dienen der Verfolgung gemeinsamer Interessen und sollten sich nicht von einzelnen Mitgliedern in eine faktische 'Geiselhaft' nehmen lassen. Dies wurde übrigens von Lettland richtig erkannt, das mittlerweile in ein kooperatives Verhältnis mit Rußland eingetreten ist.

Wenn man allerdings - wie z.B. Lucas - Unterstützung für Estland mit dem Argument einfordert, daß das Land in Afghanistan militärisch präsent sei, dann sollte man nicht vergessen, daß etwa die gesamte Logistik des deutschen Afghanistankontingentes seit Beginn des Einsatzes über Rußland abgewickelt wird, ohne daß beide Staaten darüber großes Aufheben machen oder substantielle Probleme entstehen würden (obwohl andererseits das NATO-Mitglied Litauen Rußland den Transit militärischer Güter in seine Exklave Kaliningrad/Königsberg nicht gestattet hat).

Drittens muß Rußland sich aber auch daran gewöhnen, nicht auf jede Provokation mit harschen Worten und Maßnahmen zu reagieren, oder, in den Worten von Michael Sadornow: "Wenn Dich ein Hund ankläfft, gehst Du dann auch auf alle viere und kläffst zurück?", sondern muß sein diplomatisches Repertoire in den Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten erweitern. Größe kann auch durch eine gewisse Gelassenheit demonstriert werden. (Ob dadurch allerdings die verbreitete europäische und amerikanische Wahrnehmung, die jede Äußerung der russischen Führung, die nicht aus dem bedingungslosen Kotau besteht, sofort als Bedrohung ansieht, verändert werden kann, darf bezweifelt werden.) Dies gilt auch dann, wenn aus russischer Sicht in diesem Konflikt nur die Wahl zwischen zwei Übeln gegeben hat, wie von Tatjana Stanowaja durchaus nachvollziehbar dargelegt wurde.

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