Samstag, 14. April 2007

"Der Image-Krieg des Westens gegen Russland"

Um zur Nacht wieder zu einem etwas leichteren Thema zu kommen ;), sei hier ein bedenkenswerter Text, den Viktor Jerofejew vor einigen Wochen in der Welt veröffentlich hat und in dem er überraschenderweise eurasisch angehaucht argumentiert (und frühere Gedanken ausbaut), auszugsweise wiedergegeben:
"Der Image-Krieg des Westens gegen Russland

[...]

Dem Westen scheint der Geduldsfaden gerissen zu sein. Gegen den mikrobenverseuchten Raum hat eine neue Form des Kalten Krieges begonnen – der Image-Krieg, der im Unterschied zum klassischen Kalten Krieg zwar nicht in einen militärischen Konflikt umzuschlagen droht, jedoch auf Entfremdung hinausläuft. Russland wird für seine Missachtung der ethischen Hygiene mit der Schaffung eines wenig attraktiven Images abgestraft.

Im Gegenzug zu behaupten, Russland sei ein vorbildliches Land, würde bedeuten, vor allem sich selbst zum Lachen zu bringen. Trotz aller Meinungsunterschiede in der russischen Öffentlichkeit kenne ich keinen einzigen Menschen, der die Korruption, die seelenlose Bürokratie, die Zustände in der Armee, das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, die horrenden Immobilienpreise usw. gutheißen würde. Doch Russland will und kann trotz all seines Elends nicht einsehen, dass es ein ungeputztes Zimmer im gemeinsamen europäischen Haus ist. In der Epoche der Globalisierung mag es geschmacklos erscheinen, an die Kulturtheorie Oswald Spenglers zu erinnern, doch andererseits kann man nicht umhin, Russland als eigenständige Zivilisation zu betrachten, die sich weder auf den Westen, noch auf den Osten bezieht.

[...]

Hätten wir gelbe Gesichter und Schlitzaugen, würde niemand uns zu Europa zählen, aber wir sind Weiße, ergo gehören wir dazu. Der Westen zettelt einen Image-Krieg mit Russland an und stützt sich dabei unbewusst auf seinen Eurozentrismus, denn er hält seine Zivilisation für einen feinen Klub und die einzige Garantie für hohe Lebensqualität. Russland hat als zivilisatorisch rückständiges Land vieles von Europa übernommen. Puschkin schrieb nicht umsonst, Peter der Große habe ein Fenster nach Europa aufgestoßen; ich verstehe das als Fenster, durch das man Europa endlich sehen konnte, nicht aber als Verschmelzung mit Europa.

Unser Unglück wie auch unsere Stärke besteht darin, dass die Werte unserer selbstständigen Zivilisation in ihre Einzelteile zerlegt sind, nachdem sie sich zwei Mal innerhalb eines Jahrhunderts, während der Revolution und der Perestrojka, radikal verändert haben. Unsere Fähigkeit zu sündigen und zu bereuen, inbrünstig zu beten oder einen drauf zu machen wie Rasputin – das sind wohl eher literarische Bilder als ein klares nationales Wertesystem. Aufgrund von solchen Bildern lässt sich weder die Lebensfähigkeit eines Landes steigern, noch die notwendige Modernisierung durchführen.

Die Schwäche des liberalen Potenzials in Russland erklärt sich daraus, dass es nicht mit den inneren Intentionen und Wünschen im Einklang steht; doch auf Intentionen lässt sich eben auch keine Zivilisation aufbauen. Wir sind Gefangene unserer Fantasien, und die Staatsmacht laviert herum, indem sie versucht, die Heilige Rus mit Marktwirtschaft, nationale Kränkungen mit Arroganz, mit unterbewusstem Imperialismus zu versöhnen. Die Reaktion des Westens: Ihr seid nicht zu durchschauen; bei euch werden Andersdenkende umgebracht, bei euch gibt es alltäglichen Rassismus. Wollt ihr euch bessern, sagt der Westen, dann kommt zu uns, wir helfen euch.

[...]

Würden wir dorthin gehen, wären wir nicht wir. Russland bewahrt zwar sein ziemlich verschwommenes, von Erschütterungen zerstörtes Selbstbild (das sich so sehr von der japanischen Traditionstreue unterscheidet), beginnt aber andererseits allmählich, unabhängig davon, welche Richtung die Staatsmacht einschlägt, mit allgemein menschlichen Werten Schritt zu halten, die im Grunde eine europäische Formel sind. Was immer der Westen über den Zustand russischer Freiheiten sagt, Russland ist in den letzten fünfzehn Jahren trotz aller inneren Schwankungen bei weitem freier geworden als es zu jedem anderen Zeitpunkt seiner Geschichte gewesen ist.

Die Freiheit vor allem im Privatleben hat nie gekannte Ausmaße erreicht und ist kaum wieder zurückzunehmen. Konsumgesellschaft und Philosophie des Genusses sind ebenso Realität geworden, auch für diejenigen, die beides ablehnen. Das Bewusstsein des heutigen Russen wird immer zerrissener, surrealistischer. Im Grunde ist das genau das Bild des realen und nicht des imaginären Russland. Doch aus dem widersprüchlichen Bild unseres Landes pickt sich der Westen in der Hauptsache das heraus, was ihm als skandalös und wild erscheint.

Ich behaupte nicht, Russland befände sich jetzt in einem Übergangsstadium oder im Umbruch. Das wäre eine Vereinfachung. Russland befindet sich im Zustand eines inneren Image-Kriegs, mit sich selbst nämlich, und vom Lebensmodell, das die junge Generation wählt, hängt nicht nur Russlands Zukunft ab, sondern auch die Antwort darauf, ob es überhaupt eine Zukunft für unser Land gibt. Es wäre allzu unvernünftig, vom Westen nur die Technik zu übernehmen, ohne lebendige Inhalte. Solch ein konservativer Zynismus kann in der weiteren Entwicklung nicht funktionieren.

Vom Westen sollte man nur das Beste der allen gemeinsamen Kultur übernehmen. Brave Reproduktion des westlichen Lebens wird uns ohnehin nicht gelingen. Die Zeit der Utopie ist zu Ende, obwohl es immer noch viele nationale Utopisten gibt. Wir sind keine Europäer, aber wir sind auch keine Skythen. Wir haben unser eigenes Haus. Wir müssen mit offenen Fenstern leben.

[...]"

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