Dienstag, 17. April 2007

Demo-Nachschlag

Wie werden in Rußland selbst die Demonstrationen und Auseinandersetzungen vom letzten Wochenende eingeschätzt? Dazu hat RIA Nowosti gestern eine Presseschau veröffentlicht:
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Die Bewegung „Anderes Russland“ hat sich am Freitag trotz Demonstrationsverbots zu einem „Marsch der Nichteinverstandenen“ in Moskau entschlossen. Das Polizei- und Armeeaufgebot, das zehnmal höher als die Zahl der Demonstranten war, ging gegen die Aktionsteilnehmer hart vor, berichten am Montag die Tageszeitungen „Gaseta“ und „Kommersant“.

Laut offiziellen Angaben wurden rund 170 Teilnehmer festgenommen und Dutzende verprügelt. Dennoch haben die „Nichteinverstandenen“ ihr Ziel erreicht: Statt der Opposition die Möglichkeit zu geben, eine relativ kleine Aktion abzuhalten, verwandelten die Behörden das Moskauer Stadtzentrum in ein Testgelände für paramilitärische Übungen. Am Sonntag wiederholte sich die gleiche Situation in Sankt Petersburg.

Stanislaw Belkowski, Direktor des Instituts für nationale Strategie, meinte dazu: „In politischer Hinsicht war es für die Regierung völlig sinnlos, Angst vor einem Marsch wie dem am Sonnabend zu haben. Wären alle Aktionen zum ‚Marsch der Nichteinverstandenen’ gestattet worden, so wären 6000 bis 7000 Menschen ruhig durch die Stadt marschiert, was die jetzige Regierung in keiner Weise bedroht hätte.
Putin hat offensichtlich die Ursachen der ‚orange' Revolution und deren Entstehungsentwicklung nicht begriffen. Das, was unverständlich ist, löst eben immer Angst aus. Deshalb rufen beliebige öffentliche Aktivitäten der Opposition eine Überreaktion bei Putin aus.

Für die im Kreml-System tätigen Personen ist der Kampf gegen die Opposition ein Geschäft. Der Kampf gegen die Opposition ist im heutigen Russland ein überaus einträgliches Geschäft. Hätte der Kreml die Opposition adäquat aufgenommen und einen angemessenen Dialog mit dieser geführt, so hätte er nicht die vielen Millionen Dollar für politische Instrumente wie etwa die Jugendorganisationen ‚Naschi’ und ‚Junge Garde’ sowie für das Ausbildungssystem dieser Phantom-Organisationen ausgegeben. Zweitens: Die bewaffneten Strukturen erhalten ebenfalls zusätzliche Gelder für die Auflösung der Oppositionsaktionen.“

Dmitri Oreschkin, Leiter der analytischen Gruppe Mercator: „Die Regierung baut eigenhändig eine außerhalb des Systems stehende Opposition auf.“
Andrej Illarionow, ehemaliger Wirtschaftsberater von Präsident Putin: „Solange der Staat von einer Korporation der Geheimdienstmitarbeiter verwaltet wird, wird die Gesellschaft nach einem Weg zur Anwendung der für die Systemveränderung erforderlichen Gewalt suchen. Die Gesellschaft kämpft mit den Methoden, die halt vorhanden sind.“"

Unterdessen hat ein Pressesprecher des Präsidenten Überreaktionen der Sicherheitskräfte eingeräumt:
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Auf die jüngsten „Märsche der Nichteinverstandenen“ eingehend, stellte Peskow fest, dass diese hinsichtlich der Teilnehmerzahl „äußerst bescheiden“ waren. „In den ausländischen Medien hat es diesbezüglich Übertreibungen gegeben.“ „Übertrieben“ fand er auch die Reaktion der Rechtsschutzorgane in einzelnen Fällen. „Das Hauptziel bestand aber in der Einhaltung von Recht und Ordnung bei diesen Ereignissen.“

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Siehe dazu auch diesen Bericht. In St. Petersburg wurden gestern bereits amtliche Untersuchungen zum Vorgehen der Polizei eingeleitet.

Michael Gorbatschow sieht in den Demonstrationen einen Versuch, Rußland zu destabilisieren:
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Die Protestdemonstrationen vom letzten Wochenende sind ein Versuch, das Land in den Grundfesten zu erschüttern.
Das sagte der Ex-Präsident der Sowjetunion und heutige Leiter der internationalen Stiftung für sozialökonomische und politische Forschungen, Michail Gorbatschow.
„Es gibt Kräfte, die die Lage im Land erschweren und es in die Instabilität treiben wollen“, sagte Gorbatschow auf einer Pressekonferenz bei RIA Novosti. Derartige Märsche, äußerte er, werden „inszeniert, um die Gesellschaft einzuschüchtern. Das ist nicht akzeptabel.“
„Wir müssen unsere Lehre ziehen und denjenigen, die Furcht in der Gesellschaft säen wollen, sagen, dass sie den Bogen überspannen.“ Seine Philosophie sei mit der Gedankenwelt der Drahtzieher unvereinbar.

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Der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin hat das Vorgehen der Miliz kritisiert und seine Unterstützung für eventuelle Klagen angekündigt:
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Lukin kritisierte, dass die Polizei ihren Auftrag, „den friedlichen und sicheren Charakter von Meetings und Demonstrationen zu gewährleisten“ nicht erfüllt und stattdessen Leib und Leben von Bürgern in Gefahr gebracht habe. Die Rechtfertigung, dass sich die Demonstranten in Moskau über ein bestehendes Umzugsverbot hinweggesetzt haben, ließ der Menschenrechtsbeauftragte Putins nicht gelten. „Die Verfassung sagt klar, Russlands Bürger haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen auf Meetings und zu Demonstrationsumzügen zu versammeln“, sagte Lukin. Seiner Auffassung nach hätte der Marsch nicht verboten werden dürfen.

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Bedauerlicherweise hat Lukin eines nach wie vor nicht verstanden. Die entscheidende Frage ist nicht, ob staatliches Handeln irgendwelche Grundrechte von Bürgern beschränkt hat (das passiert jeden Tag, zehntausendfach), sondern ob diese Beschränkung gerechtfertigt war. Es versteht sich wohl von selbst, daß in einer Gesellschaft, in der Millionen von konfligierenden Rechtsgütern und -ansprüchen aufeinandertreffen, irgendjemand immer den kürzeren ziehen muß. Wenn der eine bei grün über eine Ampelkreuzung fahren darf, muß der andere eben bei rot warten und seine Fahrt unterbrechen. Davon kann er auch nicht dadurch absehen, daß er den Verfassungstext ans Fenster hält. Lukin müßte somit fragen 'War die Verbotsverfügung für die Demonstration rechtmäßig?' und dann zwischen Pro- und Contra-Argumenten entscheiden, anstatt sich in Grundsatzdiskussionen zu ergehen.

(Allerdings muß man konzedieren, daß das demonstrative Hochhalten der russischen Verfassung durch die Demo-Teilnehmer am Samstag eine wirklich brilliante PR-Aktion war, deren Wirkung - zumindest im Ausland - kaum überschätzt werden kann.)

Und Kasparow selbst? Der wurde, ebenso wie Limonow, mittlerweile vom FSB vorgeladen, hat aber schon wieder frischen Mut gefaßt und will vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Klage erheben:
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Der ehemalige Schachweltmeister und russische Oppositionspolitiker Garri Kasparow will Klage vor dem EU-Gerichtshof in Straßburg einreichen. Das teilten seine Anwälte mit.

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Die Anwälte wollen erreichen, dass sämtliche gegen ihren Mandanten vorgebrachten Anklagepunkte widerrufen werden. Sie glauben zugleich nicht, dass ihrer Klage in Russland stattgeben wird und richten sich deshalb an ein internationales Gericht."

Wieder eine ganz auf die Öffentlichkeitswirkung bedachte Aktion, denn sie ist ohne Aussicht auf Erfolg. Eine Klageerhebung vor dem EGMR setzt nämlich gemäß Art. 35 I EMRK die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges voraus - was bei einem überstaatlichen Gericht auch gar nicht anders sein kann. Angesichts des bewußten Verzichts auf das Beschreiten dieses Rechtsweges muß man sich ernstlich fragen, ob Kasparows Rechtsanwälte einfach nur blöd sind oder ob es ein Gag war, um die Medien wieder mit ein bißchen Futter zu versorgen.

(Im übrigen sollten die Leute bei Rußland Aktuell endlich einmal registrieren, daß der EGMR kein "EU-Gericht" ist, sondern zum Europarat gehört. Die echten EU-Gerichte, Europäischer Gerichtshof und Gericht erster Instanz, residieren in Luxemburg.)

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