Montag, 16. April 2007

Demo-Wochenende

Demonstranten beim "Marsch der Nichteinverstandenen" am 3. März 2007 auf dem Sankt Petersburger Newskij-Prospekt (Foto: www.fontanka.ru).


Die Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg an diesem Wochenende sind so verlaufen, als hätten die russischen Behörden sämtliche Vorwürfe ihrer Kritiker bestätigen wollen. Daher nimmt es auch nicht wunder, wenn sich Garry Kasparow über einen "großen Sieg" freut. (Angesichts dessen wird er auch mögliche Imageprobleme wegen seiner Zusammenarbeit mit den auch nach westeuropäischen Maßstäben als radikal anzusprechenden Nationalbolschewisten und der Avantgarde der Roten Jugend verschmerzen können.) Die von ihm geführte Bewegung Das andere Rußland hatte, wie bereits im März, erneut zu "Märschen der Nichteinverstandenen" aufgerufen.

Zunächst die Fakten. Am Samstag war in Moskau eine Kundgebung am Turgenjewplatz genehmigt, der ursprünglich geplante Marsch durch die Innenstadt aber untersagt worden. Die Versammlung mitsamt Reden usw. fand dann auch statt, allerdings wurden Versuche, in der Nähe des Puschkinplatzes doch noch einen Demonstrationszug zu formieren, von der Miliz (= Polizei) und den Inneren Truppen des Innenministeriums (= Bereitschaftspolizei) unterbunden (die insgesamt mit etwa 9000 Mann im Einsatz waren), wobei es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, in deren Verlauf ca. 170 bis 200 Personen festgenommen worden sind (darunter auch Kasparow selbst). Ebenso wurden einige Gegendemonstranten in Gewahrsam genommen. Die Zahl der Kundgebungsteilnehmer soll laut Russland Aktuell nur im dreistelligen Bereich gelegen haben. Bilder und Berichte aus Moskau sind hier, hier, hier, hier, hier und hier zu finden.

Am Sonntag war dann die Situation in St. Petersburg ähnlich. Die genehmigte Kundgebung auf dem Puschkinplatz fand mit etwa 1500 Teilnehmern statt und verlief friedlich. Die Sicherheitskräfte waren ebenfalls mit rund 1500 Mann präsent. Nach Ende der Veranstaltung versuchten rund 150 Demonstranten Polizeiabsperrungen mit Gewalt zu durchbrechen und doch noch einen - von den Behörden verbotenen - Marsch durch die Innenstadt durchzuführen. Auch hier kam es in der Folge zu Ausschreitungen mit ca. 120 Festnahmen (darunter auch Eduard Limonow). Bilder dazu hat fontanka.ru, ebenso einen ausführlichen Bericht.

Jetzt zu den Behauptungen und Märchen. Der Spiegel verdoppelt erst einmal die Zahl der Petersburger Demonstranten (und zählt auch später die Moskauer nach Tausenden) und entstellt den Ablauf der Ereignisse, als hätte der böse Polizeistaat völlig willkürlich zugeschlagen:

"[...]

In St. Petersburg, der zweitgrößten Stadt Russlands und Putins Heimat, protestierten heute rund 3000 Menschen gegen den Präsidenten und forderten dessen Rücktritt. Gegen Ende der Demonstration warfen behelmte Beamte der Sonderpolizei Omon wie am Tag zuvor in Moskau Demonstranten zu Boden und knüppelten nach Augenzeugenberichten auf sie ein.

[...]"

Die Angabe des Zeitraums, den Kasparow am Samstag in Gewahrsam verbringen mußte (aus dem heraus er übrigens munter Telefoninterviews gegeben hat, also mitnichten "verschwunden" war), schwankt - je nach Medium - zwischen fünf und zehn Stunden; scheinbar darf sich jeder das ihm genehme heraussuchen. (Hier muß Kasparows Öffentlichkeitsarbeit wohl noch besser werden, auch wenn seine Sprüche schon ganz gut ankommen.)

Dann wird eine versuchte Gefangenenbefreiung (die auch in Deutschland strafbar wäre) wie eine demokratische Heldentat gefeiert:

"[...]

Vor dem Polizeigebäude, in dem Kasparow am Nachmittag verhört wurde, gab es blutige Szenen. "Die Sicherheitskräfte griffen sich einzelne Demonstranten heraus und schlugen mit brutaler Gewalt auf sie ein", berichtete eine Augenzeugin. Etwa einhundert bis zweihundert Menschen forderten die Freilassung Kasparows sowie anderer festgenommener Oppositionsanhänger und Journalisten. "Nieder mit dem Polizeistaat" und "Wir wollen ein anderes Russland", riefen die Demonstranten.

[...]"

Ebendort wird ferner Marieluise Beck mit dem Satz zitiert: "Willkürliche Massenverhaftungen zeichnen alle Regime aus, die Angst vor demokratischen gesellschaftlichen Kräften haben." Aha, das Durchsetzen eines konkreten Demonstrationsverbotes ist also eine willkürliche Massenverhaftung. (Wir dürfen auf den nächsten Castor-Transport nach Gorleben gespannt sein.)
Ähnlich präzise die Welt, welche die Lage in Moskau gänzlich entstellt; man verwechselt wohl die stattgefundene Kundgebung mit dem früheren Demonstrationsversuch.

Und nach den oben verlinkten Bildberichten von den Demonstrationen zu urteilen, wird man auch den Polizeieinsatz nicht als übermäßig brutale "Prügelorgie" bezeichnen können: Polizisten bilden Absperrketten, führen (oder tragen ggf. renitente) Festgenommene weg, Schlagstockeinsatz dort, wo man scheinbar anders Gehorsam nicht erzwingen kann. Wasserwerfer oder Tränengas sind allem Anschein nach nicht eingesetzt worden. Ähnliche Szenen lassen sich jedes Jahr auch in Deutschland bei den verschiedensten Anlässen dutzendfach beobachten. Insofern täte auch die Berichterstattung gut daran, etwas mehr Nüchternheit und Augenmaß walten zu lassen.
(Dies ist freilich keine Entschuldigung, falls es tatsächlich seitens der Polizei zu einem rechtswidrigen Einsatz von Gewalt gekommen sein sollte. Das müßte dann aber belegt werden.)

Wie wäre es eigentlich, wenn sich Kasparow und Ryschkow, die die russischen Behörden gern und oft der Verletzung von Gesetzen bezichtigen (diese dann aber nie namhaft machen, sondern es bei globalen Anschuldigungen bewenden lassen), auch selbst einmal an Gesetze und auf deren Grundlage erlassene Verwaltungsakte wie ein Demonstrationsverbot hielten? Interessant ist auch, daß ihre Behauptungen häufig eins zu eins als bare Münze in die Artikel übernommen werden. (So ist Ryschkow für die Welt der letzte "unabhängige" Dumaabgeordnete, wodurch suggeriert wird, alle anderen - auch die Kommunisten - würden von Putin kommandiert werden. Zutreffend ist, daß Ryschkow derzeit der einzige fraktionslose Abgeordnete ist.)

Eines ist nach diesem Wochenende auf jeden Fall sicher: Den internationalen Informationskrieg haben Kasparow & Co. schon fast für sich entschieden, denn es gibt mittlerweile genug Leute, die an ihren Lippen kleben und bereit sind, jedem ihrer Postulate - und sei es auch noch so bizarr (wie etwa Kasparows makroökonomische Bemerkungen) - Glauben zu schenken. Und die Ereignisse um die Demonstrationen bzw. die Bilder von ihnen wirken insoweit fast wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Kasparow hat den Krawall herausgefordert und die Behörden haben ihm den Gefallen getan - und sich damit ins eigene Fleisch geschnitten.

Der Frage nach dem Warum geht auch die NZZ in einem lesenswerten Kommentar nach. Und die FAZ hat - wieder einmal - nichts besseres zu bieten als die mittlerweile übliche Kalte-Kriegs-Rhetorik, allerdings in einer alles andere als stringenten und überzeugenden Argumentation (wobei ihre Skepsis bezüglich der Opposition hierzulande nicht selbstverständlich ist):

"[...]

Nachdenklich stimmt allerdings auch der Zustand der Opposition: Der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow, der immer mehr zum Führer des Anti-Putin-Lagers wird, hat sich mit unappetitlichen Leuten eingelassen, vor allem mit Nationalbolschewiken, die von einem Mann mit rechtsradikaler Vergangenheit geführt werden. Nicht ohne Grund halten die alten liberalen Parteien Abstand zu diesem Bündnis. Ein strategischer Partner kann so ein Land für Europa nicht sein, wahrscheinlich noch nicht einmal ein zuverlässiger: Die Abhängigkeit, vor allem die energiepolitische, sollte man so gering wie möglich halten - und nicht noch immer weiter ausbauen."

Was, bitte, hat die Zuverlässigkeit der Rohstofflieferungen mit dem Zustand der Opposition zu tun? Oder mußte der bekannte Textbaustein mit der Abhängigkeit unbedingt noch irgendwie in den Text eingebaut werden - die bedeutendste deutsche Tageszeitung als russophober Cato?

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