Sonntag, 29. April 2007

Die russische Sicht auf den KSE-Vertrag

Am 26. April hat der russische Präsident Putin in seiner diesjährigen Jahresbotschaft vor dem Parlament die folgenden, vielbeachteten Ausführungen gemacht:
"[...]

As you know, the Warsaw Pact countries and NATO signed the Conventional Forces in Europe Treaty in 1990. This treaty would have made sense if the Warsaw Pact had continued to exist.
But today all that this treaty means is that we face restrictions on deploying conventional forces on our own territory. It is difficult to imagine a situation where the United States, for example, would accept restrictions on such a basis on the deployment of troops on its own territory. However, not only did Russia sign and ratify this treaty, but it has also observed its provisions in practice.
We have carried out considerable troop reductions. We no longer have any groups in the northwest of army or corps size. Practically all types of heavy arms have been withdrawn from the European part of the country. We are essentially the only country facing so-called ‘flank restrictions’ in the south and north. Even when the situation flared up in Chechnya, Russia continued to observe its commitments under this treaty and coordinated its action with its partners.

But what about our partners? They have not even ratified the adapted treaty, citing the Istanbul Agreements providing for the withdrawal of Russian troops from Georgia and Trans-Dniester.
But our country has been working consistently towards resolving these complex tasks. More importantly, the Conventional Forces in Europe Treaty is not in any way legally bound to the Istanbul Agreements.

This makes us fully justified in saying that in this particular case, our partners are not displaying correct behaviour, to say the least, in their attempts to gain unilateral advantages. While making use of an invented pretext for not ratifying the Conventional Forces in Europe Treaty, they are taking advantage of the situation to build up their own system of military bases along our borders. Furthermore, they plan to deploy elements of a missile defence system in the Czech Republic and Poland.
New NATO members such as Slovenia and the Baltic states, despite the preliminary agreements reached with NATO, have not signed the Conventional Forces in Europe Treaty at all. This creates a real threat and an unpredictable situation for Russia.

In this context, I believe that the right course of action is for Russia to declare a moratorium on its observance of this treaty until such time as all NATO members without exception ratify it and start strictly observing its provisions, as Russia has been doing so far on a unilateral basis.
It is time for our partners to also make their contribution to arms reductions, not just in word but in deed. At the moment, they are only increasing arms, but it is time for them to start making cutbacks, if only in Europe.

I propose that we discuss this problem at the Russia-NATO Council. If no progress can be made through negotiations, then I propose that we examine the possibility of suspending our commitments under the Conventional Forces in Europe Treaty [...]. I was about to say that I call on the Federal Assembly to support this proposal, but I understand from your reaction that you do support it.

I also call your attention to the fact that elements of U.S. strategic weapons systems could be deployed in Europe for the first time. It is clear that the U.S. plans to deploy a missile defence system in Europe is not just an issue for bilateral Russian-American relations.
This issue, in one way or another, affects the interests of all European countries, including those in NATO. In this respect, this subject should be, and I would even say must be, discussed in the Organisation for Security and Cooperation in Europe as part of this organisation’s political and military dimension.

It is time for us to give the OSCE real substance and have it address the issues of genuine concern to the peoples of Europe rather than just hunting for fleas in the post-Soviet area.

[...]"

Das von Putin verkündete Moratorium bezieht sich auf den Angepaßten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa von 1999 (dt. Text), eine Weiterentwicklung des ursprünglichen KSE-Vertrages von 1990 (dt. Text), die den veränderten Realitäten der europäischen Sicherheit nach Ende des Kalten Krieges gerecht werden sollte. Beide Verträge regeln hauptsächlich die räumliche Dislozierung von Land- und Luftstreitkräften sowie Höchstgrenzen von Truppenstärke und bestimmten Waffensystemen.
Rußland hat den AKSE-Vertrag 2004 ratifiziert - wie im übrigen bisher nur die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan - und sich einseitig seinen Bestimmungen unterworfen. Die NATO-Staaten verweigern ihre Ratifikation mit der Begründung, daß zuvor die noch verbliebenen russischen Truppen aus Moldawien und Georgien abziehen müßten (wie 1999 von Präsident Jelzin in einer politischen Erklärung zugesichert). Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet US-Außenministerin Rice von Rußland "Vertragstreue" einfordert.

Da der AKSE-Vertrag gem. Art. 31 Abs. 1 der Ratifikation durch alle Unterzeichnerstaaten bedarf, um in Kraft zu treten und den alten KSE-Vertrag abzulösen, hat Putin mit seinen Einlassungen nur verdeutlicht, was sich schon aus der Analyse der Rechtsnormen ergibt: Rußland sieht sich nicht mehr an die Bestimmungen eines (noch) nicht geltenden völkerrechtlichen Vertrages gebunden, solange dieser nicht von allen anderen Staaten ebenfalls ratifiziert worden ist.
Es handelt sich mithin - zumindest nach heutigem Stand - weder um einen Rücktritt vom Vertrag noch um eine Aufkündigung des gesamten KSE-Vertragswerkes. Rußland kehrt damit lediglich auf die gleiche Rechtsgrundlage zurück, auf der auch die meisten NATO-Staaten noch operieren, nämlich den KSE-Vertrag von 1990. (In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß die drei baltischen Republiken bis heute nicht dem AKSE-Vertrag beigetreten sind und auch nicht dem KSE-Vertrag unterliegen.)

Das Problem mit dieser Rechtslage ist freilich, daß der KSE-Vertrag, der ja noch in den Blockkategorien des Kalten Krieges 'dachte', heute praktisch kaum noch - insbesondere in Bezug auf Rußland (der Warschauer Pakt existiert nicht mehr!) - Anwendung finden kann. (Insofern könnte sich die russische Seite für ihre Suspendierung der Vertragserfüllung auch auf die clausula rebus sic stantibus in Art. 62 WVRK berufen.) Deshalb wird man wohl zum jetzigen Zeitpunkt von einem De-facto-Moratorium des gesamten KSE-Vertragswerkes durch Rußland ausgehen müssen (worauf auch diese Äußerungen von Außenminister Lawrow hindeuten, obgleich sich Putin auf die Ankündigung eines Moratoriums beschränkt hat), das für Verhandlungen über die Zukunft des AKSE-Vertrages mit den NATO-Staaten genutzt werden soll. Eine eventuelle Kündigung des KSE-Vertrages wäre gem. Art. XIX Abs. 2 ohne größere Schwierigkeiten möglich.

Da die russischen Verlautbarungen bisher noch dürftig sind, ist derzeit eine abschließende rechtliche Bewertung nicht möglich (das gleiche Problem hat auch der Opinio Juris-Blog). Weitere Beiträge zu diesem Thema werden hier in den nächsten Tagen folgen.

Donnerstag, 26. April 2007

Wer prägt das Rußlandbild der Deutschen?

Diese Frage hat der Krusenstern-Blog für die Schweiz bereits beantwortet. Wie sieht es nun mit den Vertretern bundesdeutscher Medien in Rußland aus: wer sind sie, wie groß ist ihre Fach- und Sprachkompetenz, wie gehaltvoll ist ihre Arbeit? Berichten sie wirklich aus dem Lande oder kultivieren sie nur deutsche Stereotypen vom ewig kalten Rußland? Diese Fragen möge sich jeder Leser oder Zuschauer anhand ihrer Produkte selbst beantworten.


Das sind die 28 deutschen Rußlandkorrespondenten (in alphabetischer Reihenfolge):

Andreas Albes (Stern) - Link;

Erik Albrecht (Deutsche Presse-Agentur);

André Ballin (RUFO/Rußland Aktuell, Der Spiegel) - Link;

Joachim Bartz (Zweites Deutsches Fernsehen) - Link;

Susanne Brammerloh (RUFO/Rußland Aktuell) - Link;

Daniel Brössler (Süddeutsche Zeitung) - Link;

Lothar Deeg (RUFO/Rußland Aktuell, Zürichsee-Zeitung) - Link;

Klaus-Helge Donath (die tageszeitung, Rheinischer Merkur) - Link;

Florian Hassel (Frankfurter Rundschau, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, diverse andere Zeitungen);

Ulrich Heyden (Financial Times Deutschland, Sächsische Zeitung, diverse weitere Medien) - Link;

Britta Hilpert (Zweites Deutsches Fernsehen) - Link;

Kerstin Holm (Frankfurter Allgemeine Zeitung) - Link;

Christian Jahn (RUFO/Rußland Aktuell, Der Spiegel) - Link;

Uwe Klussmann (Der Spiegel);

Michael Ludwig (Frankfurter Allgemeine Zeitung) - Link;

Jörg R. Mettke (Der Spiegel);

Alexander Mironow (RUFO/Rußland Aktuell) - Link;

Gisbert Mrozek (RUFO/Rußland Aktuell) - Link;

Karsten Packeiser (RUFO/Rußland Aktuell, Evangelischer Pressedienst) - Link;

Manfred Quiring (Die Welt, Berliner Morgenpost) - Link 1, Link 2;

Albrecht Reinhardt (Westdeutscher Rundfunk/ARD) - Link;

Boris Reitschuster (Focus) - Link;

Thomas Roth (Westdeutscher Rundfunk/ARD) - Link 1, Link 2;

Ina Ruck (Westdeutscher Rundfunk/ARD) - Link;

Roland Strumpf (Zweites Deutsches Fernsehen) - Link;

Stephan Stuchlik (Westdeutscher Rundfunk/ARD) - Link;

Johannes Voswinkel (Die Zeit);

Stefan Voß (Deutsche Presse-Agentur).


Zuletzt aktualisiert am 07.05.2007.

PS: Diese Aufstellung ist möglicherweise unvollständig oder nicht mehr aktuell. Daher wird um evtl. Korrekturen oder Ergänzungen seitens der Leserschaft gebeten.

Mittwoch, 25. April 2007

Alexander Suworow

In den vergangenen Monaten ist, zu meinem Bedauern, auf diesem Blog ein Thema kaum gestreift worden - Militärgeschichte. Das wird sich in Zukunft hoffentlich ändern.


Beim Surfen im Netz habe ich dieser Tage den Pro Suworow-Blog aus der Schweiz entdeckt, der sich um die touristische Vermarktung von und das Andenken an Alexander Suworow (1729-1800) bemüht. Dieser berühmte russische Feldherr hat 1799 mit seiner Alpenüberquerung auch Spuren in der Eidgenossenschaft hinterlassen. Er hatte sich bereits in den Türkenkriegen ausgezeichnet und der Zweite Koalitionskrieg war der Höhe- und Schlußpunkt seiner Karriere, denn kurz danach verstarb er.




Clausewitz hat Suworow in seiner Schrift über den Feldzug von 1799 wie folgt beschrieben:

"[…] Berühren müssen wir nur, worin alle Stimmen einig sind, daß er ein Mensch von einem feurigen Willen, großer Kraft des Charakters und vielem natürlichen Verstande war, der in den Kriegen gegen die Türken eine tüchtige Schule durchgemacht hatte. Konnte diese Schule den Bedürfnissen einer Kriegführung gegen französische Armeen nicht ganz genügen und mußte seine rohe Wunderlichkeit einer einfachen verständigen Leitung so zusammengesetzter Tätigkeit, wie ein Krieg zwischen den gebildeten Völkern es ist, oft Schwierigkeiten in den Weg stellen, so weiß doch jedermann, daß jene Wunderlichkeit meistens eine angenommene Rolle war, die sein treffender Verstand nur auf der Außenseite der Dinge walten und nicht bis in die Hauptentscheidungen des Handelns dringen ließ. Wenn man dabei annimmt, daß in Beziehung auf die zusammengesetzteren Verhältnisse und Formen des Krieges zwischen gebildeten Völkern der österreichische Generalstab, an dessen Spitze ein sehr gebildeter und ausgezeichneter Mann (der Graf Chasteler) stand, manches erzeugt haben wird, so tritt man dadurch dem individuellen Verdienste Suwarows [sic!] in keiner Weise zu nahe. Der vollkommenste Generalstab mit den richtigsten Ansichten und Grundsätzen bedingt noch nicht die ausgezeichnete Führung einer Armee, wenn die Seele eines großen Feldherrn fehlt; die einer großen Feldherrnnatur angeborne Richtung des Blicks und des Willens aber ist auch da ein vortreffliches Korrektiv gegen die in ihre eigenen Pläne sich verwickelnde Generalstabsgelehrsamkeit, wo sie derselben im übrigen als Instrument nicht entbehren kann. Haben auch die Österreicher unter Kray bei Magnano einen Sieg erfochten, der ihren Waffen zur Ehre gereicht, so würden sie doch ohne Suwarow die Schlachten von Cassano, an der Trebbia und bei Rovi nicht gewonnen haben. Der eigentümliche Charakter seiner Energie und seines treffenden Blicks ist darin nicht zu verkennen."


Suworow genießt in Rußland nach wie vor höchste Wertschätzung, so tragen z.B. Kadettenschulen seinen Namen und in der Sowjetunion hat man während des Zweiten Weltkrieges ein Orden nach ihm benannt.
Bereits 1904 wurde in St. Petersburg ein Museum eröffnet, das der Erinnerung an seine Person gewidmet ist. Es ist vergleichsweise klein, doch ist die Ausstellung sehr interessant und auch gut gemacht, so daß ein Besuch jedem militärhistorisch interessierten Petersburgbesucher unbedingt zu empfehlen ist. (Letzteres gilt übrigens auch für das Artilleriemuseum und das Marinemuseum.) Weitere Informationen zum Suworow-Museum sind hier erhältlich; außerdem findet man hier den Reisebericht eines Schweizer Offiziers.



Zu den Bildern: 1. - Alexander Suworow; 2. - Suworow überquert die Alpen; 3. + 4. - Blick auf das Suworow-Museum; 5. - Im Innern des Museums.

Grenzen des Völkerrechts

Am vergangenen Sonntag hat Eric Posner in einem Essay im Wall Street Journal die Grenzen des Völkerrechts, insbesondere in Bezug auf den Grundrechtsschutz, beschrieben:

"What the Cold War Taught Us

Liberal democracies, not activists and international law, protect human rights.

[...]

The international human rights regime has fallen on hard times. Kenneth Roth, executive director of Human Rights Watch, wrote recently that "since the U.S. can't provide credible leadership on human rights, European countries must pick up the slack." But the Europeans, Mr. Roth notes, are no more enthusiastic about pressuring foreign countries than is the U.S.

The United Nation's Human Rights Council is in no position to pick up the slack, either.
The Human Rights Council has performed even more dismally than its much maligned predecessor, the U.N. Commission on Human Rights. The latter was disbanded because it had become a platform dominated by human rights abusers who used it mostly for criticizing Israel. The Human Rights Council, by contrast, is a platform dominated by human rights abusers who use it exclusively for criticizing Israel.

Late last month the commission finally issued a weak resolution on the genocide in Darfur, one, in the words of U.N. Watch, that "failed to condemn or even to cite the Sudanese government." At the same time, it urged governments "to prohibit the dissemination of racist and xenophobic ideas and material aimed at any religion" - a reference to the Danish cartoon controversy and a sentiment deeply in conflict with Western ideals of freedom of expression.

So if Americans, Europeans, and the U.N. will not lead on human rights, who will? Nobody, and maybe that is not such a bad thing.

[...]"


Posners Erwägungen sind zwar weder neu noch übermäßig originell, aber durchaus lesenswert und finden auch großteils meine Zustimmung. Anstatt nun aber die (eigentlich naheliegende) Schlußfolgerung zu ziehen, daß die Idee einer weltweiten, evtl. auch zwangsweisen Durchsetzung von Menschenrechten aus vielfältigen Gründen undurchführbar ist, plädiert er im letzten Absatz für eine Art 'demokratischen Imperialismus':
"[...]

The role of legalized international human rights in this process has been minimal or nil. Much more important in the 20th century were the determined efforts of liberal democracies to oppose powerful, dangerous, expansionist states that rejected markets and democracy, and imposed their views on small countries. These efforts required pragmatic accommodation of unsavory allies, and even compromising of Western values, for the sake of the greater goal of keeping dangerous forces in check. For the conflict with radical Islam, this history holds important lessons."

Diese Vorstellung ist sicher nicht wünschenswert, denn auch ein mächtiger, gefährlicher und expansionistischer Staat, der demokratisch verfaßt ist, kann anderen Völkern seinen Willen gegen deren eigenen aufzwingen. Zur Demokratie als Verfassungsform gehört aber nicht nur das demokratische Prozedere innerhalb des Staates und seiner Organe, sondern auch - als Grundentscheidung - die Frage, ob eine Demokratie vom betroffenen Volk überhaupt gewünscht wird. Hier schließt sich ferner die alte Hobbes-Frage 'quis iudicabit?' an: Wer entscheidet allgemein verbindlich darüber, welcher konkrete Staat noch eine akzeptable Demokratie ist und welcher zum Objekt eines "Kreuzzuges" gemacht wird? Ein Beispiel: Darf - siehe Großbritannien - eine Parlamentskammer auch aus ernannten (bzw. erblichen) Mitgliedern bestehen oder müssen alle gewählt worden sein?

(Grundsätzlich trifft das gleiche auch auf die Marktwirtschaft zu. Wenn sich ein Volk durch eine Planwirtschaft unbedingt selbst schädigen will, so ist es seine eigene Entscheidung.)

Neben der Frage nach der Entscheidungskompetenz erhebt sich ein weiteres praktisches Problem: die Weltherrschaft eines Staates - der USA - und einiger ihrer Verbündeter ist heute de facto genauso undurchführbar wie ein Weltstaat, eine Weltgesellschaft oder wie die austauschbaren Begrifflichkeiten der 'Peace through law'-Gläubigen auch heißen mögen. (Daß dies so ist, kann man täglich im Irak und in Afghanistan beobachten.)

Die Welt ist heute in einer Lage, die die Durchsetzung von Universalismen (gleich welcher Art) unmöglich macht. Dabei ist es gleichgültig, ob man diese Lage eher anhand von politischen (z.B. Multipolarität) oder kulturellen Begriffen (z.B. Kulturkreise) beschreibt. Und es ist für den vorgenannten Befund auch nachrangig, ob sich dieses System stabilisieren wird oder ob ein 'Neues Mittelalter' droht. Posners teleologisches Konzept, daß sich 'westliche Werte' fast von alleine durchsetzen, oder daß ggf. auch nachgeholfen werden muß, ist unrealistisch. Eine 'Weltgemeinschaft' existiert jedenfalls nur als rhetorische Figur.

(Zur weiteren Diskussion von Posners Text siehe auch hier und hier.)

Dienstag, 24. April 2007

Begriffsfetisch

Neben der "Zivilgesellschaft" gehört die "Nichtregierungsorganisation" zu den ursprünglich aus den Sozialwissenschaften kommenden Begriffen, die im Laufe der letzten Jahre Gemeingut geworden sind und sich, im normativen Sinne gebraucht, schon fast zum Fetisch für manche Politiker, Journalisten und Wissenschaftler entwickelt haben.
NGOs sind für Deutsche, die gewohnheitsmäßig der Vereinsmeierei frönen, nichts neues. Nur wohnt diesem Begriff etwas bürgerschaftliches, basisdemokratisches inne - etwas, was sogenannte GONGOs (Government-operated Non-governmental organizations) nur dem äußeren Anschein nach haben. Diese von einer Regierung gegründeten, betriebenen und/oder finanzierten Organisationen suggerieren die Existenz einer bestimmten öffentlichen Meinung, wo eine solche entweder gar nicht oder nicht im politisch gewünschten Maß vorhanden ist.

Zu den GONGOs, deren Namen man kennen sollte, gehören das National Endowment for Democracy und Freedom House, beide in den USA beheimatet. Ihre Hauptaufgabe ist der 'Demokratieexport' in solche Staaten, die ihnen bzw. ihren amtlichen Auftraggebern als nicht hinreichend demokratisch verfaßt erscheinen. Ein Beispiel dafür sind die diversen 'Farbrevolutionen' der letzten Jahre: Jugoslawien, Georgien, Ukraine, Kirgistan, in denen in fast schon leninistischer Manier die 'demokratische Weltrevolution' - die sich freilich de facto häufig in einer pro-amerikanischen Außenpolitik erschöpft (siehe Georgien) - verbreitet werden soll.

Damit hat sich auch die Reportage "Revolution.com" des französischen Journalisten Manon Loizeau auseinandergesetzt. Darin wird die Arbeit der Organisationen vorgestellt und einige ihrer führenden Personen werden porträtiert. Der Film ist auch auf Google Videos zu sehen, bedauerlicherweise nur in der russischsprachigen Fassung:
http://video.google.com/videoplay?docid=3846833218126330420

"The shifting burden of war"

Geoffrey Wheatcroft hat unter diesem Titel eine kurze, aber interessante Analyse der derzeitigen amerikanischen und britischen Regierung und ihrer persönlichen Militärerfahrungen vorgelegt:
"[...]

Not so today. Even during the Vietnam War there were several dozen sons of senators and congressmen in the armed forces. Now Senator Jim Webb of Virginia is unique on Capitol Hill in having a son serving in Iraq. That is a most ominous change.

Nothing was more striking in the first half of the past century than the way in which the richer, educated classes bore their share of the burden of war, or more than their share. Nothing is more striking in the past generation than the way this has ceased to be true.
In two world wars the rich fought and died for their country in disproportionate numbers: The casualty rate for junior officers in the British Army from 1914 to 1918 was three times as heavy as for privates. Among prime ministers, H. H. Asquith lost a son, and Andrew Bonar Law lost two. The American toll in that war was less grim, although in all the U.S. elections from 1868 to 1900, eight of nine Republican presidential candidates had served as officers in the Civil War.

A contrast indeed to the Republican Party today. The present administration is notoriously composed of men like Vice President Dick Cheney, who had "other priorities" when he might have been drafted, or President George W. Bush, who served in the National Guard when it was an acknowledged way of avoiding combat. An examination of the neoconservative elite who dreamed up the Iraq war will yield few with any military experience.

And a contrast also to Tony Blair's Labour party. One of the more striking footnotes to British political history in the last century is that every prime minister between 1940 and 1963 had served as an infantry officer in the Great War. That included Churchill, when he left the cabinet to command a battalion in 1916.
There are now more than 100 ministers in the Blair government, but not one has performed any military service or has a child in the armed forces.

"We are fast approaching the day when no one in Congress . . . will have served or have any children serving," Kathy Roth-Douquet and Frank Schaeffer write in their recent book "AWOL: The Unexcused Absence of America's Upper Classes from Military Service - and How It Hurts Our Country." That day has almost arrived at Westminster.

This trend dates back to the 1960s, when the British government ended the draft and when the United States had a draft of sorts, but one which operated in notoriously unfair fashion. "People who figured out how to work the system were exempted," the defense secretary admitted in 1975."
It is inconceivable that a system designed and operating the way the draft did could have produced a true cross-section of America in the military." That was Donald Rumsfeld during his first stint at the Pentagon. He could scarcely claim that the forces he sent to Iraq during his second stint were much more of a true cross-section.

At New College, my own old Oxford college, the 1914-18 memorial in the chapel bears the names of 228 men, and another 135 were killed in 1939-45. Compare that with another figure: 12 Harvard men died in Vietnam. It is hard to exaggerate how grave are the social and political implications of this.

[...]"

Könnte es sein, daß zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine besonders aggressive Außenpolitik vor allem von solchen Politikern vertreten wird, die selbst kaum wissen, was Militärdienst und Kriegführung auch für den Einzelnen bedeuten und von ihren unausweichlichen negativen Folgen selbst nicht betroffen sind? Ist es möglich, daß 'Militaristen' wie Jitzchak Rabin, Dwight D. Eisenhower oder Alexander Lebed - entgegen populären Vorurteilen - eher zu einer zurückhaltenden und sorgfältig durchdachten und damit weniger 'falkenhaften' Politik neigen?

Boris Jelzin R.I.P.

Gestern ist Boris Nikolajewitsch Jelzin im Alter von 76 Jahren einem Herzleiden erlegen. Er war von 1991 bis 1999 Präsident der Russischen Föderation (bis Ende 1991: RFSSR). Seine Präsidentschaft war von einigen Höhepunkten und tiefen Verwerfungen gekennzeichnet und in Rußland wird noch lange über ihre Bewertung gestritten werden.

Juri Fillipow beschreibt ihn als "Patriarchen und Erstling der neuen russischen Politik". Einer der wenigen ausgewogenen Nachrufe in Deutschland stammt von Manfred Quiring: Tod eines sibirischen Heißsporns. In der Blogosphäre trifft das auf Sean Guillory zu.

Montag, 23. April 2007

Washingtoner Logik?

Eben beim Zappen im Fernsehen gefunden: Ist es Zufall, Böswilligkeit, Dummheit oder nur Sensationslust (oder eine Mischung aus alledem)? In der aktuell auf Vox laufenden Folge von "The District - Einsatz in Washington" taucht ein gewisser "Dimitri Putin" auf, seines Zeichens Pate der Russenmafia und ehemaliger KGB-Oberst - und daher natürlich eine Gefahr für die nationale Sicherheit der USA.

So soll sich scheinbar der durchschnittliche, nicht besonders an auswärtiger Politik interessierte Amerikaner aus der Provinz den russischen Präsidenten vorstellen. Goebbels wäre stolz auf diese unterschwellig wirkende Propaganda gewesen.

"Kennan's Advice Still Good"

Mark Teeter erinnert heute in der Moscow Times an den amerikanischen Diplomaten und Gelehrten George F. Kennan und legt einige Lehren aus seinem Werk für die heutige Politik, insbesondere für die russisch-amerikanischen Beziehungen, dar:

"It is both appropriate and timely to recall the late George Kennan these days. The Russian-U.S. relationship continues to grind its gears between neutral and reverse as successive denials of a new Cold War ring progressively less true in the absence of concerted efforts by the principals to prevent one. Kennan, of course, was the author of the United States' successful containment strategy against the Soviet Union in Cold War I. This uniquely firm yet malleable doctrine produced neither victor nor vanquished, but it helped the world skirt self-annihilation while inducing the ignoble Soviet experiment to prove itself as unworkable as it was unjust.

Kennan called politicians' claims of winning the Cold War "silly and childish," yet myriad examples of the U.S. victory mentality now extend to a Cold War service medal proposed to commemorate the "triumph." But the real reasons for recalling Kennan's legacy lie beyond regret at the myopic triumphalism it has not deterred. Over a half-century ago, Kennan offered prescient counsel for the Russians and Americans of a distant post-Soviet future -- that is, the future we are bungling now -- and several decades later inspired a model Russian-American institution that continues to serve both countries well today.

In his 1951 article "America and the Russian Future," Kennan painted a portrait of the two antagonists at peace. The world might expect "a Russian government which ... would be tolerant, communicative and forthright in its relations with other states and peoples," displaying a mentality that could "dispense with paranoic suspiciousness." With de-ideologized practicality and even good humor, Kennan hoped, "the statesmen of a future Russia could [defend] their national interests as statesmen must, [without] assuming that these can be furthered only at the expense of others." In domestic affairs, Kennan felt that while Russia's business was decidedly its own, the West could surely anticipate "that the exercise of governmental authority will stop short of that fairly plain line beyond which lies totalitarianism."

That today's Russia does not hew close to much of this vision is both obvious and regrettable; yet Russians quick to infer criticism in it should recall that Kennan's projections were those of a friend -- perhaps their best friend in that time and place -- who was both patient and a firm believer in an unquestionable "national greatness" that the Russian people possessed "in high degree."

Americans, for their part, should recall that Kennan was not an interventionist democracy-builder and did not assume that the American dream was also Russia's. He felt private enterprise in the post-Soviet state might or might not develop smoothly, but would "never be a system identical to our own." Similarly, in the arrangement of Russian political life, the West should not expect "the emergence of a liberal-democratic Russia along American patterns." Russian politicians struggling to supplant the institutions and mindset of the Soviet era would not be aided, Kennan maintained, "by doctrinaire and impatient well-wishers in the West who look to them ... to produce in short order a replica of the Western democratic dream."

Kennan implored his fellow Americans to repress their "inveterate tendency to judge others by the extent to which they contrive to be like ourselves," and advised calm forbearance: "Let us not hover nervously over the people who come after [the Soviets], applying litmus papers daily to their political complexions to find out whether they answer to our concept of 'democratic.'"

Fine words, one might object, but the cutthroat maneuvering of 21st-century realpolitik is bound to keep Russians and Americans apart, if not at daggers drawn. Yet another part of Kennan's patrimony, one that inhabits and analyzes this realpolitik, might suggest otherwise.

[...]

These scholars, statesmen and practitioners do not agree on everything and would not be there if they did. Indeed, their diversity, openness and commitment to productive debate and scholarship -- the kind that seeks to inform viewpoints rather than confirm them -- may well be Kennan's most valuable legacy to us all."

Miszellen VII

Nicht nur der Iran, sondern auch Saudi-Arabien stellt für die US-Politik im Irak ein ernstes Problem dar. Unterdessen sollen auch die Taliban Unterstützung vom großen Nachbarn erhalten.

Richard Weitz berichtet in World Politics Watch über die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone in Zentralasien.

Es entbehrt nicht einer gewissen, wenngleich unfreiwilligen Ironie, daß ausgerechnet ein sowjetischer Dissident wie Natan Scharanski zum Chefideologen von George W. Bush geworden ist und so eine politische Religion lediglich durch eine andere ersetzt wurde.

Yassin Musharbash beschäftigt sich im Spiegel mit "Bin Ladens Eurofightern".

Foreign Policy erinnert an verschiedene schlechte Nachrichten, die dann doch nicht eingetroffen sind: The Dogs That Didn’t Bark.

BMI Schäuble hat sich als Schwätzer geoutet, denn er gibt Interviews am laufenden Band, anstatt zu arbeiten - diesmal in der FAZ. In der Zeit, in der er über abstrakte Ideen redet, vorschlägt, agitiert und diskutiert, hätte sein Vorgänger Schily längst ein paar Gesetzentwürfe auf den Tisch gepackt und so 'Butter bei die Fische' getan.

PS: Der Zugang zum Archiv der Webseite Russia Profile ist seit dem 15. April leider kostenpflichtig geworden. Die Texte sind jetzt nur noch in den ersten vier Wochen nach ihrem Erscheinen frei zugänglich.

Sonntag, 22. April 2007

Die Silowiki - Dichtung und Wahrheit

In den letzten Jahren hat sich ein Topos im journalistischen wie im wissenschaftlichen Schrifttum über die russische Innenpolitik verfestigt und fast schon axiomatische Qualität erlangt: Die sog. Silowiki, also Vertreter der Machtstrukturen (Militär, Polizei und Nachrichtendienste) hätten im Laufe der Präsidentschaft Wladimir Putins de facto die Herrschaft im Land übernommen. Die Folge sei eine zunehmende "Militarisierung der Gesellschaft".
Besonders fleißig beim Schreiben solcher Geschichten ist Michael Ludwig von der FAZ (aber er ist bei weitem nicht der einzige):

"[…]

Der FSB, so heißt es in manchen Berichten, habe heute fast wieder so viele Mitarbeiter wie einst der KGB. Kritiker sehen aber anderes als wichtiger an: Der gefürchtete KGB habe im neuen Rußland zwar aufgehört zu bestehen, aber viele KGB-Leute hätten den Systemwechsel von 1991 unbeschadet überstanden und seien samt ihrem "Ballast im Kopf" in den neuen Dienst übernommen worden. Noch immer bezeichnen sich seine Mitarbeiter als "Tschekisten", wie die Agenten der in der Sowjetunion durch viele Legenden verklärten Tscheka hießen, Lenins Geheimpolizei. Sie war im Grunde eine bewaffnete Formation der Kommunistischen Partei, die für den - mit Stolz so bezeichneten - "roten Terror" der ersten Jahre der Sowjetherrschaft verantwortlich war. Erst nach Stalins Tod hörten die Massenmorde auf, die von den immer wieder umbenannten Nachfolgeorganisationen der Tscheka begangen wurden, die von dem polnischen Kleinadligen Feliks Dzierzynski zur Revolutionszeit gegründet worden war. Präsident Putin, als ehemaliger KGB-Spion in der DDR und als Direktor des FSB unter Jelzin, selbst ein stolzer "Tschekist", hat immer wieder sinngemäß gesagt, daß die Sicherheit des Vaterlands und der Schutz der Bürger immer die beiden wichtigsten Ziele des Dienstes gewesen seien.

Die Leiterin des Instituts für angewandte Politik, Olga Kryschtanowskaja, hat vor einigen Jahren geschätzt, daß unter Putin etwa 60 Prozent der obersten Führungsposten im Staat mit Angehörigen der Geheimdienste, der Polizei oder des Militärs besetzt worden seien. Nach anderen Schätzungen haben etwa 70 Prozent der engen Mitarbeiter Putins einen geheimdienstlichen Hintergrund. Kritiker Putins behaupten, dieser betreibe die "KGBisierung" des Landes. Putin widerspricht dem nicht und gibt zu verstehen, daß Geheimdienstler über ein hohes Maß an Professionalität verfügten und nun für die Demokratie arbeiteten.

Nur wer in Putin hineinzuschauen vermöchte, könnte beurteilen, ob der Mann aus Sankt Petersburg dies tatsächlich glaubte. Die politische Praxis unter Putin zeigt indessen, daß unter seiner Führung eine forsche Zentralisierung der Macht stattgefunden hat, während der Männer aus dem FSB in den Provinzen an Schlüsselpositionen gesetzt wurden. Möglicherweise glaubte Putin, das Land nur so in den Griff zu bekommen und Stabilität garantieren zu können. Sollte, wie bisweilen vermutet wird, der frühere Geheimdienstagent und derzeitige Verteidigungsminister Sergej Iwanow tatsächlich zu Putins Favoriten für die 2008 anstehende Nachfolge im Präsidentenamt gehören, dann würde das dafür sprechen, daß Putin alles tut, damit sein Kurs fortgesetzt wird und die Macht des FSB auch künftig gewahrt bleibt. Aber es muß sich erst noch herausstellen, ob das Korsett, das Moskau dem Land verordnet hat, auch über den Tag hinaus wirklich hält.

In der russischen Präsidialverwaltung bilden Politiker mit Geheimdienstvergangenheit heute die wohl wichtigste Gruppierung. Igor Setschin, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung, der dort für Personalpolitik zuständige Viktor Iwanow oder Verteidigungsminister Sergej Iwanow sind sicher die stärksten Figuren dieser Fraktion, die auch in wichtigen Unternehmen Machtpositionen haben. Setschin ist Aufsichtsratsvorsitzender des staatlichen Ölkonzerns Rosneft, der der größte Profiteur der Zerschlagung des privaten Ölkonzerns Yukos ist. Setschin wird nachgesagt, daß er zusammen mit anderen den Plan zur Zerschlagung von Yukos ausgetüftelt habe. Der FSB soll vor drei Jahren seine Untergliederungen in der Provinz angewiesen haben, Belastungsmaterial gegen Yukos zu sammeln. Viktor Iwanow wurde vor zwei Jahren zum Aufsichtsratschef der Fluggesellschaft Aeroflot gemacht. Ein weiterer früherer Geheimdienstler mit sowjetischer Erfahrung und Weggefährte Putins, Walerij Golubjow, wurde erst vor kurzem stellvertretender Vorstandschef des staatlichen Erdgasmonopolisten Gasprom. Damit verstärkt der Kreml seine Kontrollen über Gasprom vor den anstehenden Parlaments- und Präsidentenwahlen in den Jahren 2007 und 2008. Gasprom steht bisher unter Kontrolle der anderen Fraktion im Kreml und wird von den zivilen Petersburgern Aleksej Miller und Dmitrij Medwedjew geführt - letzterer gilt ebenfalls als potentieller Nachfolger Putins. Da verwundert es nicht weiter, daß der eine Sohn von Putins Nachfolger im Amt des FSB-Chefs, Nikolaj Patruschew, als Berater des Aufsichtsrates von Rosneft wirken und der andere Sohn in der Außenhandelsbank für Kredite an Ölfirmen zuständig sein soll.

Die Bevölkerung scheint Putins Auffassung von der "Professionalität" des FSB für den Dienst an Staat und Demokratie zumindest anfangs geteilt zu haben. Man hoffte offenbar auch auf eine gewisse Askese der "Tschekisten", was Korruption angeht. Es läßt sich nicht schwarz auf weiß belegen, und nur ganz selten wird andeutungsweise in Rußland darüber geschrieben - doch diese Hoffnung hat sich wohl nicht erfüllt. Auf Reisen in der russischen Provinz hört man jedenfalls in Gesprächen immer wieder, daß auch die FSB-Leute überall kräftig mitkassierten und private Wirtschaftsinitiativen ebenso gängelten wie andere Behördenvertreter.

Putin hatte dem FSB vor drei Jahren durch einen Erlaß einen erheblichen Machtzuwachs verschafft, indem er ihm die Grenztruppen wieder unterstellte, die Kontrolle über das Zählsystem bei Wahlen gab und ihm durch Wiedereingliederung eines bis dahin gesonderten Dienstes bessere Möglichkeiten zur Überwachung "der Kommunikation" schuf. Anfängliche Versuche in den neunziger Jahren, die Dienste aufzugliedern, damit nicht alle Macht und Kontrolle in einer Hand ist, wurden dadurch in das Gegenteil verkehrt.

[…]

Das erinnert an sowjetische Zeiten. Damals wurde der Geheimdienst vom engsten Zirkel der politischen Partei kontrolliert. Heute läßt die neue Machtstellung des FSB russische Beobachter die Frage stellen, ob Putin die Zügel noch selbst in der Hand halte oder ob er möglicherweise bereits eine Geisel des mächtigen Geheimdienstes oder unterschiedlicher Fraktionen darin sei. Im Zusammenhang mit dem Mord an Litwinenko begann diese Frage erneut die Gemüter zu bewegen. Aber vorläufig fehlen die Antworten."

Dieses Narrativ ist mittlerweile zum Selbstläufer geworden, so daß Ludwig in einem anderen Artikel nur noch kurz ausführen muß:

"[…]

Beobachter sind überzeugt, dass es nicht darauf ankomme, ob Iwanow, Medwedew oder ein anderer vom scheidenden Präsidenten an die Spitze der politischen Pyramide gestellt werde, weil Putin dafür gesorgt habe, dass der Geheimdienst auf jeden Fall an der Macht bleibe."

An anderen Stellen ist von einer Machtübernahme der Silowiki oder gar von einem "Putsch der Spione" die Rede. Und man versucht zu beweisen, daß sich unter dem 'finsteren Agenten' Putin in Rußland eine Art neuer, imperialistischer Sowjetunion entwickelt habe. Durch endlose Wiederholungen dieser Geschichte - allerdings in unterschiedlichen Variationen - kommt kaum noch jemand auf den Gedanken, ihren Wahrheitsgehalt und Erklärungswert zu hinterfragen und dabei Dichtung und Wahrheit voneinander zu trennen.

Die Rußlandanalysen 117 haben sich intensiver mit dem Thema beschäftigt und präsentieren uns ein erheblich differenzierteres Bild als üblich. So erinnert Bettina Renz in ihrem Aufsatz (S. 2 ff.) an russische Muster der Elitenrekrutierung, in denen die Machtministerien schon immer einen besonderen Platz eingenommen haben. Insofern ist die Besetzung staatlicher Ämter mit Silowiki nichts neues, insbesondere dann nicht, wenn es sich um Posten handelt, die selbst in diesen Bereich fallen (z.B. das Amt des Verteidigungsministers).

Eine Analyse der Biographien aller wichtigen Personen innerhalb der russischen Regierung und der Präsidialadministration ergibt kein einheitliches Bild und läßt keine Rückschlüsse auf eine geplante 'Einschleusung' von Silowiki zu. Auch suggeriert dieser Terminus eine geschlossene Personengruppe, die es so nicht gibt, weder soziologisch noch politisch. Es ist schlichtweg nicht nachvollziehbar, weshalb jemand, der vor Jahrzehnten nur seinen zweijährigen Wehrdienst abgeleistet hat genauso dazu zählen soll wie ein Ex-General. Dafür sind die lebensweltlichen Erfahrungen dieser Menschen zu unterschiedlich. Desweiteren wird der Einfluß anderer, ziviler Faktoren in ihrem Leben einfach ignoriert. Warum sollte z.B. bei Putin der Dienst im Nachrichtendienst erheblich mehr Einfluß auf seine Person gehabt haben als sein Jurastudium oder seine Tätigkeit in der St. Petersburger Stadtverwaltung während der 1990er Jahre (gerade aus dieser Zeit stammen einige seiner heutigen Mitarbeiter, z.B. Dimitri Medwedew und German Gref)? Folgte man dem Silowiki-Argument, würde man ferner eine Gemeinsamkeit von politischen Auffassungen und Interessen etwa zwischen Putin, Alexander Lebed und einem beliebigen Dumaabgeordneten der KPRF, der früher Berufssoldat war, annehmen, die sich in der Realität kaum nachweisen läßt.

Renz' Fazit lautet (S. 4):
"[…]

Das Konzept der Silowiki als Werkzeug eines nach einer generell autoritäreren Politik strebenden Präsidenten kann die politische Situation in Rußland höchstens grob umreißen und sollte nicht zu wörtlich genommen werden. Wie der amerikanische Politikwissenschaftler Peter Reddaway treffend bemerkte, haben die Silowiki weder einen „Anführer“, noch eine realistische Möglichkeit zur Koordination ihrer Pläne und Ziele. Die Beschränkung demokratischer Freiheiten, die in Russland in den letzten Jahren und in bestimmten Bereichen, zum Beispiel den Medien, stattgefunden hat, steht außer Frage. Die Erklärung dieser politischen Entwicklungen sollte jedoch auf der Analyse spezifischer politischer Entscheidungen basieren und nicht auf den beruflichen Werdegang von Entscheidungsträgern reduziert werden. Theorien, die versuchen, russische Politik universell zu erklären, ignorieren die Feinheiten des politischen Prozesses und sollten besser durch Ansätze ersetzt werden, die dazu geeignet sind, Entwicklungen in ihrer vollen Komplexität zu erfassen. In den Worten der ehemaligen Moskaukorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz: „Wer versucht, Putin und seine Politik heute eindimensional zu bewerten, riskiert, ganz danebenzuliegen.“"

Mithin sind die abstrakten Zahlen von Olga Kryschtanowskaja (ebd., S. 7 ff.) keine hinreichende Basis für die von ihr selbst und anderen gezogenen reißerischen Schlußfolgerungen. Diese simplifizierende soziologische Analyse ignoriert weitere relevante Faktoren und gerät somit zu einer eindimensionalen Verzeichnung der russischen Wirklichkeit. Was bleibt nun vom Mythos Silowiki übrig? Nicht viel, außer der simplen Tatsache, daß viele der heute in der russischen Politik und Verwaltung tätigen Männer irgendwann in ihrem Leben einmal Uniform getragen haben.

Nun darf darüber spekuliert werden, warum sich gerade das Thema der Silowiki sich in den russischen wie auch den ausländischen Medien einer anhaltenden Beliebtheit erfreut. Bezüglich letzterer könnte der Grund darin liegen, daß damit die alten Geschichten und Schlagworte aus dem Kalten Krieg vom "Reich des Bösen" und dem KGB als dessen ultimativer Verkörperung wieder auferstehen können, was gerade jetzt, da man nicht mehr mit der Schwäche des Landes rechnen kann, von nicht geringem Vorteil sein könnte. In Rußland selbst bietet eine unterstellte Vorherrschaft der Silowiki gerade für die politisch einflußlose Opposition die Möglichkeit, die Ursachen für ihre Erfolglosigkeit zu externalisieren und somit nicht nach eventuellen eigenen Fehlern fragen zu müssen.

Was dabei komplett verloren gegangen ist, ist ein internationaler Vergleich des Einflusses von 'Silowiki' in ihren jeweiligen Staaten, wohlgemerkt: in "westlichen" Staaten. Hierbei wird man wohl zuerst an Israel denken, denn eine nicht geringe Anzahl israelischer Politiker aus allen politischen Lagern des Landes hat eine Militärkarriere hinter sich, z.B. Mosche Dayan, Chaim Herzog, Ezer Weizmann, Jitzchak Rabin, Ariel Scharon, Ehud Barak und Amir Peretz.
Betrachtet man in den USA allein die Präsidenten, so findet man auch dort eine erkleckliche Anzahl von Politikern mit einer Militär- oder Nachrichtendienstvergangenheit: George Washington, Andrew Jackson, Ulysses S. Grant, Theodore Roosevelt, Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower, John F. Kennedy, Gerald Ford, George H. W. Bush und dessen Sohn George W. Bush.
Selbst in der besonders zivilen Bundesrepublik Deutschland sind 'sie' zu finden, etwa Helmut Schmidt, Manfred Wörner, Klaus Kinkel, Jörg Schönbohm oder August Hanning.
Angesichts dieser bunten Mischung ist die Absurdität der Behauptung offensichtlich, alle diese Männer hätten gleiche oder zumindest ähnlich gelagerte politische Meinungen und Interessen, nur weil sie einen Teil ihres Berufslebens in Sicherheitsorganen verbracht waren.

Ob sich damit auch die Story von den russischen Silowiki erledigt hat, die uns immer so einen schönen Schauer über den Rücken jagt?

Samstag, 21. April 2007

Das andere Rußland

Jüngst hat der Krusenstern-Blog dieses disparate politische Bündnis, das derzeit in fast aller Munde ist, beschrieben und auch in diesem Blog wurde bereits eine Einschätzung desselben aus deutscher Feder zitiert.

Am Donnerstag wurde nun unter dem Betreff "'Another Russia' vs. Russia" eine E-Mail von Sergej Roy über Johnson's Russia List verbreitet, die einen kurzen Einblick in die innerrussische Einschätzung dieser Oppositionsgruppe vermittelt und auch ihre handelnden Figuren - Michael Kasjanow, Irina Chakamada und Garri Kasparow - kurz vorstellt. Insgesamt eine sehr erhellende und allseits empfohlene Lektüre:
"In the wake of the weekend's rallies of the "dissenters" (nesoglasnye, more literally translated as "disagreeables") and the roughing up they received at the hands of the police, quite a few media in the West have done their best to portray them as intrepid fighters against Putin's authoritarian regime, for democracy and freedom.

Contrariwise, in Russia, the ordinary people's view of these "disagreeables" was succinctly expressed by a neighbor of mine: 'Urody!' (loosely translated as "freaks"; I am omitting the accompanying epithets). Speaking as one of the masses, that view is typical of Russians' gut feeling about these clowns.

This sharp divergence of opinion, putting it politely, is due to a very simple fact: we, the people of Russia, know these freaky "disagreeables"; we have known them for more years than we care to remember; we have seen them in action, and we do not like what we have seen and suffered from. They've done Russia nothing good and a lot of harm, and we are certain that that is exactly why they enjoy such keen support of Russia-haters in the West. Our dislike for the West ­ the USA above all ­ is growing proportionately.

[...]"

Aus einer englischen Perspektive heraus hat sich James Heartfield in einem interessanten Artikel dem gleichen Thema gewidmet, dessen Aussagen man im "Westen" - genau wie die obigen Roys - wohl nur ungern zur Kenntnis nehmen wird:
"A new Russian revolution? Get real

Another Russia, the anti-Putin campaign group, commands the front pages of the Western press. But it hasn’t impressed the Russian people.

The protest movement Another Russia clashed with riot police this weekend, and its leader Garry Kasparov was briefly imprisoned. But do these self-styled dissidents really offer any alternative to President Vladimir Putin?

[...]"

Im dritten Teil unserer Analyse der russischen Innenpolitik kommen wir jetzt zum Parteiensystem. Eine aktuelle Analyse desselben findet sich im am Dienstag erschienenen Russian Analytical Digest 19. Darin werden u.a. die relevanten politischen Parteien kurz vorgestellt und auch demoskopische Daten präsentiert. Die Parteien mit den höchsten Zustimmungsraten sind sonach (vgl. S. 5): Einheitliches Rußland, dann - mit deutlichen Abstand - die Kommunistische Partei, Schirinowskis LDPR und, aufholend, Gerechtes Rußland. Die liberalen Parteien liegen einzeln deutlich unter 10 %.

Diese Zahlen, in Verbindung mit dem oben von Roy und Heartfield vermittelten Hintergrund, erklären m.E. auch, warum Beresowski kürzlich zur Revolution geblasen hat: Es ist kurz- und mittelfristig äußerst unwahrscheinlich, daß das Andere Rußland selbst bei vollständig freien Wahlen zu einer bestimmenden Größe in der russischen Politik werden kann. Angesichts dieser trüben Aussichten bleibt nur noch der Griff zu 'revolutionären Methoden'. Und wenn sie einmal die Macht erlangt haben sollten, werden sie genauso wie Putin darauf vertrauen, daß das russische Volk vor allem eines ist - gehorsam und still. (Dazu paßt auch diese Einschätzung des Mitglieds der liberalen SPS, Muraschew.)

Freitag, 20. April 2007

Demo-Nachschlag II

Zum Freitag sei jetzt noch ein zweiter Beitrag zur Nachbereitung der Demonstrationen vom vergangenen Wochenende und der behördlichen Reaktionen darauf publiziert. Für deren Einordnung könnte dieser Artikel von Arkadi Muraschew aus dem Kommersant hilfreich sein:
"Once Burned, Twice Shy
The Difference between Moscow, Kiev, and Bishkek

When comparing the recent street protests in Moscow, Kiev, and Bishkek and the authorities' reactions to them, it is necessary to remember the principle difference between Russia, on the one hand, and Ukraine and Kyrgyzstan, on the other. Much is explained by the deadly events of 1993 in Moscow. Having been burned once, the Moscow city authorities are twice shy: they expect inappropriate actions from crowds in the streets and so are cracking down hard. Nevertheless, it is obvious that it would have just been easier to allow the protest, since banning it only helped the protestors attract attention.

[...]

The attitude of the authorities towards the street protests in the three capitals is differentiated mainly by the different political and historical moments in which the three countries find themselves. In Kiev and Bishkek, the authorities' tolerant line on street protests is occasioned by the presence of two fairly equally-powerful authorities, which does not exist in Russia. However, those two countries should not flatter themselves: once the situation in Ukraine and Kyrgyzstan stabilizes, things will not go well for those who end up in the opposition camp. And that rule will apply no matter who comes to power. If the demonstrators imagine that representatives of the United Civil Front are going to get their hands on power in Russia, they should know that their attitude towards the opposition will be no different.

[...]"

Dimitri Simes beschäftigt sich - wie immer lesenswert - in The National Interest aus einer US-Perspektive heraus mit den Hintergründen der Demonstrationen und mit der Berichterstattung amerikanischer Medien über sie:
"[...]

It is perfectly appropriate, and indeed necessary, not to whitewash Russian domestic practices, as President George W. Bush once did. What is not appropriate, however, is to accuse Putin and his government of all kinds of terrible deeds - often providing highly misleading information in the process - just because he is supposed to be undemocratic. And that is clearly what happened with coverage of last weekend’s protests in much of the mainstream media in the United States. The Wall Street Journal editorial page - which believes that Vice President Dick Cheney is a wise statesman, John Bolton an effective diplomat and Paul Wolfowitz a model anti-corruption reformer - has predictably adopted the cause of their regular contributor, former chess champion Garry Kasparov, who was one of the leaders of the opposition marches. Mr. Kasparov was a great chess player. He is also a man of courage and determination. But anyone familiar with his career in politics, and as a matter of fact, in chess long before it, would know that he has a strong propensity for theatrics and artificial confrontation. Quoting Mr. Kasparov as a dispassionate commentator on his own struggle, as The Wall Street Journal editorial page did, is unpersuasive.

But, being persuasive is in the eyes of the beholder, and editorial pages by definition are entitled to their opinions. Not so the news pages. In the case of The Washington Post, news stories regarding the April 14 and 15 events in Moscow and St. Petersburg were written as if they were coordinated with the notoriously anti-Putin attitude of The Washington Post editorial page. In their April 18 article, "Kremlin Says Riot Police Overreacted", by Peter Finn, both the text and the photographs present a highly misleading picture. The photographs show Garry Kasparov appealing to the menacing-looking police officers. It also shows the police in anti-riot gear overwhelming a long-haired, bespectacled young man. And talking about the organizers of the marches, Mr. Finn refers to Garry Kasparov and former–Prime Minister Mikhail Kasyanov—and nobody else. He does not mention at all that another organizer—and a key ally of Mr. Kasparov and Mr. Kasyanov—was Eduard Limonov, leader of the nationalist and militantly anti-American outlawed National Bolshevik Party. As the photographs accompanying this article show—and these pictures come from grani.ru, an online anti-government publication to which Mr. Limonov is a columnist—a significant, and the most assertive, part of the demonstrators marched under the Nazi-style banners of the National Bolshevik Party, where the hammer and sickle replace the swastika. And some of the demonstrators did not just march, according to the opposition paper Novaya Gazeta, where Anna Politkovskaya used to work before she was murdered last fall. In a number of instances they also attacked the police, who were trying to block their path when they took an unauthorized route.

When the Russian government was deciding how to respond to last weekend’s marches, they had to take into account what had happened at the March 3 demonstrations of the same coalition in St. Petersburg, where Mr. Limonov’s militants overran police lines and roughed up some of the officers. In Mr. Limonov’s own words on that occasion, "the activists of the National Bolshevik Party have fully justified our hopes. They really were on March 3 the avant-garde’s strike battalion, a hot shell, in all confrontations the first and most militant." Limonov added that in addition to their own flags in St. Petersburg, they were marching under the black, gold and white banners of the Russian empire, which Mr. Limonov’s party wants to recreate. He talked about the spirit of "revolution" and put Moscow authorities on notice that they better not interfere with the April 14 march if they wanted to avoid the same assault to which police were subjected in St. Petersburg on March 3. Mr. Kasyanov and Mr. Kasparov apparently came to the conclusion that almost nobody is bad enough not to be an acceptable ally against the Putin government. Traditional liberals with strong democratic credentials such as Yabloko and the Union of the Right Wing Forces (SPS) refused to cooperate with Mr. Limonov.

That still would not justify a crackdown against peaceful demonstrators and would justify even less the tendency of the Moscow city authorities to tightly control where the opposition can meet and march, often, as I have witnessed myself in the past, with transparently false excuses such as closing the street for repairs for several hours just to make an opposition march impossible. Police violence there certainly was, but to put things in perspective, Mr. Kasparov was detained and released several hours later with a fine of $ 40. Mr. Limonov was also detained for a number of hours, but has not been fined so far. Both he and Mr. Kasparov were summoned to appear before post-KGB Federal Security Service officials. Former Prime Minister Mikhail Kasyanov was protected against the police by his own security detail. One assumes that if detaining him would be a priority, it could somehow be arranged.

Why the police overreacted this time, as President Putin’s spokesman Dmitry Peskov has acknowledged, to the relatively small demonstrations of a few thousand people at most is anybody’s guess. Perhaps it can be explained partly by a concern of how far Mr. Limonov and his militants would be prepared to go if allowed the freedom to move around Moscow. Perhaps there was a sentiment typical in Russian security agencies that not doing enough is more dangerous vis-à-vis one’s superiors than doing too much. Perhaps some in the Russian government were provoked by exiled oligarch Boris Berezovsky’s statements on the eve of the march that he was providing funds for a revolution, which was supposed to start precisely with marches like those that Mr. Kasparov, Mr. Kasyanov and Mr. Limonov were organizing in Moscow. And quite possibly some in the Russian government saw the protests as a welcome opportunity to show that might is always right in Russia and any resistance, particularly violent resistance, is hopeless and will be crushed at the outset.

This is not a pretty picture just as the violent clashes between police and protesters in Genoa over the G-8 and in Washington at the World Bank and IMF were not pretty by most accounts. Some overreaction clearly took place, but I still wonder whether a demonstration in Berlin with neo-Nazi symbols appealing to recreate the Third Reich would generate the same kind of an outcry as in the case of Moscow and St. Petersburg. Actually, there is no need to wonder; we all know the answer.

[...]"

Eine Diskussion auf Russia Profile hat das gleiche Thema behandelt. Abschließend sei hier daraus nur kurz - zur allgemeinen Erheiterung - eine Einlassung von Stephen Blank herausgegriffen, welche er auch schon früher an anderer Stelle geäußert hat:
"[...]

Neither the United States nor Europe organized or inspired any of the color revolutions. They found domestic support because these revolutions were actually protests against crude efforts by the ruling governments to corrupt election procedures in these countries.

[...]"

Mittwoch, 18. April 2007

Georgisch-amerikanische Fehldeutung

Georgien mit seinen Krisenregionen (Karte: www.dw-world.de); eine detaillierte kartographische Darstellung der Lage in Abchasien ist auf der UN-Seite zu finden.


Die Situation im Südkaukasus, insbesondere in den nach Unabhängigkeit von Georgien strebenden Republiken Abchasien und Südossetien, ist im Herbst 2006 infolge des russisch-georgischen Konflikts erneut ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt. Die damit verbundenen Probleme werden uns - auch in diesem Blog - in den nächsten Wochen und Monaten sicher noch des öfteren beschäftigen.

Das gleiche gilt für die Frage nach dem Einfluß bestimmter, im allgemeinen als "pro-westlich" geltender politischer Kräfte in einigen Staaten der früheren Sowjetunion auf die innenpolitische Stimmung und die Außenpolitik der USA. Insbesondere der georgische Präsident Saakaschwili genießt dort großen Kredit, vor allem weil er aktiv den NATO-Beitritt seines Landes vorbereitet und als "Demokrat" und "Reformer" gilt. Er versteht es nahezu perfekt, sich als das bedauernswerte Opfer des bösen, großen russischen Bären darzustellen, der den armen, kleinen Nachbarn unablässig tyrannisiert. Darüber vergißt man im "Westen" bisweilen, daß Saakaschwilis Demokratiebilanz de facto alles andere als gut aussieht und auch seine Politik gegenüber den "abtrünnigen" Republiken nicht allzu friedlich war (wozu Georgien freilich aufgrund der Waffenstillstandsabkommen verpflichtet ist).

Vielleicht ist es auf dise Wahrnehmung zurückzuführen, daß in einer vom Bostoner Institute for the Study of Conflict, Ideology, and Policy herausgegebenen Rezension die Sichtweise Saakaschwilis (und anderer "Reformer" und "Demokraten" seines Schlages in der früheren UdSSR) vollständig übernommen wird. Daraus ein besonders drastisches Beispiel:

"[...]

Moreover, Russian “peace-keepers” that were inserted unilaterally between Georgia and its breakaway province of Abkhazia continue with their real task, namely to prevent the return of 250,000 ethnic Georgian refugees who were expelled by 90,000 Abkhaz mountaineers.

[...]"


Mit dieser Darstellung macht man sich nicht nur das Ziel der derzeitigen georgischen Staatsführung, einen Abzug der russischen Friedenstruppen zu erzwingen, zu eigen, sondern man lügt auch noch, um es besser erreichen zu können.

Bei einer genaueren Untersuchung des Falles stellt man fest, daß diese Friedenstruppen keine unilaterale Angelegenheit Rußlands sind, sondern eine Operation der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (zu der u.a. Rußland und Georgien gehören). Die GUS-Charta weist der Organisation in Art. 2 u.a. die Aufgabe der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten zur Sicherung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu. Zu diesem Zweck ermöglichen die Charta (v.a. Kapitel III) und weitere Rechtsakte der GUS den Einsatz von Friedenstruppen in einer Konfliktregion. Damit ist die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten eine Regionale Abmachung im Sinne des Kapitels VIII der UN-Charta und wird als solche auch vom UN-Sicherheitsrat anerkannt.
Die Entsendung der Friedenstruppen nach Abchasien zur Überwachung der Waffenruhe erfolgte durch Rußland im Juni 1994 ad hoc auf ein Ersuchen (!) der georgischen und der abchasischen Seite hin und wurde dann im Rahmen der GUS auf eine multilaterale Grundlage gestellt, es handelt sich also um de jure GUS-Truppen. Der UN-Sicherheitsrat, dem gem. Art. 24 I UN-Charta die "Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" obliegt, und der gem. Art. 52 ff. UN-Charta auch die Aktivitäten der Regionalen Abmachungen überwacht, hat diesem Arrangement erstmals im Juli 1994 in der Resolution 937 zugestimmt und an dieser Auffassung bis heute kontinuierlich festgehalten, zuletzt dokumentiert in den Resolutionen 1716 (Oktober 2006) und 1752 (April 2007).
(Eine ausführliche Darstellung des Themas bietet A. Nasyrova: Regionale Friedenssicherung im Rahmen der GUS, in: ZaöRV 2004, S. 1077 ff. - auch online abrufbar.)

Es ist also falsch zu behaupten, die Präsenz der russischen Friedenstruppen in Abchasien sei illegal oder ihre Stationierung sei gegen den Willen der georgischen Regierung erfolgt.

Warum wird es dennoch getan? Politikberatung ist nur höchst selten zweckfrei und eine derartige Fehldeutung muß Gründe haben, die wohl nicht nur in der überall im Text deutlich hervortretenden Russophobie des Rezensenten liegen. Soll in der amerikanischen Öffentlichkeit und bei Abgeordneten der Boden für Saakaschwilis weitere Politik bereitet werden, der ausweislich zahlreicher Stellungnahmen auch bereit ist, ggf. Krieg gegen Rußland zu führen und dafür (vielleicht schon als neues NATO-Mitglied?) amerikanischer Unterstützung bedarf?

"Kein Schach dem Kreml"

Unter diesem Titel analysiert Peter Nowak in Telepolis das russische Oppositionsbündnis um Garri Kasparow:
"[...]

Kasparow hat es sich zum Ziel gesetzt, die zerstrittene russische Opposition zu einen und den russischen Präsidenten schachmatt zu setzen. Die Chancen dafür stehen eher schlecht. Doch in der Öffentlichkeitsarbeit ist die russische Staatsmacht unbeabsichtigt zum besten Verbündeten von Kasparow und seinen Anhängern geworden. Das sollte sich am vergangenen Wochenende wieder zeigen.

[...]

Wenn man noch die schlechte Infrastruktur und die fehlende Medienöffentlichkeit betrachtet, hat die Opposition so zumindest einen Propagandaerfolg errungen. Schließlich zielen ihre Aktionen auch nicht in erster Linie auf die russische Bevölkerung, sondern auf das Ausland. Das machte Kasparow zuletzt in verschiedenen Interviews auch mit deutschsprachigen Zeitungen deutlich.
"Zum Glück nehmen jetzt die anderen Freunde von Putin im Westen ihren Hut. Chirac, Blair. Berlusconi ist schon weg, und Bush hat auch nicht mehr viel Zeit," erklärte er am Wochenende. Mit solchen Tönen macht sich die von Kasparow repräsentierte Opposition die russische Bevölkerung, die durchaus Angst vor einer Einkreisung durch den Westen hat und das US-Raketenabwehrprogramm als Bedrohung empfindet, nicht gerade zu Bündnispartnern.

Ein weiteres Handicap der von Kasparow repräsentierten Opposition ist ihre Zerstrittenheit. Einig ist man sich nur gegen Putin, dessen Amtszeit eigentlich ausläuft. Da man aber fürchtet, dass sich der Präsident durch eine Verfassungsänderung eine weitere Amtszeit genehmigen lässt, richtet man den Widerstand vor allem auf seine Person. Damit holt man Neoliberale mit ins Boot, die unter Jelzin zu Milliardären geworden sind und jetzt fürchten, dass ihr schneller Reichtum staatlich begutachtet wird. Auf der anderen Seite lockt man auch die Nationalbolschewisten. Die haben zwar die NS-Anleihen in ihrer Propaganda in der letzten Zeit etwas zurück gesetzt, als Alternative zu Putin werden sie aber wohl von den wenigsten Menschen in Russland gesehen.

Keine Alternative

Das größte Manko der Opposition in den Augen der russischen Öffentlichkeit ist allerdings deren mangelnde Alternative, vor allem auf wirtschaftlichen Gebiet. Kasparow selber fordert mehr Transparenz und den Kampf gegen Korruption sowie eine bessere Verteilung der Gelder auch in der russischen Provinz. Das sind erstaunlich vage Ziele für eine Bewegung, die sich im entscheidenden Kampf gegen eine Diktatur wähnt. In den Augen vor allem vieler russischer Menschen mit niedrigen Einkommen wird natürlich kritisch vermerkt, dass zu Kasparows Verbündeten auch Teile jener neoliberalen Kreise gehören, die in den ersten Jelzin-Jahren mit einem Schockprogramm die russische Wirtschaft fit für den Weltmarkt machen wollten.

Eine linke Opposition, wie sie vor einigen Jahren in Ansätzen in Russland existierte, ist heute weitgehend marginalisiert. Die ehemalige sowjetische Staatspartei, die KP, hat noch einen gewissen Anhang vor allen bei Menschen über 50. Doch über eine Sowjetnostalgie, gepaart mit nationalen Tönen, kommt sie nicht hinaus. Moderneren sozialen Gruppen ist es bisher nicht gelungen, in breiten Kreisen der Bevölkerung Fuß zu fassen. Diese Schwäche der Opposition ist die Chance für Kasparow. Doch solche fragilen Bündnisse werden trotz der Prominenz einiger Führungspersonen den Kremlgewaltigen kaum gefährlich werden.

Nicht frei von Heuchelei

Hinzu kommt noch der ehemalige russische Magnat Boris Beresowski, der von London aus offen zum gewaltsamen Sturz von Putin aufruft. Er betätigt sich so als Provokateur, der mit seinen Äußerungen dem Kreml zumindest die Handhabe für sein hartes Vorgehen gibt. Die russische Politik kann schließlich damit argumentieren, dass sich die Opposition nicht von den Aufrufen zum Sturz der Regierung distanzierte, auch wenn sie sich selber diese Methoden nicht zu eigen macht.

Auch in anderen europäischen Staaten, beispielsweise in Spanien, werden Parteien und Organisationen verboten, weil sie sich nicht von Gruppen wie der ETA distanzieren. Auch dort werden mit der Begründung der mangelnden Distanz von gewalttätigen Gruppen, immer wieder Demonstrationen verboten oder gewaltsam aufgelöst. Dieses Vorgehen wird in großen Teilen der europäischen Öffentlichkeit begrüßt oder zumindest toleriert.
Deswegen ist auch die Aufregung um die Demokratie in Russland stellenweise nicht frei von Heuchelei.

[...]"

Dienstag, 17. April 2007

Demo-Nachschlag

Wie werden in Rußland selbst die Demonstrationen und Auseinandersetzungen vom letzten Wochenende eingeschätzt? Dazu hat RIA Nowosti gestern eine Presseschau veröffentlicht:
"[...]

Die Bewegung „Anderes Russland“ hat sich am Freitag trotz Demonstrationsverbots zu einem „Marsch der Nichteinverstandenen“ in Moskau entschlossen. Das Polizei- und Armeeaufgebot, das zehnmal höher als die Zahl der Demonstranten war, ging gegen die Aktionsteilnehmer hart vor, berichten am Montag die Tageszeitungen „Gaseta“ und „Kommersant“.

Laut offiziellen Angaben wurden rund 170 Teilnehmer festgenommen und Dutzende verprügelt. Dennoch haben die „Nichteinverstandenen“ ihr Ziel erreicht: Statt der Opposition die Möglichkeit zu geben, eine relativ kleine Aktion abzuhalten, verwandelten die Behörden das Moskauer Stadtzentrum in ein Testgelände für paramilitärische Übungen. Am Sonntag wiederholte sich die gleiche Situation in Sankt Petersburg.

Stanislaw Belkowski, Direktor des Instituts für nationale Strategie, meinte dazu: „In politischer Hinsicht war es für die Regierung völlig sinnlos, Angst vor einem Marsch wie dem am Sonnabend zu haben. Wären alle Aktionen zum ‚Marsch der Nichteinverstandenen’ gestattet worden, so wären 6000 bis 7000 Menschen ruhig durch die Stadt marschiert, was die jetzige Regierung in keiner Weise bedroht hätte.
Putin hat offensichtlich die Ursachen der ‚orange' Revolution und deren Entstehungsentwicklung nicht begriffen. Das, was unverständlich ist, löst eben immer Angst aus. Deshalb rufen beliebige öffentliche Aktivitäten der Opposition eine Überreaktion bei Putin aus.

Für die im Kreml-System tätigen Personen ist der Kampf gegen die Opposition ein Geschäft. Der Kampf gegen die Opposition ist im heutigen Russland ein überaus einträgliches Geschäft. Hätte der Kreml die Opposition adäquat aufgenommen und einen angemessenen Dialog mit dieser geführt, so hätte er nicht die vielen Millionen Dollar für politische Instrumente wie etwa die Jugendorganisationen ‚Naschi’ und ‚Junge Garde’ sowie für das Ausbildungssystem dieser Phantom-Organisationen ausgegeben. Zweitens: Die bewaffneten Strukturen erhalten ebenfalls zusätzliche Gelder für die Auflösung der Oppositionsaktionen.“

Dmitri Oreschkin, Leiter der analytischen Gruppe Mercator: „Die Regierung baut eigenhändig eine außerhalb des Systems stehende Opposition auf.“
Andrej Illarionow, ehemaliger Wirtschaftsberater von Präsident Putin: „Solange der Staat von einer Korporation der Geheimdienstmitarbeiter verwaltet wird, wird die Gesellschaft nach einem Weg zur Anwendung der für die Systemveränderung erforderlichen Gewalt suchen. Die Gesellschaft kämpft mit den Methoden, die halt vorhanden sind.“"

Unterdessen hat ein Pressesprecher des Präsidenten Überreaktionen der Sicherheitskräfte eingeräumt:
"[...]

Auf die jüngsten „Märsche der Nichteinverstandenen“ eingehend, stellte Peskow fest, dass diese hinsichtlich der Teilnehmerzahl „äußerst bescheiden“ waren. „In den ausländischen Medien hat es diesbezüglich Übertreibungen gegeben.“ „Übertrieben“ fand er auch die Reaktion der Rechtsschutzorgane in einzelnen Fällen. „Das Hauptziel bestand aber in der Einhaltung von Recht und Ordnung bei diesen Ereignissen.“

[...]"

Siehe dazu auch diesen Bericht. In St. Petersburg wurden gestern bereits amtliche Untersuchungen zum Vorgehen der Polizei eingeleitet.

Michael Gorbatschow sieht in den Demonstrationen einen Versuch, Rußland zu destabilisieren:
"[...]

Die Protestdemonstrationen vom letzten Wochenende sind ein Versuch, das Land in den Grundfesten zu erschüttern.
Das sagte der Ex-Präsident der Sowjetunion und heutige Leiter der internationalen Stiftung für sozialökonomische und politische Forschungen, Michail Gorbatschow.
„Es gibt Kräfte, die die Lage im Land erschweren und es in die Instabilität treiben wollen“, sagte Gorbatschow auf einer Pressekonferenz bei RIA Novosti. Derartige Märsche, äußerte er, werden „inszeniert, um die Gesellschaft einzuschüchtern. Das ist nicht akzeptabel.“
„Wir müssen unsere Lehre ziehen und denjenigen, die Furcht in der Gesellschaft säen wollen, sagen, dass sie den Bogen überspannen.“ Seine Philosophie sei mit der Gedankenwelt der Drahtzieher unvereinbar.

[...]"
Der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin hat das Vorgehen der Miliz kritisiert und seine Unterstützung für eventuelle Klagen angekündigt:
"[...]

Lukin kritisierte, dass die Polizei ihren Auftrag, „den friedlichen und sicheren Charakter von Meetings und Demonstrationen zu gewährleisten“ nicht erfüllt und stattdessen Leib und Leben von Bürgern in Gefahr gebracht habe. Die Rechtfertigung, dass sich die Demonstranten in Moskau über ein bestehendes Umzugsverbot hinweggesetzt haben, ließ der Menschenrechtsbeauftragte Putins nicht gelten. „Die Verfassung sagt klar, Russlands Bürger haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen auf Meetings und zu Demonstrationsumzügen zu versammeln“, sagte Lukin. Seiner Auffassung nach hätte der Marsch nicht verboten werden dürfen.

[...]"

Bedauerlicherweise hat Lukin eines nach wie vor nicht verstanden. Die entscheidende Frage ist nicht, ob staatliches Handeln irgendwelche Grundrechte von Bürgern beschränkt hat (das passiert jeden Tag, zehntausendfach), sondern ob diese Beschränkung gerechtfertigt war. Es versteht sich wohl von selbst, daß in einer Gesellschaft, in der Millionen von konfligierenden Rechtsgütern und -ansprüchen aufeinandertreffen, irgendjemand immer den kürzeren ziehen muß. Wenn der eine bei grün über eine Ampelkreuzung fahren darf, muß der andere eben bei rot warten und seine Fahrt unterbrechen. Davon kann er auch nicht dadurch absehen, daß er den Verfassungstext ans Fenster hält. Lukin müßte somit fragen 'War die Verbotsverfügung für die Demonstration rechtmäßig?' und dann zwischen Pro- und Contra-Argumenten entscheiden, anstatt sich in Grundsatzdiskussionen zu ergehen.

(Allerdings muß man konzedieren, daß das demonstrative Hochhalten der russischen Verfassung durch die Demo-Teilnehmer am Samstag eine wirklich brilliante PR-Aktion war, deren Wirkung - zumindest im Ausland - kaum überschätzt werden kann.)

Und Kasparow selbst? Der wurde, ebenso wie Limonow, mittlerweile vom FSB vorgeladen, hat aber schon wieder frischen Mut gefaßt und will vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Klage erheben:
"[...]

Der ehemalige Schachweltmeister und russische Oppositionspolitiker Garri Kasparow will Klage vor dem EU-Gerichtshof in Straßburg einreichen. Das teilten seine Anwälte mit.

[...]

Die Anwälte wollen erreichen, dass sämtliche gegen ihren Mandanten vorgebrachten Anklagepunkte widerrufen werden. Sie glauben zugleich nicht, dass ihrer Klage in Russland stattgeben wird und richten sich deshalb an ein internationales Gericht."

Wieder eine ganz auf die Öffentlichkeitswirkung bedachte Aktion, denn sie ist ohne Aussicht auf Erfolg. Eine Klageerhebung vor dem EGMR setzt nämlich gemäß Art. 35 I EMRK die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges voraus - was bei einem überstaatlichen Gericht auch gar nicht anders sein kann. Angesichts des bewußten Verzichts auf das Beschreiten dieses Rechtsweges muß man sich ernstlich fragen, ob Kasparows Rechtsanwälte einfach nur blöd sind oder ob es ein Gag war, um die Medien wieder mit ein bißchen Futter zu versorgen.

(Im übrigen sollten die Leute bei Rußland Aktuell endlich einmal registrieren, daß der EGMR kein "EU-Gericht" ist, sondern zum Europarat gehört. Die echten EU-Gerichte, Europäischer Gerichtshof und Gericht erster Instanz, residieren in Luxemburg.)

Demonstrationsrecht

Im Nachgang zu den Demonstrationen am Wochenende sollen jetzt einige der in der Presse gegen die russischen Behörden erhobenen Vorwürfe mit den Verhältnissen in Deutschland verglichen werden, wobei sowohl die Rechtsgrundlagen als auch die Praxis von Politik, Verwaltung und Justiz berücksichtigt wird.

In der Zeit heißt es:
"[...]

Russland erlebt in den vergangenen Monaten eine schleichende Aushöhlung des Demonstrationsrechts von oben. [...] In Moskau sollen künftig Aufmärsche in der Nähe historischer Denkmäler und mit mehr als zwei Personen pro Quadratmeter verboten werden. [...] Sie verbietet Versammlungen, da angeblich zuvor bereits der Demonstrationsantrag einer Putin-treuen Jungschar am selben Ort eingegangen sei, [...]"

So ungewöhnlich ist das nicht. Auch hierzulande sollten vor zwei Jahren Demonstrationen an historisch bedeutsamen Orten (wie dem Brandenburger Tor in Berlin) leichter verboten werden. Hintergrund waren natürlich die zahlreichen Demonstrationen der NPD. Die diversen Vorschläge dazu sind nun in etwas entschärfter Form in § 15 II des Versammlungsgesetzes gegossen worden:
"Eine Versammlung oder ein Aufzug kann insbesondere verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn
1. die Versammlung oder der Aufzug an einem Ort stattfindet, der als Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnert, und
2. nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ist ein Ort nach Satz 1 Nr. 1. Seine Abgrenzung ergibt sich aus der Anlage zu diesem Gesetz. Andere Orte nach Satz 1 Nr. 1 und deren Abgrenzung werden durch Landesgesetz bestimmt."

Mit der zeitgleichen, in der veröffentlichten Meinung ebenfalls meist positiv kommentierten Neufassung des § 130 StGB sollten auch bestimmte öffentliche Meinungskundgaben (s. Art. 5 GG) unterbunden werden, die nichts mehr mit dem Spezialfall der Auschwitzlüge zu tun haben. Aufgrund der beiden Gesetzesänderungen wird man schwerlich der Einschätzung widersprechen können, daß sich in Deutschland mittlerweile ein Gesinnungsrecht etabliert hat.

Auch der Vorwurf, der Obrigkeit genehmere Gruppen würden bei ihren Demonstrationen bevorzugt, verfängt nicht, denn das gleiche Schauspiel wird auch bei uns mehrfach pro Jahr geboten. Der Ablauf ist regelmäßig folgender: Die NPD oder eine ähnliche Gruppe meldet eine Demonstration an, die von der zuständigen Behörde aus den verschiedensten Gründen verboten wird (§ 15 I VersG). Daraufhin klagt die NPD vor den Verwaltungsgerichten und bekommt, wie schon von Beginn an abzusehen war, früher oder später Recht, so daß die Demonstration - evtl. mit Auflagen versehen - doch noch stattfinden darf. Daraufhin setzen sich die Lokalpolitiker an die Spitze der Gegendemonstranten und bilden ein "Bündnis gegen Rechts". Sobald man an einem Ort eine gewisse Übung darin hat, werden die Gegendemonstrationen zeitlich knapp vor der NPD-Demo angemeldet, so daß man den Rechten mit gutem Gewissen sagen kann: 'Sorry, aber auf diesem Platz im Zentrum wird zeitgleich schon demonstriert, ihr müßt also an den Stadtrand gehen'.

Die Auflösung eines verbotenen Aufzugs - wie am Samstag auf dem Moskauer Puschkinplatz geschehen - ist gleichfalls keine so außergewöhnliche 'Vergewaltigung der Demokratie', denn in § 15 IV VersG heißt es kurz und knapp: "Eine verbotene Veranstaltung ist aufzulösen".

Exkurs: Ein Streit, der auch über die juristische Fachwelt hinaus Aufmerksamkeit erregte, wurde vor sechs Jahren zwischen dem Oberverwaltungsgericht Münster und dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen. Während das OVG regelmäßig NPD-Demonstrationen untersagte, indem es eine Art antifaschistische Metaverfassung in das Grundgesetz hineindeutete, wurden seine Entscheidungen vom BVerfG regelmäßig kassiert und so die Demonstrationsfreiheit (Art. 8 GG) geschützt. (Die Entscheidungstexte beider Gerichte lassen sich über ihre Webseiten abrufen; ausführliche Abhandlungen dazu: U. Battis / K. J. Grigoleit: Die Entwicklung des versammlungsrechtlichen Eilrechtsschutzes, in: NJW 2001, S. 2051 ff.; S. Beljin: Neonazistische Demonstrationen in der aktuellen Rechtsprechung, in: DVBl. 2002, S. 15 ff.; W. Hoffmann-Riem: Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten?, in: NJW 2004, S. 2777 ff.)

Wir halten als Ergebnis dieser kurzen Betrachtung fest: Die Behandlung von politisch mißliebigen Demonstranten in Deutschland und Rußland unterscheidet sich nicht unbedingt grundsätzlich, weder auf der rechtlichen noch der auf der tatsächlichen Ebene. Wobei hierzulande eine gut funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit noch dazu fähig war, die restriktivsten Freiheitsbeschränkungen abzumildern. Daher kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als läge die Ursache für die in unseren Medien vergossenen Krokodilstränen über die Ereignisse des vergangenen Wochenendes weniger in der besonderen Liebe zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit und stattdessen eher darin begründet, wer denn nicht so demonstrieren durfte, wie er es gern gewollt hätte.
(Wenn man im Glashaus sitzt, meine Damen und Herren Journalisten, sollte man nicht mit Steinen werfen. Wer vor Jahren den "Aufstand der Anständigen" mitsamt seinen totalitären Anwandlungen unterstützt hat, täte besser daran, jetzt zu schweigen.)

Es bieten sich also zwei Schlußfolgerungen an: Deutschland und Rußland sind bezüglich mißliebiger Demonstrationen (und öffentlicher Meinungskundgaben) beide ähnlich demokratisch (also gewissermaßen "lupenrein" ;-)) oder beide sind ein ganzes Stück weit vom Idealbild einer Demokratie entfernt. (Vielleicht kann dieses Idealbild aber in der Wirklichkeit aufgrund der vielfältigsten Friktionen auch niemals erreicht werden?)