Samstag, 3. Januar 2009

Stolypin - Der "zweitgrößte" Russe

In den letzten Jahren sind Fernsehsendungen in Mode gekommen, bei denen über die bedeutendste historische Persönlichkeit eines Landes abgestimmt wird. In Deutschland wurde z.B. 2003 Konrad Adenauer zum größten Deutschen gewählt, gefolgt von Martin Luther und - Karl Marx. In Portugal gab es 2007 den Skandal, daß der Diktator Salazar die Abstimmung sogar gewonnen hat; sein Kollege Franco kam in Spanien nur auf Platz 22.
Vor einer Woche sind nun die Sieger der Fernsehabstimmung "Der Name Russlands" bekanngegeben worden: Alexander Newskij auf Platz 1 (siehe auch hier), Pjotr Stolypin auf Rang 2 und Stalin auf Platz 3. Danach folgen Puschkin, Peter der Große, Lenin, Dostojewskij, Suworow, Mendelejew, Iwan der Schreckliche, Katharina II. und Alexander II.

Wie zu erwarten war, wurde von den Medien vor allem die Plazierung Stalins ausgeschlachtet, über die beiden vor ihm rangierenden Personen spricht man weniger. Sean's Russia Blog (übrigens einer der interessanten Rußlandblogs) bemerkt dazu ganz treffend:

"First, of course, is the announcement that Aleksandr Nevskii won the Name of Russia contest. An interesting choice for sure. Most reports have taken pains to point out that Stalin came in third. But what I find interesting is that no one wonders why Piotr Stolypin came in second. Perhaps understanding why this hard aristocrat, anti-democratic but competent reformer has received such recognition says something about Russia at the moment? I have a feeling he symbolizes more than just the “necktie” that snuffed out revolutionaries. But no, I guess it’s easier to jabber about Stalin since to talk about Stolypin means that journalists would have to know something beyond stereotypes about Russia’s history."
Da täuscht er sich nicht! Auch ich konnte in zahlreichen Gesprächen in Rußland während der letzten Jahre feststellen, daß Stolypin große Anerkennung findet. Wer war also dieser Mann?

Pjotr Arkadjewitsch Stolypin wurde 1862 in Dresden geboren, wo sein Vater als russischer Diplomat tätig war. Seine großbürgerlich-aristokratische Familie hatte dem Staat schon mehrere Beamte und Offiziere gestellt, weshalb es nicht überrascht, daß auch er in den Verwaltungsdienst eintrat. Bereits als Provinzgouverneur machte er durch die Unterdrückung der radikalen Umstürzler auf sich aufmerksam. Nach der Revolution von 1905 wurde er erst zum Innenminister und dann 1906 zum Premierminister des Russischen Kaiserreiches berufen.
In diesem Amt hat Stolypin - ganz ähnlich wie Bismarck in Preußen und Deutschland - eine zweigeteilte Politik betrieben: zum einen die Bekämpfung der Revolutionäre und Terroristen (was bei ihm als eingefleischtem Monarchisten nahelag), zum anderen die Reformierung des Staatswesens und der Gesellschaft, um den Radikalen so die Basis zu nehmen und eine gewaltsame Revolution, die das ganze Land ins Unglück stürzen mußte, zu verhindern. Sein Hauptaugenmerk galt hierbei den Agrarreformen. Bei den Linken galt er als hassenswerter "eiserner Premierminister", bei den Rechten hingegen als Verräter an der traditionellen Ordnung - auch insoweit Bismarck, dem "weißen Revolutionär" (Lothar Gall), nicht unähnlich.
Nachdem er 1911 seine Unterstützung seitens des Zaren Nikolaus II. und in der Duma zunehmend einbüßte, erklärte er seinen Rücktritt.
Doch mit diesem Schritt hatte sich nicht der Haß seiner Feinde gelegt. Am 14. September 1911 kam es zu einem erneuten Anschlag auf sein Leben. Ein Sozialrevolutionär hat ihn bei einem Opernbesuch in Kiew angeschossen. Nach vier Tagen erlag er schließlich seinen Verletzungen.

Was hat nun im Jahr 2008 über 523000 Russen bei einer Internetabstimmung dazu veranlaßt, für den "typischen Beamten" Stolypin zu votieren? Wie der oben zitierte Sean festgestellt hat, dürfte das mehr über das heutige Rußland aussagen als alle kleinkarierten Diskussionen über die Frage, ob Stalin nur ein schlimmer Diktator oder auch ein wichtiger Politiker gewesen sei (oder eben nicht ...).

Ich vermute, viele Russen sehen in Stolypin den Idealtyp eines Politikers und Entscheidungsträgers, der ihrem Land in der Geschichte meist gefehlt hat: sachkundig und kompetent (keine Hofschranze), jemand, der die sozialen Probleme erkennt und sie zu lösen versucht (anstatt sie kleinzureden und unter den Teppich zu kehren), aber auch ein Mann der Tat, der hart gegen (die seinerzeit linksradikalen) Terroristen und Umstürzler vorgeht (und sich nicht mit intellektuell-abstrakten Erörterungen zufrieden gibt). Mehr als einmal habe ich den Satz gehört: "Wenn Stolypin doch länger durchgehalten hätte ..." - dann wäre das Zarenreich reformiert worden und dem Land die Oktoberrevolution und das Schicksal der blutigen kommunistischen Herrschaft erspart geblieben.
Es dürften daher vor allem Angehörige der Mittelschicht gewesen sein, die für ihn gestimmt haben. Menschen, die es nach dem Ende des Kommunismus mit eigener Arbeit zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht haben. Jene sind es auch, die die gegenwärtige Staatsführung unter Medwedew und Putin tragen. Ordnung, Reformen, wirtschaftliche und bürgerliche Freiheiten - ja, gerne; Umsturz, Gewalt, Chaos, Anarchie, Unsicherheit - nein, danke: so könnte ihr Credo lauten. Und Stolypin erscheint als ein Politiker, der genau das hätte möglich machen können, aber leider zur Unzeit aus dem Amt und aus dem Leben geschieden ist. Statt einer einigermaßen "normalen" Entwicklung hin zu einer Industriegesellschaft mußte das Land deshalb das kommunistische Experiment über sich ergehen lassen.
(Nebenbei bemerkt dürfte Stolypin daher als historische Referenzfigur für Putin und Medwedew erheblich besser geeignet sein als die sehr bemüht wirkenden Vergleiche mit Stalin, Andropow oder Breshnew.)


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