Zum Abschluß der kleinen Orlando Figes-Reihe hier auf Backyard Safari ein kurzer Auszug aus seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes", der sich mit der entstehenden Nationalbewegung im Baltikum während des 19. Jahrhunderts befaßt. Ebenfalls ein weniger beachtetes Kapitel der osteuropäischen Geschichte (S. 89):
"In den baltischen Provinzen gab es eine ähnliche kulturelle Bewegung im Zusammenhang mit der Kampagne für die Rechte der Landessprache in Schulen und Universitäten, literarischen Publikationen und im öffentlichen Leben. Sie richtete sich weniger gegen die Russen als gegen die Deutschen (in Estland und Lettland) und Polen (in Litauen), die diese Gebiete vor der Eroberung durch die Russen im 18. Jahrhundert beherrscht hatten. Hier hatten die Landessprachen nur in den abgelegenen ländlichen Gebieten überlebt (die einheimischen Eliten waren von der dominanten Sprachkultur assimiliert worden). Es handelte sich eigentlich nur noch um Dialekte, untereinander eng verwandt, mit lediglich lokalen Varianten, nicht viel anders als das Gälisch der Iren und Schotten. Im Lauf des 19. Jahrhunderts hatten Linguisten und Ethnographen diese Dialekte aufgenommen und zu einer Schriftsprache mit geregelter Grammatik und Orthographie standardisiert. Die Ironie dabei war, daß es den meisten Bauern schwergefallen wäre, die „Landessprache“ zu verstehen, selbst wenn sie sie hätten lesen können, da sie gewöhnlich entweder auf nur einem dominanten Dialekt basierte oder ein Konstrukt war, eine Art Bauernesperanto, aus den verschiedenen Dialekten zusammengestellt.
Dennoch setzten diese Schaffung einer einheimischen Literatursprache und die Veröffentlichung einer Nationalliteratur und -geschichte in dieser Sprache den Prozeß der Nationenbildung in Gang und ermöglichten es in den kommenden Jahrzehnten, die Bauern in der aufstrebenden Nationalkultur zu erziehen. In Estland waren die kulturellen Wegzeichen dieser nationalen Wiedergeburt die Veröffentlichung des Epos „Kelvipoeg“ von Kreutzwald 1857 und die Gründung einer Zeitung in estnischer Sprache, „Postimees“, im selben Jahr, die sich an bäuerliche Leser richtete. In Lettland gab es ebenfalls seit 1878 eine Zeitung in der Landessprache, „Balss“ („Die Stimme“), die sich wie die Lettische Assoziation zum Ziel gesetzt hatte, die Menschen der beiden Provinzen Livland und Kurland – die damals das Territorium von Lettland bildeten – zu einer einzigen lettischen Nation zusammenzuschließen. Und auch in Litauen, das so lange von Polen beherrscht worden war, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine nationale Schriftsprache entwickelt (um den Polen eins auszuwischen, stützte man sich dabei auf das tschechische Alphabet), und eine einheimische Literatur begann zu erscheinen."
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