Orlando Figes geht in seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes" auch auf den Zustand der russischen Armee zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also noch vor dem Russisch-Japanischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg, ein. Er erläutert dabei die Hintergründe dessen, was Außenstehenden oftmals nur als "Schlendrian" erschienen ist (S. 73 f.):
"Doch die Unfähigkeit hatte auch eine politische Ursache: Im späten 19. Jahrhundert hatte die Armee allmählich ihren Platz an der Spitze der Ausgabenprioritäten der Regierung verloren. Die Niederlage im Krimkrieg hatte die Streitkräfte diskreditiert und deutlich gemacht, daß dem Militär Mittel entzogen und statt dessen für die Modernisierung der Wirtschaft eingesetzt werden mußten. Das Kriegsministerium büßte seine Vorrangstellung ein, die es im Regierungssystem Nikolais I. (1825 - 1855) innegehabt hatte, und wurde vom Finanz- und vom Innenministerium verdrängt, die von diesem Zeitpunkt an den Löwenanteil der Staatsausgaben erhielten. Zwischen 1881 und 1902 fiel der Anteil der Streitkräfte am Haushalt von 30 auf 18 Prozent. Zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gab die russische Armee nur 57 Prozent der Summe aus, die in der deutschen Armee, und nur 63 Prozent der Summe, die in der österreichischen Armee auf jeden Soldaten entfiel. Das heißt, der russische Soldat zog schlechter ausgebildet, schlechter ausgestattet und schlechter versorgt in den Krieg als sein Feind. Die Armee war so knapp bei Kasse, daß sie bei Kleidung und Ernährung weitgehend auf eigenen interne Ersparnisse angewiesen war. Soldaten bauten ihre Nahrung und ihren Tabak selbst an und flickten auch selbst ihre Uniformen und Stiefel. Sie verdienten sogar Geld für das Regiment, indem sie als Saisonarbeiter auf Landgütern, in Fabriken und Kohlegruben in der Nähe ihrer Garnison arbeiteten. Viele Soldaten verbrachten mehr Zeit damit, Gemüse zu ziehen oder Stiefel zu reparieren, als zu lernen, wie sie ihre Gewehre handhaben sollten. So schuf das Zarenregime durch die Kürzung des Militärbudgets eine Armee von Landwirten und Flickschustern."
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