Mittwoch, 28. Januar 2009

28.01.2009: Gedicht des Tages

Wenn man die Nachrichten aus Afghanistan liest, sollte man sich der Geschichte der kriegerischen Völker dieses Landes erinnern. Nicht nur die Sowjets haben sich dort in den 1980er Jahren eine blutige Nase geholt, schon im 19. Jahrhundert mußten die Briten dieselbe Erfahrung machen. Daran erinnert dieses Gedicht von Theodor Fontane aus dem Jahre 1847:
"Das Trauerspiel von Afghanistan

Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
„Wer da!“ – „Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.“

Afghanistan! er sprach es so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Commandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen in’s steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er athmet hoch auf und dankt und spricht:

„Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Cabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verrathen sind.

„Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“

Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.

„Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So laßt sie’s hören, daß wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimath und Haus,
Trompeter, blas’t in die Nacht hinaus!“

Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.
"

Freitag, 23. Januar 2009

Die Ostfront im 1. Weltkrieg


Ein Nutzer hat bei Flickr zwei umfangreiche Fotosammlungen eingestellt, die aus den Nachlässen deutscher Soldaten stammen. Sie zeigen das Leben an der "vergessenen" Ostfront zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Hochinteressant! Das obige Bild etwa zeigt die Vorbereitungen für einen Besuch Wilhelms II. bei Oberost im Baltikum.
Teil 1 und Teil 2.

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Sonntag, 18. Januar 2009

Erfindung der Nationen?


Zum Abschluß der kleinen Orlando Figes-Reihe hier auf Backyard Safari ein kurzer Auszug aus seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes", der sich mit der entstehenden Nationalbewegung im Baltikum während des 19. Jahrhunderts befaßt. Ebenfalls ein weniger beachtetes Kapitel der osteuropäischen Geschichte (S. 89):
"In den baltischen Provinzen gab es eine ähnliche kulturelle Bewegung im Zusammenhang mit der Kampagne für die Rechte der Landessprache in Schulen und Universitäten, literarischen Publikationen und im öffentlichen Leben. Sie richtete sich weniger gegen die Russen als gegen die Deutschen (in Estland und Lettland) und Polen (in Litauen), die diese Gebiete vor der Eroberung durch die Russen im 18. Jahrhundert beherrscht hatten. Hier hatten die Landessprachen nur in den abgelegenen ländlichen Gebieten überlebt (die einheimischen Eliten waren von der dominanten Sprachkultur assimiliert worden). Es handelte sich eigentlich nur noch um Dialekte, untereinander eng verwandt, mit lediglich lokalen Varianten, nicht viel anders als das Gälisch der Iren und Schotten. Im Lauf des 19. Jahrhunderts hatten Linguisten und Ethnographen diese Dialekte aufgenommen und zu einer Schriftsprache mit geregelter Grammatik und Orthographie standardisiert. Die Ironie dabei war, daß es den meisten Bauern schwergefallen wäre, die „Landessprache“ zu verstehen, selbst wenn sie sie hätten lesen können, da sie gewöhnlich entweder auf nur einem dominanten Dialekt basierte oder ein Konstrukt war, eine Art Bauernesperanto, aus den verschiedenen Dialekten zusammengestellt.

Dennoch setzten diese Schaffung einer einheimischen Literatursprache und die Veröffentlichung einer Nationalliteratur und -geschichte in dieser Sprache den Prozeß der Nationenbildung in Gang und ermöglichten es in den kommenden Jahrzehnten, die Bauern in der aufstrebenden Nationalkultur zu erziehen. In Estland waren die kulturellen Wegzeichen dieser nationalen Wiedergeburt die Veröffentlichung des Epos „Kelvipoeg“ von Kreutzwald 1857 und die Gründung einer Zeitung in estnischer Sprache, „Postimees“, im selben Jahr, die sich an bäuerliche Leser richtete. In Lettland gab es ebenfalls seit 1878 eine Zeitung in der Landessprache, „Balss“ („Die Stimme“), die sich wie die Lettische Assoziation zum Ziel gesetzt hatte, die Menschen der beiden Provinzen Livland und Kurland – die damals das Territorium von Lettland bildeten – zu einer einzigen lettischen Nation zusammenzuschließen. Und auch in Litauen, das so lange von Polen beherrscht worden war, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine nationale Schriftsprache entwickelt (um den Polen eins auszuwischen, stützte man sich dabei auf das tschechische Alphabet), und eine einheimische Literatur begann zu erscheinen."

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Mittwoch, 14. Januar 2009

Piratenjagd


Die Jagd auf Piraten, die vor der ostafrikanischen Küste die Schiffahrt bedrohen, gewinnt an Dynamik. So hat in der Nacht zum Mittwoch das (zur Pazifikflotte gehörende) russische U-Boot-Abwehrschiff "Admiral Winogradow", welches erst seit Jahresbeginn in diesem Seegebiet patroulliert (die russische Marine ist dort bereits seit Oktober 2008 präsent), einen Piratenangriff auf den niederländischen Frachter "Nedlloyd Barentsz" im Golf von Aden vereitelt. Die Piratenboote wurden mittels Bordhubschrauber aufgespürt und einige Warnschüsse abgegeben, woraufhin die Piraten aufgaben. Insgesamt konnten drei Piratenboote geentert werden, deren Besatzungen später den jeminitischen Behörden übergeben worden sind.

Interessantes Detail am Rande:

"Bei der Aktion wurden drei Piraten durch Querschläger verletzt. Sie wurden ärztlich versorgt. "Da sie keinen Schmerz fühlten, kann man davon ausgehen, dass sie unter Drogeneinfluss standen", teilte Marinesprecher Igor Dygalo mit."
Dies könnte die auch in Rußland immer wieder geführte Debatte über das "richtige" Kaliber und die entsprechende Wundballistik beeinflussen. Die von den beteiligten Marineinfanteristen vermutlich verwendete AK-74 hat insofern ähnliche Schwächen wie andere Sturmgewehre im 5 mm-Kaliberbereich.



(Das Video ist ein Fernsehbericht über diesen Vorfall. Das erste Foto zeigt die "Admiral Winogradow", auf dem zweiten ist eine Einheit der russischen Marineinfanterie während einer früheren Boardingübung abgebildet. Man beachte das Messer, das der zweite Soldat von rechts führt.)



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Politische und kriminelle Gewalt


In seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes" (aus dem ich hier schon drei kurze Auszüge veröffentlicht habe) beschreibt Orlando Figes die enge Verflechtung von ordinärer Gewaltkriminalität und politischem Extremismus in Rußland zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917 (S. 203 f.). Das und der einen hohen Blutzoll fordernde Terrorismus sind hierzulande kaum bekannt, betrachtet man doch oftmals die Schriften der Anarchisten als folgenlose Sandkastenspiele und Dostojewskijs "Dämonen" (die Reaktion darauf) als rein intellektuelle Angelegenheit.
"Nicht alle Gewalt in den Städten war Ergebnis der wachsenden Militanz der Arbeiterbewegung. Es kam zu einer deutlichen Zunahme aller Arten von Gewalt, von Raubüberfällen und Morden bis zu Ausschreitungen und Vandalismus Betrunkener, weil Recht und Ordnung zusammenbrachen. Ja, da die Polizei sich von der Bühne zurückzog, trug die Bevölkerung noch zur Gewalt bei, indem sie Bürgerwehren bildete und Kriminelle auf der Straße lynchte. Täglich berichtete die Presse Dutzende solcher Fälle von „Selbstjustiz“ […], neben Raub und Mord. Der Mob trieb sich auf den Straßen herum und verprügelte Studenten und unbeteiligte Passanten. Es gab Judenpogrome. Kurz, das ganze Land schien in einer in den Abgrund führenden Spirale der Gewalt und Anarchie gefangen. Wie der Konsul der USA in Batumi berichtete:

„[Rußland] ist durchtränkt von Aufruhr und riecht nach Revolution, Rassenhaß und Streit, Mord, Brandstiftung, Raub, Diebstahl und Verbrechen aller Art ... Soweit zu sehen ist, sind wir schon weit auf dem Weg in totale Anarchie und soziales Chaos ... Eines der schlimmsten Zeichen ist, daß die Bevölkerung unter dieser langen Herrschaft von Anarchie und Verbrechen immer stärker abstumpft, die Nachricht von der Ermordung eines Bekannten oder Freundes wird von den meisten mit Gleichgültigkeit entgegengenommen, während Raubüberfälle als etwas völlig Normales angesehen werden.“

Weil sich viele Historiker vornehmlich mit der organisierten Arbeiterbewegung beschäftigen – und vom Sowjetmythos von den bewaffneten Arbeitern auf den Barrikaden verführt sind –, ist die Rolle dieser alltäglichen kriminellen Gewalt in der revolutionären Masse entweder ignoriert, oder, noch irreführender, mit der Gewalt des industriellen Kriegs verwechselt worden. Doch je genauer man die Masse auf der Straße betrachtet, desto schwieriger wird es, eindeutig zwischen organisierten Formen des Protests – den marschierenden Arbeitern mit Bannern und Liedern – und kriminelle Akten von Gewalt und Plünderung zu unterscheiden. Das eine konnte leicht in das andere umschlagen – und das kam auch oft vor. Es war nicht bloß eine Frage von „Hooligans“ oder Kriminellen, die sich den Arbeiterprotesten anschlossen oder das Chaos, das diese anrichteten, ausnutzten, um zu randalieren, Menschen anzufallen und zu plündern. Solche Übergriffe scheinen ein integraler Bestandteil der Arbeitermilitanz gewesen zu sein, ein Mittel, die Macht der plebejischen Masse geltend zu machen und die Symbole von Wohlstand und Privilegien zu zerstören.

Was die verängstigte Mittelschicht „Hooliganismus“ nannte – die Überfälle des Mobs auf die Wohlhabenden und auf Autoritätspersonen, die Plünderungen und der Vandalismus, die Prügeleien und Randale Betrunkener –, konnte genausogut der Kategorie „revolutionärer Akt“ zugeordnet werden. Und teilweise ist es auch das, was sie waren: Die revolutionäre Gewalt der Jahre 1905 – 1917 drückte sich genau in dieser Art Aktionen aus. Sie wurde von denselben Haßgefühlen gegenüber den Reichen und allen Autoritäten getrieben, vom selben Wunsch der Armen und Machtlosen, sich zu behaupten und die Straßen für sich zu beanspruchen. Aus der Sicht der Wohlhabenden gab es wenig Unterschied zwischen dem „groben“ und „rüden“ Verhalten der „Hooligans“ – ihrer anmaßenden Aufmachung, ihrer Trunkenheit und vulgären Sprache, ihrer „Unverschämtheit“ und „Zügellosigkeit“ – und dem Verhalten der revolutionären Menge.

Arbeiterproteste, und waren sie noch so gut organisiert, konnten bei der geringsten Provokation in Gewalt umschlagen. Dies sollte eines der größten Probleme für die revolutionären Parteien werden, besonders für die Bolschewiki, die die Massen für ihre politischen Zwecke benutzen wollten. Solche Gewalt war ein zweischneidiges Schwert und konnte eher zur Anarchie führen als zu kontrollierter revolutionärer Aktion. Das war die Lektion, die die Bolschewiki in den Juli- und Oktobertagen 1917 lernten – Ausbrüche von Gewalt, die weit entfernt waren vom sowjetischen Bild der heroisch-proletarischen Kraft."

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Dienstag, 13. Januar 2009

Bemerkungen zum Gasstreit III

Da hatte ich gehofft, nach dem tagelangen Hickhack zwischen Kiew, Moskau, Brüssel und Prag hätte sich zumindest das für uns Deutsche wichtige Transitproblem heute gelöst (und ich müßte hier nicht so viel über tagespolitische Fragen schreiben), aber es sollte anders kommen. Kaum hatte Gasprom - unter Aufsicht der ausländischen Beobachter - die Lieferungen wieder aufgenommen, hat die Ukraine die Durchleitung erneut blockiert - und das auch zugegeben. Heute war ein ziemlich turbulenter Tag - die Zusammenfassung bei Russland Aktuell.

Zuvor hatte die ukrainische Seite die Verhandlungen immer wieder verzögert und zum Schluß, als der fertige - und von Rußland und der EU bereits unterschriebene - Text einer Vereinbarung zur Pipelineüberwachung vorlag, diesen durch eigenmächtige Zusätze torpediert. Als wäre das nicht schon spannend genug, werden in Kiew auch noch wüste Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt.
Was soll man von diesem selbsternannten EU- und NATO-Beitrittskandidaten nur halten? Möglicherweise waren die finanziellen Anreize von seiten der EU nicht ausreichend?

Nachfolgend noch der Hinweis auf vier interessante Artikel zu den Hintergründen:

Jerome Guillet - ein französischer Energieexperte mit Ukraineerfahrung - informiert uns darüber, daß der Konflikt bereits 1992 und nicht erst 2006 begonnen hat und daß die Ukraine bereits in den 1990er Jahren mehrmals die Pipelines blockiert hat.

Prof. Gerhard Mangott (aus dem stark betroffenen Österreich) hat in den letzten Tages drei lesenswerte Texte zum Thema veröffentlicht:
Das ukrainische Kalkül im Gasstreit
Gaskrise - Splitter
Gasstreit und russländische Gaswirtschaft

Nachtrag (14.01.2009): Infografik zur Struktur des ukrainischen Pipelinenetzes.


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Dienstag, 6. Januar 2009

Bemerkungen zum Gasstreit II

Für alle, denen die heutigen Fernsehnachrichten zum Thema ein wenig zu dünn waren, hier ein Update.

1. Eine sehr gute und umfangreiche Zusammenfassung des Tages bietet Russland Aktuell: "Streithähne drehen an Europas Gashahn".

2. Kurzfristig eine gute Nachricht, wenigstens für Deutschland, Polen und die Türkei: "Gazprom steigert Gaslieferungen durch alternative Pipelines nach Europa". In Südosteuropa sieht es aber düster aus ...

3. Besonders eilig scheint man es in Kiew mit der Konfliktlösung nicht zu haben. Anders läßt sich nicht erklären, weshalb man dort - im Gegensatz zu Gasprom - erst übermorgen mit neuen Verhandlungen beginnen will.
(Damit dürfte Präsident Juschtschenko auch seine Ministerpräsidentin Timoschenko desavouiert haben, die einen neuen Vertrag noch vor dem orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar zustandebringen wollte.)

4. Ein interessantes Gespräch über die Hintergründe hat die NZZ mit dem Energieexperten Simon Pirani geführt: "Ich verstehe die Ukrainer nicht".

Soweit. Rant out. ;-)

Nachtrag (07.01.2009): Gerhard Mangott hat gestern ebenfalls einen lesenswerten Artikel über das Thema verfaßt.


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Terrorismus vor 120 Jahren


Im Rahmen meiner kleinen Orlando-Figes-Reihe (vgl. bereits hier und hier) folgt heute ein Abschnitt aus seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes", worin er sich mit dem blutigen Terror durch die russischen Revolutionäre während der letzten Jahrzehnte des Zarenreiches beschäftigt (S. 150 f.):
"Die Rückkehr zu den Methoden der Jakobiner bedeutete jedoch, daß die Narodniki wie ihre Vorläufer gezwungen waren, sich in einem hoffnungslosen Krieg gegen den zaristischen Polizeistaat zu engagieren. Es begann ein Teufelskreis von wachsender Unterdrückung durch die Polizei und Gegenterror durch die Narodniki. Der Wendepunkt kam 1878, als Vera Sassulitsch, die zu den Anführern von "Land und Freiheit" gehörte, auf General F. F. Trepow, den Gouverneur von St. Petersburg schoß und ihn verwundete. Die Tat war eine Vergeltungsmaßnahme für seinen Befehl, einen studentischen Häftling auszupeitschen, der sich - in einer typischen Trotzgeste - geweigert hatte, seinen Hut in Anwesenheit des Gouverneurs abzunehmen. Sassulitsch wurde von der demokratischen Intelligenzija als Märtyrerin für die Gerechtigkeit gefeiert und von einem liberalen Gericht freigesprochen. Das war das Signal für eine Terrorwelle, die das Ziel verfolgte, die Autokratie zu untergraben und zu politischen Konzessionen zu zwingen. Zwei Provinzgouverneure wurden getötet. Sechs Attentate auf den Zaren mißlangen, darunter ein Bombenattentat auf den kaiserlichen Zug und eine riesige Explosion im Winterpalais. Schließlich, am 1. März 1881, als Alexander II. in seinem Wagen durch St. Petersburg fuhr, wurde er durch eine Bombe getötet.

Die verbreitete Empörung selbst unter Revolutionären über diese Terrorwelle führte zu einer Spaltung von "Land und Freiheit". Der eine Zweig nannte sich "Volkswille" [...], übernahm die Ideale Tkatschows und blieb der Taktik des Terrorismus treu, die zu einer gewaltsamen Machtergreifung führen sollte. 1879 gebildet, verübte diese Gruppe den Mord am Zaren. Viele ihrer Anführer wurden später bei den auf das Attentat folgenden Unterdrückungsmaßnahmen verhaftet - und mehrere hingerichtet. Doch die Terrorkampagne, die sie ausgelöst hatten, wurde von mehreren kleineren Gruppen in den achtziger Jahren weitergeführt. Zu einer gehörte Lenins älterer Bruder, Alexander Uljanow, der nach einem mißglückten Mordanschlag auf Alexander III. am sechsten Jahrestag der Ermordung von Alexander II. teilgenommen hatte und später hingerichtet wurde. Das angebliche Ziel der Kampagne war, den Staat zu destabilisieren und den Funken für eine Volkserhebung zu legen. Doch sie degenerierte bald - wie jeder Terror - zu Gewalt um der Gewalt willen. Man schätzt, daß über 17000 Menschen in den letzten zwanzig Jahren des Zarenregimes von Terroristen getötet oder verwundet worden sind - mehr als fünfmal soviel wie in Nordirland in den 25 Jahren der "Unruhen". Manch Terroranschlag war wenig mehr als bloße kriminelle Gewalt. Alle revolutionären Parteien finanzierten sich zumindest teilweise durch Raubüberfälle (die sie euphemistisch "Exproprationen" nannten), vor allem auf Banken und Züge, und man konnte kaum verhindern, daß die Täter das Gestohlene selbst einsteckten. Das war schlimm genug für das moralische Klima der revolutionären Parteien. Aber es war nicht annähernd so schädlich wie der kumulative Effekt des jahrelangen Mordens, der Zynismus, Indifferenz und Abstumpfung gegenüber den Opfern ihrer Sache zur Folge hatte."


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Bemerkungen zum Gasstreit I

Zwar möchte ich mich in diesem Blog mit Ausflügen in die themenfremde Tagespolitik zurückhalten, kann heute jedoch nicht auf ein paar Bemerkungen zum derzeitigen Gasstreit zwischen der Ukraine und Rußland verzichten, da selbiger in der deutschen Presse z.T. sehr einseitig erörtert wird.

Zunächst die aktuellen Fakten:

1. Die Ukraine entnimmt illegalerweise aus den für die EU-Staaten bestimmten Lieferungen erhebliche Mengen Erdgas:
"[...] Kein Vertrag – kein Gas. Seit Neujahr muss Kiew auf russische Gaslieferungen verzichten. Stattdessen bedienen sich die Ukrainer an den Transitlieferungen für Europa. [...]"
So viel, daß in den Abnehmerstaaten z.T. schon deutlich weniger ankommt:
"[...] Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine hat für Griechenland massive Auswirkungen. Das Land am Mittelmeer beklagt einen Rückgang der Gas-Lieferungen um ein Drittel. [...]"
Und das, obwohl Gasprom mehr Gas in die Pipelines eingespeist hat. Seit heute Nacht kommt auf dem Balkan gar nichts mehr an. Mit anderen Worten: Die Ukraine hat Südosteuropa von seinen Energiezufuhren abgeschnitten.

2. Gestern hat zudem ein ukrainisches Gericht den Gastransit in die EU komplett untersagt:
"[...] In den Gas-Streit mit Russland hat sich jetzt auch noch ein Kiewer Gericht eingemischt - und kurzerhand den Transit von Erdgas durch die Ukraine nach Westen vorläufig für nicht rechtens erklärt. [...]"
Und das macht eine große deutsche Tageszeitung daraus:
"[...]

Die Russen machen mit ihrer Drohung ernst. Gazprom drosselt im Streit um Lieferungen an die Ukraine die Exporte nach Europa. Nun meldet die Türkei, dass russisches Gas nicht mehr ankommt. Die deutsche Regierung warnt: Russlands Ruf als verlässlicher Wirtschaftspartner stehe auf dem Spiel.

Russland hat nach Angaben des ukrainischen Gasunternehmens Naftogaz seine Erdgaslieferungen nach Europa um zwei Drittel gekürzt. Der russische Gasmonopolist Gazprom habe am 6. Januar nur 92 Millionen Kubikmeter Erdgas für Europa geliefert, gegenüber 221 Millionen und 300 Millionen an den beiden Vortagen, sagte Naftogaz-Sprecher Walentin Semljanski in Kiew.

[...]"
Nicht etwa die ukrainischen Entnahmen (man könnte sie auch als Gasdiebstähle bezeichnen) sind also Schuld an den Lieferengpässen in der EU, sondern - wie sollte es anders sein - die pösen Russen, vertreten durch Gasprom, die uns angeblich weniger Gas geben. Um diese Einseitigkeit und ihren Propagandaeffekt nicht zu gefährden, wird das gestrige Kiewer Gerichtsurteil überhaupt nicht erwähnt. Denn dadurch könnte ja das vermittelte Bild "Ukraine = gut, Rußland = böse" ins Wanken gebracht werden. Daher auch kein Hinweis auf die innenpolitische Dimension dieses Konflikts in der Ukraine (Juschtschenko vs. Timoschenko) und das politische Chaos, was seit Monaten in diesem Land herrscht.

Dieser Fall ist (wieder einmal) ein Lehrstück dafür, wie deutsche Medien versuchen, ihre Rezipienten zu manipulieren.


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Montag, 5. Januar 2009

Unbequeme Fakten

In letzter Zeit habe ich hier einige Male über die russische und sowjetische Geschichte sowie ihre Wahrnehmung im heutigen Rußland geschrieben. Deshalb soll auch dieser Bericht nicht unbeachtet bleiben. Darin zwei interessante Befunde: Erstens wollen die meisten Russen Denkmäler und Straßennamen aus der Sowjetzeit erhalten. Allerdings nicht, weil sie an sich so schön wären, sondern "als Teil der Geschichte" des Landes, den man nicht einfach so abstreifen könne.
Zweitens sind es gerade die - vornehmlich aus dem Mittelstand kommenden - Anhänger der Putin-Partei "Geeintes Rußland", die mehrheitlich für die Beseitigung der sowjetischen Symbolik plädieren. Letzteres dürfte die sinistren Verschwörungstheoretiker (vgl. z.B. hier und hier), die behaupten, unter Putins Regierung finde eine Rehabilitation der kommunistischen Herrschaft statt, ein großes Problem darstellen. Dem müssen diese Leute erst einmal beikommen. Ebenso der Tatsache, daß er die Repressionen mehrfach explizit verurteilt hat. Alles, was nicht ins eigene Bild paßt, wird von den Schreiberlingen konsequent ausgeblendet. Aber wir kennen das ja von der Journaille ...



PS: Ironischerweise ist es gerade die russische Opposition in Gestalt der Nationalbolschewisten um Eduard Limonow (manchmal mit Lenin-Bärtchen), die Garri Kasparows buntem Haufen namens "Das andere Rußland" als Schlägertruppe dienen und viel Wert auf totalitäre Symbolik legen, wie diese beiden Bilder belegen. Schöne "Demokraten". Tja, die Wirklichkeit kann manchmal sehr kompliziert sein ...


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Samstag, 3. Januar 2009

200 Jahre Waffenproduktion ...

... in Ischewsk werden mit einer kleinen Ausstellung in Poklonnaja Gora gewürdigt, von der Vitali Kusmin Bilder gemacht und in seinem Blog publiziert hat.



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In den letzten Jahren sind Fernsehsendungen in Mode gekommen, bei denen über die bedeutendste historische Persönlichkeit eines Landes abgestimmt wird. In Deutschland wurde z.B. 2003 Konrad Adenauer zum größten Deutschen gewählt, gefolgt von Martin Luther und - Karl Marx. In Portugal gab es 2007 den Skandal, daß der Diktator Salazar die Abstimmung sogar gewonnen hat; sein Kollege Franco kam in Spanien nur auf Platz 22.
Vor einer Woche sind nun die Sieger der Fernsehabstimmung "Der Name Russlands" bekanngegeben worden: Alexander Newskij auf Platz 1 (siehe auch hier), Pjotr Stolypin auf Rang 2 und Stalin auf Platz 3. Danach folgen Puschkin, Peter der Große, Lenin, Dostojewskij, Suworow, Mendelejew, Iwan der Schreckliche, Katharina II. und Alexander II.

Wie zu erwarten war, wurde von den Medien vor allem die Plazierung Stalins ausgeschlachtet, über die beiden vor ihm rangierenden Personen spricht man weniger. Sean's Russia Blog (übrigens einer der interessanten Rußlandblogs) bemerkt dazu ganz treffend:

"First, of course, is the announcement that Aleksandr Nevskii won the Name of Russia contest. An interesting choice for sure. Most reports have taken pains to point out that Stalin came in third. But what I find interesting is that no one wonders why Piotr Stolypin came in second. Perhaps understanding why this hard aristocrat, anti-democratic but competent reformer has received such recognition says something about Russia at the moment? I have a feeling he symbolizes more than just the “necktie” that snuffed out revolutionaries. But no, I guess it’s easier to jabber about Stalin since to talk about Stolypin means that journalists would have to know something beyond stereotypes about Russia’s history."
Da täuscht er sich nicht! Auch ich konnte in zahlreichen Gesprächen in Rußland während der letzten Jahre feststellen, daß Stolypin große Anerkennung findet. Wer war also dieser Mann?

Pjotr Arkadjewitsch Stolypin wurde 1862 in Dresden geboren, wo sein Vater als russischer Diplomat tätig war. Seine großbürgerlich-aristokratische Familie hatte dem Staat schon mehrere Beamte und Offiziere gestellt, weshalb es nicht überrascht, daß auch er in den Verwaltungsdienst eintrat. Bereits als Provinzgouverneur machte er durch die Unterdrückung der radikalen Umstürzler auf sich aufmerksam. Nach der Revolution von 1905 wurde er erst zum Innenminister und dann 1906 zum Premierminister des Russischen Kaiserreiches berufen.
In diesem Amt hat Stolypin - ganz ähnlich wie Bismarck in Preußen und Deutschland - eine zweigeteilte Politik betrieben: zum einen die Bekämpfung der Revolutionäre und Terroristen (was bei ihm als eingefleischtem Monarchisten nahelag), zum anderen die Reformierung des Staatswesens und der Gesellschaft, um den Radikalen so die Basis zu nehmen und eine gewaltsame Revolution, die das ganze Land ins Unglück stürzen mußte, zu verhindern. Sein Hauptaugenmerk galt hierbei den Agrarreformen. Bei den Linken galt er als hassenswerter "eiserner Premierminister", bei den Rechten hingegen als Verräter an der traditionellen Ordnung - auch insoweit Bismarck, dem "weißen Revolutionär" (Lothar Gall), nicht unähnlich.
Nachdem er 1911 seine Unterstützung seitens des Zaren Nikolaus II. und in der Duma zunehmend einbüßte, erklärte er seinen Rücktritt.
Doch mit diesem Schritt hatte sich nicht der Haß seiner Feinde gelegt. Am 14. September 1911 kam es zu einem erneuten Anschlag auf sein Leben. Ein Sozialrevolutionär hat ihn bei einem Opernbesuch in Kiew angeschossen. Nach vier Tagen erlag er schließlich seinen Verletzungen.

Was hat nun im Jahr 2008 über 523000 Russen bei einer Internetabstimmung dazu veranlaßt, für den "typischen Beamten" Stolypin zu votieren? Wie der oben zitierte Sean festgestellt hat, dürfte das mehr über das heutige Rußland aussagen als alle kleinkarierten Diskussionen über die Frage, ob Stalin nur ein schlimmer Diktator oder auch ein wichtiger Politiker gewesen sei (oder eben nicht ...).

Ich vermute, viele Russen sehen in Stolypin den Idealtyp eines Politikers und Entscheidungsträgers, der ihrem Land in der Geschichte meist gefehlt hat: sachkundig und kompetent (keine Hofschranze), jemand, der die sozialen Probleme erkennt und sie zu lösen versucht (anstatt sie kleinzureden und unter den Teppich zu kehren), aber auch ein Mann der Tat, der hart gegen (die seinerzeit linksradikalen) Terroristen und Umstürzler vorgeht (und sich nicht mit intellektuell-abstrakten Erörterungen zufrieden gibt). Mehr als einmal habe ich den Satz gehört: "Wenn Stolypin doch länger durchgehalten hätte ..." - dann wäre das Zarenreich reformiert worden und dem Land die Oktoberrevolution und das Schicksal der blutigen kommunistischen Herrschaft erspart geblieben.
Es dürften daher vor allem Angehörige der Mittelschicht gewesen sein, die für ihn gestimmt haben. Menschen, die es nach dem Ende des Kommunismus mit eigener Arbeit zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht haben. Jene sind es auch, die die gegenwärtige Staatsführung unter Medwedew und Putin tragen. Ordnung, Reformen, wirtschaftliche und bürgerliche Freiheiten - ja, gerne; Umsturz, Gewalt, Chaos, Anarchie, Unsicherheit - nein, danke: so könnte ihr Credo lauten. Und Stolypin erscheint als ein Politiker, der genau das hätte möglich machen können, aber leider zur Unzeit aus dem Amt und aus dem Leben geschieden ist. Statt einer einigermaßen "normalen" Entwicklung hin zu einer Industriegesellschaft mußte das Land deshalb das kommunistische Experiment über sich ergehen lassen.
(Nebenbei bemerkt dürfte Stolypin daher als historische Referenzfigur für Putin und Medwedew erheblich besser geeignet sein als die sehr bemüht wirkenden Vergleiche mit Stalin, Andropow oder Breshnew.)


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Donnerstag, 1. Januar 2009

Die russische Armee vor dem 1. Weltkrieg

Russia, 1898-1899. Digital ID: 443863. New York Public Library

Orlando Figes geht in seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes" auch auf den Zustand der russischen Armee zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also noch vor dem Russisch-Japanischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg, ein. Er erläutert dabei die Hintergründe dessen, was Außenstehenden oftmals nur als "Schlendrian" erschienen ist (S. 73 f.):
"Doch die Unfähigkeit hatte auch eine politische Ursache: Im späten 19. Jahrhundert hatte die Armee allmählich ihren Platz an der Spitze der Ausgabenprioritäten der Regierung verloren. Die Niederlage im Krimkrieg hatte die Streitkräfte diskreditiert und deutlich gemacht, daß dem Militär Mittel entzogen und statt dessen für die Modernisierung der Wirtschaft eingesetzt werden mußten. Das Kriegsministerium büßte seine Vorrangstellung ein, die es im Regierungssystem Nikolais I. (1825 - 1855) innegehabt hatte, und wurde vom Finanz- und vom Innenministerium verdrängt, die von diesem Zeitpunkt an den Löwenanteil der Staatsausgaben erhielten. Zwischen 1881 und 1902 fiel der Anteil der Streitkräfte am Haushalt von 30 auf 18 Prozent. Zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gab die russische Armee nur 57 Prozent der Summe aus, die in der deutschen Armee, und nur 63 Prozent der Summe, die in der österreichischen Armee auf jeden Soldaten entfiel. Das heißt, der russische Soldat zog schlechter ausgebildet, schlechter ausgestattet und schlechter versorgt in den Krieg als sein Feind. Die Armee war so knapp bei Kasse, daß sie bei Kleidung und Ernährung weitgehend auf eigenen interne Ersparnisse angewiesen war. Soldaten bauten ihre Nahrung und ihren Tabak selbst an und flickten auch selbst ihre Uniformen und Stiefel. Sie verdienten sogar Geld für das Regiment, indem sie als Saisonarbeiter auf Landgütern, in Fabriken und Kohlegruben in der Nähe ihrer Garnison arbeiteten. Viele Soldaten verbrachten mehr Zeit damit, Gemüse zu ziehen oder Stiefel zu reparieren, als zu lernen, wie sie ihre Gewehre handhaben sollten. So schuf das Zarenregime durch die Kürzung des Militärbudgets eine Armee von Landwirten und Flickschustern."

Russia, 1900. Digital ID: 443902. New York Public Library

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Russia, 1897. Digital ID: 443837. New York Public Library