Montag, 2. April 2012
Das deutsche Bild der Wahlen in Rußland
Heute, auf den Tag genau vor sechs Jahren bin ich von meinem ersten Studienaufenthalt an der Staatlichen Universität in Sankt Petersburg nach Deutschland zurückgekehrt. Es war diese erste Reise ins legendenumwobene Rußland, die mein Leben wie kaum eine andere verändert hat. Gewiß, mit dem Erlernen der Sprache hatte ich schon Jahre zuvor begonnen und auch Geschichte, Politik und Landeskunde waren mir nicht fremd, doch war mein Blick auf Land und Leute von vielen (oft typisch deutschen) Klischees geprägt gewesen. Doch dann mußte ich vor Ort feststellen, daß ein erheblicher Teil dieser Auffassungen nicht mit der Wirklichkeit überein stimmte. Das betraf nicht nur volkstümliche Klischees, sondern auch solche, die hierzulande als wissenschaftlich galten. So z.B. die These, einen "homo sovieticus" habe es nie gegeben, der "Sowjetmensch" sei ein reines Propagandaprodukt gewesen. Doch dann bin ich Menschen - auch jüngeren Alters - begegnet, deren persönliche Identität man nicht anders beschreiben konnte. Geboren in der Ukrainischen SSR in eine Familie unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Jugend in der Kasachischen SSR, Studium in der RSFSR, Arbeit in der Estnischen SSR - wie sollten sich diese Menschen anders sehen denn als Sowjetbürger?
Auch die populäre Meinung, alle Menschen in Rußland wären arm, hätten kaum etwas zu essen und würden kurz vor dem Delirium stehen, fand ich im Lande selbst nicht bestätigt. Im Gegenteil. Die meisten waren gut gekleidet und wohlgenährt, die Läden waren voll von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern und schon damals hatte fast jeder jüngere ein Mobiltelefon am Ohr. Sogar in den Vororten und auf den Dörfern gab es Handyempfang. Und es gibt auch dort Menschen, mit denen man die halbe Nacht feiern kann, ohne daß es in ein Besäufnis ausartet. Manche Ausländer sprechen dort mehr dem Alkohol zu als ihre einheimischen Gastgeber, die sich während des ganzen Abends mit einem Glas Wodka begnügen. Daß der Wohlstand der Menschen erheblich gewachsen war, ließ sich auch daran ermessen, daß immer mehr moderne Autos (oft ausländischer Provenienz) auf den Straßen zu sehen waren, während die einheimischen kantigen Ladas aus dem Straßenbild zunehmend verschwanden.
In der Folge mußte ich lernen, dem von den deutschen Mainstream-Medien vermittelten Rußlandbild mit Mißtrauen zu begegnen, wenn ich denn das Land und seine Menschen verstehen will. Anstatt also den zehnten Aufguß einer der gängigen Fernsehreportagen anzusehen, steht seither für mich die Lektüre russischsprachiger Medien im Vordergrund. Das Gebaren des deutschen Staatsfernsehens vor der Präsidentenwahl am 4. März hat mich darin bestärkt. Allen Kanäle - ARD, ZDF, 3sat, Arte und den Dritten - waren vor der Wahl mit mehr oder weniger gehaltvollen Sendungen über Rußland angefüllt. Selbst für russophil gestimmten Zuschauer war das einfach zu viel. Aber nach der Wahl, als es darum gegangen wäre, deren Ergebnisse zu analysieren, wandten sich die Sender sofort anderen Themen zu und beließen es bei einigen halbgaren Kommentaren am Wahltag.
Welcher Unsinn in den "Berichten" vor der Wahl gesendet wurde, mag man an zwei Beispielen ermessen. Da berichtete ein deutscher Reporter aus einem Dorf in der Taiga, daß es den Menschen schlimm gehe und es im Ort nicht mal mehr einen Laden gäbe. Dies sei Putins Schuld, weil er sich nicht genügend um seine Bürger kümmere. Blicken wir einmal nach Deutschland: Auch hierzulande gibt es in vielen Dörfern keinen Laden mehr, weshalb die Einwohner per Auto oder Taxi in die nächstgelegene Stadt zum Einkaufen fahren müssen. Soll daran jetzt vielleicht Angela Merkel schuld sein?
Nächster Fall: Ein Reporter besucht einen alten Mann, der sich beklagt, weil er sich nicht alle Medikamente zur Behandlung seiner schweren Krankheit leisten könne. Daran sei Putin schuld, denn dieser habe eine kostenlose Gesundheitsversorgung versprochen. Auch hier stellt sich die Frage, woher die deutschen Journalisten ihre Maßstäbe beziehen.
In Rußland ist das staatliche Gesundheitssystem für die Bürger zwar kostenlos, bietet aber natürlich nur eine Basisversorgung. Jedem Bürger steht es jedoch frei (und alle Russen, die ich kenne, machen davon Gebrauch), nach ihrem Gusto Zusatzversicherungen für alle möglichen Krankheiten abzuschließen. Dieses system ist weitaus freier und bürgerfreundlicher als das deutsche. Denn hierzulande gibt es eine gesetzlich verordnete Zwangsversicherung, die jedoch immer weniger Leistungen erbringt. D.h. zusätzlich zu den Zwangsbeiträgen müssen deutsche Patienten immer mehr Leistungen ganz oder teilweise aus eigener Tasche zahlen - und zwar ohne daß sie wesentlichen Einfluß auf die Krankenversicherungen hätten.
In der Gesamtschau ist das rußländische System bürgerfreundlicher und wahrscheinlich auch billiger. Doch eine vollständig kostenlose Gesundheitsversorgung ohne Eigenbeteiligung kann es in keinem Staat dieser Welt geben, auch wenn manche Journalisten dies nicht einsehen wollen. Die einzige Ausnahme wäre ein Staat, dessen Finanzminister über einen Dukatenesel verfügt. ;-)
Das Zusammenspiel zwischen den deutschen Medien und ihren Konsumenten ließ sich in den Blogs, Foren und Leserkommentarspalten sehr gut sehen. Die Journalisten lieferten die Steilvorlage ("alles in Rußland ist schlecht") und die Konsumenten vollendeten den Satz. Da konnte man z.B. lesen, daß das Volk in Rußland hungere und nur "Putin und seine Oligarchenfreunde" genug zu essen hätten. Alles andere seien "potjemkische Dörfer". Aha. Unsere Landsleute gieren offenbar nach Negativschlagzeilen aus Rußland. Die Realität vor Ort mitsamt ihren politischen und gesellschaftlichen Prozessen wird dabei ausgeblendet. So verwundert es auch nicht, daß aus einigen zehntausend Demonstranten, die im Winter an Kundgebungen teilgenommen haben, plötzlich "das russische Volk" wird. Zur Erinnerung: In der RF leben 142 Millionen Menschen.
In der selbsternannten "Achse des Guten" durfte sich zweimal der Schriftsteller Richard Wagner über die Präsidentenwahl verbreiten (siehe hier und hier). Schon die Auswahl des Autors überrascht. Wagner ist ein in Rumänien geborener Deutscher und hat dort Germanistik studiert, bevor er das Schreiben zu seinem Beruf gemacht hat und später in die BRD ausgewandert ist. Schon aus seiner Biographie ist nicht ersichtlich, was Wagner dazu qualifiziert, über Rußland zu schreiben. Er scheint über keinerlei überdurchschnittliche Kenntnisse von Sprache, Land und Leuten zu verfügen.
Läßt man sich als Leser auf Wagners Ergüsse ein, so wird der obige Eindruck schnell bestätigt. Profundes Wissen über Rußland ist nicht vorhanden, mithin sind auch keine neuen Erkenntnisse zu erwarten. Wagner geht es vielmehr darum, die ewigen Vorurteile des deutschen Michels zu bestätigen. Für ihn ist Rußland ein unbeachtliches Nullum - geschichts- und identitätslos, ein Wrack, das noch auf dem Meer treibt. Eine Entwicklung habe in Rußland seit Jahrhunderten nicht stattgefunden, selbst im ärmsten EU-Land seien die Menschen besser dran als in der RF usw. usf. Mit anderen Worten: Die Russen sind kulturlose Barbaren. Er könne sich nicht vorstellen, daß Amerikaner in Rußland leben. Tun sie aber, ebenso wie zehntausende Deutsche. Das nennt man Globalisierung, auch wenn dieser Begriff dem Banater Provinzpoeten nicht geläufig sein mag.
Wagners Verbalinjurien mögen in den Kreisen, die den besagten Weblog regelmäßig lesen, vielleicht gut ankommen, allerdings belegen sie: Es geht keineswegs um hehre Ideale wie "Demokratie" oder "Menschenrechte", vielmehr besteht die Motivation einfach in banalem Russenhaß. Wagners Einlassungen waren überflüssig, doch sie zeigen sehr schön, daß auch Personen, die vom Thema keine Ahnung haben, einen Text darüber schreiben können. Folglich scheint das Germanistikstudium in Rumänien nicht schlecht gewesen zu sein.
Bemerkenswert ist schließlich die Arroganz, die viele Beiträge über Rußland prägt. Die Autoren wähnen sich im Besitz der alleinigen Wahrheit und die Entwicklung der BRD oder der EU gelten ihnen als unhinterfragbares Muster, an dem sich auch die RF auszurichten habe. Dabei sollte doch gerade die seit Jahren andauernde Krise in der Europäischen Union Stoff zum Nachdenken liefern. Auch Erscheinungen im politischen Leben Deutschlands werden kaum kritisch hinterfragt. So etwa bei der jüngsten Wahl des Bundespräsidenten. Dabei waren lediglich drei Kandidaten angetreten (in der RF immerhin fünf). Der von vier Parteien unterstützte Joachim Gauck gewann im ersten Wahlgang mit 79,9 % der Stimmen. Diese Wahl soll also "demokratischer" gewesen sein als die Präsidentwahl in der RF, deren Sieger auf lediglich 63 % kam?
Bei genauerer Betrachtung ist auch die These, die "wahre Opposition" in Rußland sei "nicht-systemisch" weil nicht in den Parlamenten vertreten, unhaltbar. Auch in Deutschland gibt es zahlreiche kleine politische Gruppierungen, die nicht in den Parlamenten sitzen oder - Beispiel NPD - dort einflußlos sind. Auch hierzulande wird "das System" von einigen wenigen Parteien gestützt, die nicht recht wissen, wie sie mit "Störenfrieden" wie den Piraten umgehen sollen. Würde man die die o.g. These aus der RF auf die BRD übertragen, dann hieße das, daß nur NPD, Republikaner, ÖDP, DKP, MLPD und Bayernpartei die "wahre Opposition" darstellen, die gegen das "korrupte System" kämpft. Eine derartige Aussage über unsere politischen Verhältnisse würde wohl zumeist ein Tippen an die Stirn hervorrufen. Bezüglich Rußlands wird dieser Unsinn oft jedoch unumwunden geglaubt.
Ähnlich auch der Trend zur Bildung großer Koalitionen aus CDU und SPD. Die beiden Großparteien haben sich hinsichtlich ihrer Programmatik, Rhetorik und praktischen Politik stark aneinander angenähert und unterscheiden sich nur noch in kleinen Nuancen. Doch selbst wenn es zu keiner großen Koalition kommt, bietet die starke Ähnlichkeit von Schwarzen und Roten Gewähr dafür, daß sich in der Politik nichts wesentliches ändern wird. Mit anderen Worten: Egal wen wir wählen, die Politik, die wir bekommen, ist weitgehend die gleiche. Ich selbst halte diese Entwicklung des politischen Systems der BRD (die von den Mainstreammedien flankiert wird, indem sie Abweichler wie z.B. Sarrazin gnadenlos abschießen) weder für gut noch für nachahmenswürdig.
Aufmerksame Leser des Neuen Testaments wissen es bereits - wir Deutschen täten gut daran, unser eigenes Haus und die EU, deren Mitglied wir sind, endlich in Ordnung zu bringen und unsere eigenen Probleme, an denen es wahrlich nicht mangelt, zu lösen, anstatt anderen Staaten hochnäsige Lektionen zu erteilen. "Den Splitter, der im Auge deines Bruders ist, den siehst du; aber den Balken, der in deinem Auge ist, den siehst du nicht."
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