Donnerstag, 17. November 2011

Ein deutsch-deutscher Sportkrimi


Bei der Suche nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) stolperte ich zufällig über einen anderen Beschluß des höchsten bundesdeutschen Strafgerichts aus dem März 1961. Und das war starker Tobak. Gem. BGHSt 16, 15 wurde ein ostdeutscher Sportfunktionär in der BRD verurteilt, weil er Wettkämpfe zwischen Sportlern aus beiden deutschen Staaten angebahnt hatte. Und das, obwohl zu den Olympischen Sommer- und Winterspielen 1956, 1960 (und später 1964) noch gesamtdeutsche Mannschaften angetreten waren. Zudem hatte die Bundesregierung in ihrer Propaganda immer am Ziel der Wiedervereinigung festgehalten und betont, wie wichtig es sei, Kontakte „nach drüben“ (also in die DDR) zu unterhalten. Wie konnte es also zum o.g. Urteil des BGH kommen?

Vorgeschichte

Die in Westdeutschland seit Beginn der 1950er Jahre empfundene Bedrohung durch den Kommunismus trieb seltsame gesetzgeberische Blüten. 1951 trat das Erste Strafrechtsänderungsgesetz in Kraft, mit dem u.a. Strafvorschriften gegen Landesverrat, Hochverrat und Staatsgefährdung ins StGB eingefügt wurden. Während die beiden erstgenannten Komplexe weitgehend unstrittig waren, uferte die vermeintliche „Staatsgefährdung“ immer weiter aus und erfaßte alle möglichen Sachverhalte. Zusammen mit Maßnahmen von Verwaltungsbehörden bestand de facto ein – wohlgemerkt von westdeutscher Seite ausgehendes! – umfassendes Verbot für andere als rein private Kontakte mit der DDR. Es umfaßte sogar Publikationen aus dem Osten, als ob die Agitation des Neuen Deutschlands in der BRD auf fruchtbaren Boden hätte fallen können. Die Hexenjagd richtete sich nicht nur gegen echte Kommunisten (denen bisweilen sogar der Führerschein entzogen wurde), sondern gegen alle Bürger, die von der Regierung Adenauer als „national unzuverlässig“ eingestuft wurden (vgl. z.B. den Fall Elfes).

Nach der Lektüre von verschiedenen Urteilen des BGH sowie zeitgenössischer Medienberichte drängt sich der Eindruck auf, daß sich in den 1950er und 60er Jahren die beiden deutschen Staaten hinsichtlich ihrer politischen Strafjustiz nur graduell unterschieden haben. Das verwendete Vokabular war sich zum Verwechseln ähnlich. Im Gegensatz zur DDR brachte die BRD aber immerhin 1968 die Selbstreinigungskräfte auf, den größten Teil der StGB-Paragraphen, die der Zentralteil des vormaligen „Superstaatsschutzsystems“ gewesen waren, aufzuheben. Gründliche rechtsgeschichtliche Vergleiche dieses Themas liegen bisher übrigens nicht vor. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung umschifft die politische Justiz der Jahre 1951 bis 1968. Vielleicht will man sich dort nicht dem Vorwurf aussetzen, auch die BRD sei zeitweise eher ein Unrechtsstaat als ein Hort der Freiheit gewesen.

Der Sachverhalt

Kommen wir nun zum Fall des verurteilten Sportfunktionärs. Er war seit 1958 Kreisvorsitzender des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) in der ostdeutschen Stadt Z. Der DTSB wirkte in der DDR als Dachorganisation für verschiedenste Sportfachverbände, ähnlich dem Deutschen olympischen Sportbund heutiger Zeit. Der Mann war, natürlich im Auftrag des DTSB, im Januar und Juni 1959 zweimal in die BRD gereist, um Freundschaftsspiele zwischen ost- und westdeutschen Sportvereinen anzubahnen. Ferner hat er um Teilnehmer für das III. Deutsche Turn- und Sportfest in Leipzig geworben. Dabei hat er sich die Namen und Kontaktdaten westdeutscher Sportler und Vereine notiert, die zu solchen freundschaftlichen Begegnungen bereit waren.
Wie wurde diese Tätigkeit von der westdeutschen Justiz bewertet?

Illegale kommunistische Organisation

Nach dem 1956 erfolgten Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatten Behörden und Gerichte in der BRD einen ganzen Katalog von Organisationen entwickelt, die generell der – so wörtlich im o.g. Urteil – „kommunistischen Wühlarbeit“ bzw. „SED-Wühlarbeit“ bezichtigt wurden.
Die Argumentationskette verlief folgendermaßen: Die KPD wurde verboten und setzt ihre Tätigkeit in der Illegalität fort. Dabei wird sie von der SED in der DDR unterstützt. Damit seien SED und KPD, zumindest hinsichtlich ihrer „Westarbeit“, weitgehend identisch. Weil schließlich die Mehrzahl der gesellschaftlichen Organisationen in der DDR (einschließlich des DTSB) in irgendeiner Weise von der SED abhing, wurden auch sie in die angenommene illegale „SED-Gesamtorganisation“ eingeordnet und somit justiziell verfolgt.
Rechtsgrundlage hierfür waren die §§ 42 u. 46 BVerfGG in der damaligen Fassung. Sonach machte sich strafbar, wer eine in der BRD verbotene politische Partei fortführte.

Legaler und illegaler Sport

Zu dieser illegalen Fortsetzung der KPD zählten auch gesamtdeutsche Sportveranstaltungen. Der BGH führt dazu aus:
"[…]

Freilich ist das Vereinbaren von Wettkämpfen zwischen Sportlern der Bundesrepublik und der Sowjetzone für sich allein weder verboten noch strafbar. Wenn dadurch aber die staats- und verfassungsfeindlichen Bestrebungen der SED gegen die Bundesrepublik gefördert werden sollen, dann besteht kein rechtlich bedeutsamer Unterschied zu anderen Methoden der kommunistischen Wühlarbeit.

[…]" (BGHSt 16, 15 [18])
Das Gericht meinte weiter, daß es „in der sog. DDR“ keine Trennung von Sport und Politik gäbe. Ergo: Sport = DTSB = SED = KPD = Staats- und Verfassungsfeinde = Wühlarbeit in der BRD. Damit war praktisch jegliche Zusammenarbeit mit ostdeutschen Sportvereinen und -verbänden für Westdeutsche verboten, wenn sie sich nicht dem Verdacht der „Staatsgefährdung“ aussetzen wollten.
Der BGH unterstellte, daß es den ostdeutschen Sportlern nicht um den Sport gegangen wäre, sondern um eine Unterminierung und Destabilisierung der inneren Ordnung der Bundesrepublik. Ein Vorwurf, der nicht erst heute, sondern bereits damals absurd anmutete. Als ob ein paar westdeutsche Sportler infolge eines Freundschaftsspiels zu begeisterten Revolutionären geworden wären.

Ebenso seltsam ist es, daß einem ostdeutschen Sportfunktionär vorgeworfen wurde, seine Tätigkeit diene hauptsächlich dem Zweck der „Wühlarbeit“ in der BRD. Denn zum damaligen Zeitpunkt mußten noch gesamtdeutsche Olympiamannschaften aufgestellt werden. Deshalb war eine Zusammenarbeit von Bundesbürgern mit dem DTSB unvermeidbar. Hätte der BGH seine Rechtsprechung durchgehalten, dann wären auch diese Kontakte durchweg strafwürdig gewesen. Wahrscheinlich hat man jedoch für die staatlich anerkannten Sportorganisationen der BRD eine Ausnahme gemacht.
Bei einzelnen Sportlern waren die Gerichte jedoch nicht zimperlich, wenn sie „von sich aus, ohne Einschaltung von Spitzenorganisationen des Sports in der Bundesrepublik, auf Veranlassung sowjetzonaler Funktionäre zu Veranstaltungen in die Sowjetzone reisen“ (BGHSt 16, 15 [17]). Noch in den 60er Jahren wurde ein westdeutscher Leichtathlet in erster Instanz wegen Zuwiderhandlung gegen das KPD-Verbotsurteil und „Geheimbündelei“ (§ 128 StGB a.F.) zu sechs Monaten Haft verurteilt.

Somit galt die vom BGH eingangs konzedierte Straffreiheit für gesamtdeutsche Sportkontakte nur sehr eingeschränkt für solche Sportler und Funktionäre der BRD, die mit Zustimmung der Bundesregierung tätig wurden. Ansonsten mußte mit Strafverfolgung gerechnet werden.

„Verfassungsfeindlicher Nachrichtendienst“

Der eingangs erwähnte DTSB-Funktionär wurde außerdem nach § 92 StGB a.F. verurteilt. Was sich zunächst gefährlich nach Geheimnis- oder Landesverrat anhören mag, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein nahezu uferloser Straftatbestand, der faktisch wie ein Einreiseverbot für politisch engagierte DDR-Bürger wirkte. Denn jegliches Sammeln von Informationen „über Verwaltungen, Dienststellen, Betriebe, […] Vereinigungen oder Personen“ in der BRD sollte mit Gefängnis bestraft werden, wenn es im Auftrag einer Dienststelle, Partei oder Vereinigung außerhalb der BRD erfolgte und mit der Absicht verbunden war, die verfassungsmäßige Ordnung zumindest zu untergraben oder eine solche Bestrebung zu fördern.

Dabei kam es, wie der BGH mehrfach betonte, nicht darauf an, ob es sich bei den gesammelten Informationen um amtliche Geheimnisse o.ä. gehandelt hat. Auch allgemein bekannte oder freiwillig angegebene Daten wurden von § 92 erfaßt. Im oben diskutierten Fall bestand der „verfassungsfeindliche Nachrichtendienst“ lediglich darin, daß der Sportfunktionär sich die Namen und Adressen westdeutscher Sportler aufgeschrieben hatte, die an gesamtdeutschen Sportveranstaltungen teilnehmen wollten. Also keine Spionage, keine Geheimdiensttätigkeit oder sonstiges – nur Sportkontakte auf unterer Ebene, die in der paranoid anmutenden Stimmung des Kalten Krieges für verderblich erachtet wurden.

Noch 1966 verurteilte das OLG Düsseldorf drei Angeklagte, weil sie verfassungsfeindliche Beziehungen zum DTSB unterhalten und durch die Herausgabe einer Sportzeitschrift das KPD-Verbotsurteil verletzt hätten. Auch hier stellte das Gericht explizit fest, daß der Inhalt der Zeitschrift an sich nicht strafbar war. Strafwürdig wäre allein ihre positive Berichterstattung über den DTSB und die Teilnahme der Angeklagten an Sportveranstaltungen in der DDR.

Das Ende der Hexenjagd

Die Verfolgung tatsächlicher und vermeintlicher Kommunisten und ihrer „Helferhelfer“ kam Mitte der 1960er Jahre immer stärker unter Druck. Erstaunlicherweise spielte auch hier der Sport eine entscheidende Rolle. Nachdem 1966 die Olympischen Spiele 1972 an München vergeben worden waren, erhob sich die Frage, wie man mit den zu diesem Zweck in die BRD einreisenden DDR-Sportler verfahren sollte. Sie gehörten, ebenso wie Trainer und Funktionäre, mittelbar oder unmittelbar dem DTSB an. Mithin hätten sie sich bei ihrer Teilnahme an der Olympiade dem Risiko der Strafverfolgung aussetzen müssen.

Nach längerer Kritik am Ausufern der politischen Strafjustiz, der auch zahlreiche Nichtkommunisten zum Opfer fielen, konnte sich nun der westdeutsche Gesetzgeber endlich dazu durchringen, die problematischen Bestimmungen über „Staatsgefährdung“ aus dem StGB zu streichen. Am 25. Juni 1968 trat das Achte Strafrechtsänderungsgesetz in Kraft, obwohl Teile der CDU/CSU bis zum Schluß dagegen waren.


Bibliographie

von Brünneck, Alexander: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Frankfurt/Main 1978

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, Bd. 16, Köln/Berlin 1962
(zit. als BGHSt 16)

Pauli, Gerhard: Über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Staatsschutzsachen gegen Kommunisten im System der politischen Justiz bis 1968,
in: Justizministerium NRW (Hrsg.): Politische Strafjustiz 1951-1968 – Betriebsunfall oder Symptom?, Recklinghausen/Geldern 1998, S. 97 ff.

Posser, Diether: Anwalt im Kalten Krieg, München 1991



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Foto: Bundesarchiv.

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