Montag, 25. Oktober 2010

Der deutsche Rußland-Komplex

In Gerd Koenens Studie "Der Russland-Komplex - Die Deutschen und der Osten 1900-1945" geht es weniger um die Geschichte der beiden Staaten als solche, sondern um die gegenseitigen Wahrnehmungen. Dabei ist Koenens Abhandlung nicht nur von historischem Interesse. Wenn man die aktuelle Rußlandberichterstattung deutscher Medien verstehen will, die bisweilen nur einen selektiven Bezug zur Realität hat und stattdessen von den verschiedensten Vorurteilen geprägt ist, dann sollte man dieses Buch gelesen haben. Bestimmte Fehler sollte man nicht zweimal machen, auch wenn manche der hierzulande einflußreichen "Experten" dazu neigen, das Rußland des Jahres 2010 mit den Stereotypen des Jahres 1914 zu deuten.

Welche - z.T. höchst irrationalen - Hoffnungen, Ängste und Aversionen haben die Deutschen im 20. Jahrhundert in bezug auf Rußland bzw. die Sowjetunion entwickelt? Warum waren russische Literatur, Philosophie und Kunst gerade hier in der ersten Hälfte des 20. Jh. so einflußreich wie nie zuvor oder danach, während andererseits weitreichende Kolonisationspläne für den "Ostraum" gesponnen wurden? Koenen gibt darauf fundierte Antworten, bleibt dabei aber erfreulich fair und unideologisch. Kurzum: Dieses Buch ist ein hervorragender Streifzug drch die deutsche Geistesgeschichte und somit ein "must-read" für alle, die sich für die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen interessieren.
(Der Titel ist auch im Online-Angebot von Google Books zu finden.)

Einen gänzlich anderen, mehr populärwissenschaftlichen Charakter trägt der zweite heute anzuzeigende Titel: "Die glücklichen Jahre - Deutschland und Rußland" von Dieter Cycon (Herford u.a. 1991). Dieses Buch ist kurz nach der deutschen Wiedervereinigung erschienen und soll, so die Intention des Autors, die Deutschen an die guten Beziehungen zwischen Preußen und dem Deutschen Reich auf der einen und Rußland auf der anderen Seite erinnern - ein Wissen, welches seit 1914 verschüttet war. Cycon möchte an diese positive Seite der Geschichte anknüpfen und so das gegenseitige Verständnis stimulieren, war der ewige Feind doch plötzlich zum anerkannten Partner geworden. Eine gute Absicht, doch dürften seine historischen Berichte eher ein altkonservatives Publikum (so wie mich ;-)) ansprechen, sonst aber oft ungehört verhallen.

Die behandelte Zeitspanne reicht vom 17. Jahrhundert bis gegen 1890, als Bismarcks Kanzlerschaft zuende ging. Das von Cycon ausgebreitete Material hat es in sich. Die ins Zarenreich eingewanderten Deutschen besetzten überdurchschnittlich oft Schlüsselpositionen in Verwaltung, Armee und Wirtschaft. Bei den Verhandlungen von Tauroggen 1812 war z.B. kein einziger Russe anwesend. Dazu kamen die verwandtschaftlichen Beziehungen der Romanow-Dynastie zum deutschen Adel, auf die der Autor - neben diplomatiegeschichtlichen Aspekten - ebenfalls detailliert eingeht. Trotz aller politischen Divergenzen und Interessengegensätze - die immer einmal auftreten können -, war das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland grundsätzlich positiv. Und die Deutschen haben in Rußland selbst viele positive Spuren hinterlassen (wovon nicht zuletzt die russische Sprache mit ihren aus dem Deutschen entlehnten Wörtern zeugt). Der Autor vermittelt seinen Lesern auch das nötige Hintergrundwissen, etwa hinsichtlich der polnischen Geschichte.

Es war eine der Tragödien des 20. Jahrhunderts, daß sich beide Völker oftmals in einem fast unversöhnlichem Gegensatz befunden haben. Heute scheint dies überwunden, was u.a. durch das Engagement deutscher Unternehmen in der RF (und vice versa!) belegt wird. Dennoch scheint es bei einem Teil unserer Landsleute (und der politischen Klasse) eine eigentümliche Mischung aus Angst, Minderwertigkeitskomplexen und Großmannssucht zu geben, die sich gerade gegenüber Rußland immer wieder negativ äußert. Die Lektüre der beiden soeben vorgestellten Werke könnte dazu beitragen, uns über unser eigenes Rußlandbild und dessen geschichtliche Grundlagen klar zu werden.


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