Sonntag, 30. Oktober 2011

Soldatentum und Schützenwesen in Polen


Wer als Deutscher nach Polen reist und nicht nur teilnahmsloser Tourist bleibt, dem fällt bald auf, daß dort – ganz anders als hierzulande – alles militärische in hohem Ansehen steht. Das ist weitaus mehr als bloßer Patriotismus oder eine der Clausewitzschen Lehre entsprechende Wertschätzung. Man gewinnt den Eindruck, daß der Dienst in Uniform an sich verehrt wird – unabhängig von den politischen Implikationen dieses Dienstes. Das sah schon der Berliner Beobachter Crato im Jahr 1926 so:
„[…]

Der polnische Volksmund bezeichnet als Sehnsucht jedes jungen Polen „ein Pferd und einen Säbel“. Das darf uns nicht verführen, diese militärische Leidenschaft als Spielerei zu nehmen. Der Wehrgedanke hat im polnischen Volk eine weite und tiefe Resonanz, der es nicht an geschichtlichen Gründen fehlt.

[…]“ (F. Crato, a.a.O., S. 23)


Gewiß, es finden sich immer pseudopolitische Formeln wie „Für eure und unsere Freiheit“, mit der polnische Soldaten (heute würde man vielleicht sagen: Söldner) in den zahlreichen europäischen Revolutionen und Kriegen des 19. Jahrhunderts gekämpft haben. Doch darf nicht übersehen werden, daß die politischen Folgen dieser Engagements für das dreimal geteilte und letztlich von der Landkarte verschwundene Polen gleich Null waren. Dasselbe gilt für die diversen polnischen Formationen, die im zweiten Weltkrieg in den Armeen der Westmächte kämpften. Nicht sie haben ihr Heimatland befreit, sondern die in der Sowjetunion aufgestellten polnischen Verbände zusammen mit der Roten Armee. Doch diese Vergeblichkeit ihres Tuns tut der Verehrung für die zumeist in britischer Uniform kämpfenden Polen keinen Abbruch.



Der Schriftsteller Jerzy Putrament hat dieses Phänomen in einem seiner Romane literarisch verarbeitet. Ende August 1939 reflektiert Henryk Dab-Friedeberg - ein im Dienst ergrauter polnischer Brigadegeneral mit jüdischen Wurzeln - über die Anfänge seiner politischen und militärischen Laufbahn vor dem ersten Weltkrieg:
„[…]

Ja, und das Soldatentum. Friedeberg war es, als hätte er endlich seinen Daseinszweck gefunden. Natürlich, nicht die Religiosität, nicht die Revolution, das Soldatentum, das war Polen. In den seltenen Augenblicken der Besinnung sagte er sich: Wenn es irgend etwas gibt, worin sich der polnische Nationalcharakter verkörpert, dann ist es das Wort: Soldat. Der Pole braucht nur einen guten Kommandeur, dann ist er zu jeder Stunde bereit, in jeder Gefahr, auch in der ersten besten. Dann sind sogar die scharfen Kanten seiner angeborenen Händelsucht zu etwas nütze, bei kleinen, aber riskanten Aufklärungs- und Diversionseinsätzen zum Beispiel.

Schon in den ersten Tagen gelang es ihm, auf eine der Schulen zu kommen, die da und dort eingerichtet wurden. Andächtig streichelte er den vom Schmutz braungebeizten Kolben des österreichischen Karabiners, den irgendwelche militärischen Instanzen ihnen für die Schießausbildung besorgt hatten. In den Nächten hockte er über allen möglichen Dienstvorschriften und war auch bald ein mustergültiger Aspirant auf das Leutnantssternchen. Er bekam es 1914, gewissermaßen als Weihnachtssternchen, nach dem ersten Streifzug in die Gegend von Kielce, nach frischfröhlichen Scharmützeln, ermüdenden Märschen, Verfolgungen und Rückzügen.

[…]“ (J. Putrament: September, Berlin 1959, S. 171 f.)


In diesem kurzen Zitat stecken viele Hinweise auf militärische und paramilitärische Formationen der jüngeren polnischen Geschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich vor allem im österreichischen Teilungsgebiet verschiedene patriotische Verbände gebildet. Insbesondere sind hier der Schützenverband „Strzelec” (dt.: Schütze, gegr. 1910), die Polnischen Schützenabteilungen (gegr. 1911) und die Turnerschaft „Sokół” (dt.: Falke, gegr. 1867) zu nennen. In diesen Vereinigungen wurde nicht nur der vaterländische Geist gepflegt und es wurde auch nicht nur Turn- und Schießsport betrieben, sondern auch Wehrsport bis hin zu handfestem militärischen Training. In den Verbänden herrschte z.T ein strenges Regiment und eine hierarchische Ordnung. Das Ziel war, den Keim für eine neue polnische Armee zu legen; die politische Leitung sah man in der – geheimen – Vereinigung für den aktiven Kampf.

Dabei erfreuten sie sich der Unterstützung der k.u.k. Behörden. Denn einer der maßgeblichen Initiatoren – Józef Piłsudski – sah in Österreich-Ungarn (und später auch im Deutschen Reich) die Mächte, deren Unterstützung sich die polnische Nationalbewegung sichern mußte. Dahinter stand die Idee, zuerst gegen das Zarenreich zu kämpfen und das östliche Teilungsgebiet zu befreien und danach gegen die Mittelmächte zu ziehen, um ihnen ihre Teile des polnischen Kuchens zu entreißen. Damit war Pilsudski politischer geworden, nachdem seine bisherigen Konzepte einer sozialistischen Revolution vor allem in ordinären Bank- und Eisenbahnüberfällen gemündet hatten.
Die Österreicher waren einem solchen Zweckbündnis nicht abgeneigt, ermöglichte es ihnen doch im Kriegsfall die Mobilisierung polnischer Hilfstruppen gegen Rußland. Mithin lieferten sie Waffen und Munition an die Verbände und erlaubten deren Sport- und Ausbildungsaktivitäten. Letztere reichten bis zur förmlichen Offiziers- und Unteroffiziersausbildung.



Die jahrelange Arbeit sollte im Sommer 1914 Früchte tragen. Anfang August unterstellten sich Pilsudski, der bislang nur die Organisation „Strzelec” geleitet hatte, auch die übrigen Wehrverbände. Aus diesem Bestand wurde die 1. Kaderkompanie formiert, die zum Kern der Polnischen Legionen werden sollte. Am 6. August 1914 marschierte diese Kompanie aus Krakow (dt.: Krakau) ab – ein noch heute fast mythischer Akt, war es doch nach Jahrzehnten das erste öffentliche Auftreten einer regulären polnischen Militäreinheit. Die Truppenteile der Legion bewährten sich sodann auf seiten der Mittelmächte an der Ostfront. Bis 1915 konnten sie zusammen mit deutschen und österreichischen Truppen einen Großteil von Russisch-Polen erobern; Warschau fiel im August 1915 in die Hände der Mittelmächte.

Im Jahr 1916 zählten die Polnischen Legionen rund 25.000 Mann. Sie wurden, wie schon ihre paramilitärischen Vorgänger, zur politischen Kaderschmiede für die spätere Zweite Republik. Pilsudski, Edward Rydz-Śmigły, Władysław Sikorski, Kazimierz Sosnkowski, Józef Beck und Władysław Raczkiewicz – all ihre Namen spielen in der polnischen Politik der Jahre 1918 ff. eine bedeutende Rolle. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß das militärfachliche Wissen vieler Offiziere eher gering war. Dafür zählte die patriotische Gesinnung. Das traf auch für den Chef Pilsudski zu, der sich selbst zeitlebens eher als Politiker denn als Militär sah.
Dennoch war es den Legionen, ihren „zivilen“ Vorläufern und den ab 1916 gebildeten Einheiten der „Polnischen Wehrmacht“ gelungen, den polnischen Staat neu zu errichten und ihn wieder auf die Landkarte Europas zu setzen.



Auch in den Geburtswehen dieses neuen politischen Gebildes nach dem 1. WK spielten paramilitärische Verbände neben den regulären Streit- und Sicherheitskräften eine wichtige Rolle. Sie waren es, die die Aufstände in Posen/Großpolen und Oberschlesien trugen.
Nachdem sich das neue Staatswesen dann eingerichtet hatte, fiel ihnen – wie in anderen europäischen Staaten auch – vor allem die Aufgabe einer vormilitärischen Ausbildung der Jugend sowie eine öffentliche Tätigkeit im Sinne der Wehrhaftmachung der Bevölkerung zu.

An Organisationen aus der Zwischenkriegszeit sind beispielhaft zu nennen: die Liga für Gas- und Luftschutz (LOPP), die Organisation PKW und der Schützenverband „Strzelec”. Letzterer vertrat Polen in den 1920er Jahren sogar im internationalen Schießsportverband UIT, bis 1933 mit dem PZSS ein dezidierter nationaler Sportverband gegründet wurde. Des weiteren wurden Schüler, Pfadfinder und Studenten vormilitärisch geschult; außerdem existierten mehrere Kadettenkorps.



Als im September 1939 der zweite Weltkrieg ausbrach, bewährte sich diese Arbeit. Allerdings weniger im Sinne eines Überlebens der Strukturen an sich (die meisten wurden von den Besatzern zerschlagen), sondern im Sinne der Vorbereitung der Bevölkerung. Darum war es möglich, politische und militärische Untergrundarbeit zu leisten, die Heimatarmee, die Volksgarde und andere Partisanenformationen zu bilden und schließlich 1944 den Warschauer Aufstand zu starten. (Dieser Aufstand zeigt aber auch, allen späteren Mythologisierungen zum Trotz, wie begrenzt der politische und militärische Horizont seiner Anführer war. Patriotismus, Schießfertigkeit, Mut und Heldentum allein genügen eben nicht, um in größerem Maßstab erfolgreich zu sein.)

Das dahinterstehende Ideal des breiten Volkswiderstandes ist bereits in Artikel XI der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791 angedeutet worden:
„[…]

Die Nation ist es sich selbst schuldig, sich gegen Überfälle zu vertheidigen, und ihre Unverletzlichkeit zu bewahren; folglich sind alle Bürger Vertheidiger der Unverletzlichkeit und Freiheit der Nation. Die Armee ist nichts anders, als eine aus der Gesammtmacht der Nation gezogene, bewaffnete und geordnete Macht. Die Nation ist ihrer Armee dafür, daß sie sich einzig und allein ihrer Vertheidigung weihet, Belohnung und Achtung schuldig.

[…]“


Nach der Befreiung der ersten Teile Polens von der deutschen Besatzung wurde bereits im August 1944 in Siedlce die Gesellschaft der Freunde der Soldaten (Abk.: TPŻ) gegründet. Ihr oblagen zunächst soziale Aufgaben zur Betreuung der kämpfenden Soldaten, dann trat die vormilitärische Ausbildung der Jugend hinzu. 1950 wurde die TPZ in Liga der Freunde der Soldaten (LPŻ) umbenannt. Zusätzlich zum Wehrsport hatte sie auch Aufgaben im Rahmen des Zivilschutzes zu erfüllen. Im Jahr 1962 wurde aus der LPZ schließlich die Liga für Landesverteidigung (poln.: Liga Obrony Kraju, LOK) gebildet, die man hinsichtlich ihrer Organisation und Tätigkeit am besten mit der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) der DDR vergleichen kann.



Die LOK existiert, allen politischen Umbrüchen zum Trotz, bis heute, obgleich ab Mitte der 1990er Jahre ein starker Mitgliederschwund zu verzeichnen war. Insbesondere fungiert sie nach wie vor als Dachverband für verschiedene „Wehr”-Sportarten: Segeln/Seesport, Sportschießen, Amateurfunk, Modellbau/-sport, Tauchen, Motorsport. Ferner ist sie für die Reservistenarbeit zuständig und fungiert als flächendeckend vertretene Fahrschule. Derzeit hat die Liga etwa 131.000 Mitglieder (davon etwa die Hälfte Jugendliche) in 4.600 Klubs und Zirkeln. Diese Organisationseinheiten können überall existieren: an Schulen, Betrieben, Behörden oder auch als ganz normale Vereine, wie sie auch aus Deutschland bekannt sind. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Organsiationsformen besteht darin, daß die Zirkel keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzen, also stärker von der Mutterorgansiation abhängen als die Klubs.

Die mit Abstand am häufigsten in der LOK betriebene Sportart ist mit Sicherheit der Schießsport. Dabei ergibt sich eine eigentümliche Doppelung mit dem Polnischen Schießsportverband (PZSS), der das Land in der ISSF vertritt. Die meisten der 100 Schützenklubs der LOK sind zugleich Mitglied im PZSS und können somit ganz normal bei Meisterschaften etc. starten. Die weitaus zahlreicheren Zirkel, in denen ebenfalls sportlich geschossen wird (meist nur mit Druckluftwaffen), sind davon jedoch ausgeschlossen. Deshalb veranstaltet die LOK alljährlich eine eigene nationale Meisterschaft für ihre Mitglieder, bei der jedoch auch Gäste zugelassen sind.
Viele bekannte polnische Sportschützen sind durch die Schule der LOK bzw. der LPZ gegangen, auch wenn sie später als Profis Armee- oder Polizeisportklubs angehört haben.



Nach der politischen Wende, die in Polen schon im Frühjahr 1989 eingeleitet worden war, wurden auch Nachfolgeorganisationen des Schützenverbandes „Strzelec” gegründet. Heute gibt es derer drei (1, 2, 3). Bei ihnen geht es deutlich straffer zu als in der LOK, sie sind in der Tat paramilitärisch zu nennen. Die eiegntlich zivilen Sportarten, die bei der LOK im Zentrum stehen, kommen bei ihnen nur am Rande vor. Und sie vermitteln ihren Mitgliedern eine stramm nationale Ideologie mit klerikalen und antikommunistischen Einsprengseln. Das führt zu einer gewissen Nähe zu politischen Kräften wie der Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Demgegenüber will die LOK zwar ebenfalls den Patriotismus ihrer Mitglieder stärken, ist insoweit jedoch zurückhaltender und eher um parteipolitische Neutralität bemüht.



An Wehrorganisationen ist ferner die im Jahr 2000 (wieder-) gegründete Akademische Liga (poln.: Legia Akademicka) zu nennen, die sich an mindestens zwei Universitäten um die militärische Schulung ihrer studierenden Mitglieder kümmert. Außerdem darf man die im ganzen Land vertretenen Pfadfinder nicht vergessen, die oft ebenfalls Wehrsport betreiben, bisweilen gemeinsam mit der LOK.

Überhaupt werden alle Schüler im Rahmen des regulären Wehrkundeunterrichtes (poln.: Przysposobienie obronne) mit militärischem Grundwissen vertraut gemacht. Zudem werden seit Jahren an immer mehr Schulen Militärklassen eingerichtet (poln.: klasa wojskowa). Zunehmend wird deren Profil auch auf die anderen „uniformierten Dienste“ wie Polizei und Feuerwehr erweitert (auf Polnisch nennen sich diese dann klasy mundurowe - uniformierte Klassen). (Der Trend zu Kadettenschulen ist übrigens in ganz Osteuropa zu verzeichnen, besonders auch in Rußland.)



Allen Organisationen gemeinsam ist erstens das Prinzip der Freiwilligkeit (niemand muß in ihnen Mitglied werden) und zweitens das Bemühen um eine Stärkung der Landesverteidigung. Im Gegenzug unterstützt das Verteidigungsministerium ihre Aktivitäten auf vielfältige Weise, allerdings nicht mehr so intensiv wie vor 1989.

Besonders hervorzuheben ist die Bildung der Nationalen Reservekräfte (poln.: Narodowe Siły Rezerwowe, vgl. hier und hier). Nachdem 2010 in Polen die Wehrpflicht ausgelaufen ist, ergibt sich nun das Problem, für eine minimale Vorbildung neuer Reservisten für die eigentliche Landesverteidigung zu sorgen. Als Ergänzung zur Berufsarmee wurden die NSR gegründet. Zur Auffüllung dieser Kräfte (die im übrigen als besoldete Teilzeitsoldaten gelten) wurde nicht nur eine breitangelegte Werbekampagne gestartet, in der an den Patriotismus und den soldatischen Sinn der Polen appelliert wird. Die Armee geht insbesondere auf Organisationen wie die LOK und Strzelec, aber auch auf Paintball- und Airsoftgruppen u.ä. zu, um deren Mitglieder zu einem Dienst in der Reserve zu motivieren.



Damit wird an eine Entwicklung angeknüpft, die vor einhundert Jahren begann. Die zahlreichen paramilitärischen Organsiationen in Polen sind wieder zu einer wertvollen Stütze der Landesverteidigung geworden. Ihre Geschichte, die soeben dargestellt wurde, verdeutlicht zudem, daß die „Symbiose aus Sport und Kriegsvorbereitung“ (Henning Borggräfe) nicht nur im „militaristischen“ Deutschland der 1920er und 30er Jahre, sondern in vielen Staaten Europas in der Vergangenheit als erstrebenswert galt und auch heute noch gilt. Der oft unpolitische und von vielen Irrationalismen getragene deutsche Pazifismus mit seiner Ablehnung aller Erscheinungen, die auch nur entfernt mit dem Militär zu tun haben, ist weder der Königsweg (selbst wenn viele Deutsche dies glauben mögen), noch ist er in Europa konsensfähig.



Bibliographie

Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens, Ditzingen 2003

Böhm, Tadeusz: Od skautingu do Harcerskiego Pogotowia Wojennogo w Wielkopolsce (1912-1945), Poznan 2009

Crato, Fritz: Polen, in: Militärische Schulung der Jugend im Ausland, Süddeutsche Monatshefte Nr. 7 (April 1926), S. 23 ff.

Historia LOK

Historia Powiatowej Organizacji LOK w Opolu Lubelskim

Schulz, Eckart: Besuch bei Anna und Josef, in: Visier 7/1977, S. 3 ff.

Sienkiewicz, Witold: Bojowo i lirycznie - Legiony Pilsudskiego, Warszawa 2010




Verwandte Beiträge:
Söldner oder Bürger in Uniform?
Schützenvereine im Dritten Reich
Neue Auslandserfahrungen
Erholung wirkt leistungssteigernd
Ein Schießstand als Standortvorteil
So sieht Werbung in Polen aus
Zivilisten spielen mit Panzern
15.07.2009: Bilder des Tages
06.04.2009: Video des Tages
22.03.2009: Bilder des Tages
Der Schießstand in Mytischtschi

Fotos: www.lok.przemysl.pl, www.kskolobrzeg.za.pl, www.zsku.rzeszow.pl, www.nac.gov.pl u.a.

Samstag, 22. Oktober 2011

Hochmut kommt vor dem Fall


Im November 1988 geschah in der DDR etwas unerhörtes, von dem man zuvor geglaubt hatte, dergleichen wäre unmöglich: Die sowjetische Zeitschrift Sputnik wurde aus dem Postzeitungsvertrieb genommen und damit de facto verboten. Bereits 1987 war das Magazin von der Abonnementliste gestrichen worden und somit nur noch an Kiosken erhältlich. Sputnik war ein Digest, der Artikel aus verschiedenen sowjetischen Periodika in deutscher Sprache wiedergab, wobei das Spektrum von ernsten Themen wie Geschichte und Kultur bis zu Kochrezepten und Reiseberichten reichte. Auch gegen andere sowjetische Medien, z.B. die Zeitschrift Neue Zeit, von der mehrere Ausgaben in der DDR nicht ausgeliefert werden durften, ging die SED seit Mitte der 80er Jahre vor. Ebenso wurden sowjetische Filme, die nicht linientreu genug waren, verboten.

Grund des Mißtrauens in Ostberlin waren Beiträge über Michail Gorbatschows Reformpolitik, die unter den Schlagworten „Glasnost“ und „Perestrojka“ lief. Konkreter Anlaß waren Artikel über bis dahin verschwiegene Verbrechen während der Stalin-Ära, über die nun in der Sowjetunion gesprochen werden durfte. (Die Historikerin Katja Kuhn hat den Fall in ihrer Dissertation dokumentiert; vgl. auch G. Holzweißig: Die schärfste Waffe der Partei, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 147 ff. Es gehört zur Tragik der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, daß sich ihre Funktionäre Ende der 1980er Jahre auf die Seite der SED stellten und somit die vielbeschworene Freundschaft zur SU noch selektiver wurde als zuvor.)

Doch das sah die ostdeutsche Staats- und Parteiführung anders. Eine Verleumdung der UdSSR und eine verzerrende Darstellung ihrer Geschichte dürfe nicht hingenommen werden. Man müsse den DDR-Bürgern ein sauberes Bild der Sowjetunion zeigen, d.h. es sollte im Sinne der SED geschönt werden. Keinesfalls durften z.B. Fragen nach dem Schicksal deutscher Kommunisten gestellt werden, die während ihres Exils in der SU „verschwunden“, also den stalinschen Säuberungen zum Opfer gefallen sind. Dies hätte zwangsläufig auch die Frage nach sich gezogen, weshalb andere wie etwa Walter Ulbricht insofern keine Probleme hatten.

Mit anderen Worten: Die „orthodoxen“ Genossen in Ostberlin meinten, daß der „große Bruder“ seit Gorbatschows Amtsantritt vom rechten Kurs und der reinen Lehre abgekommen sei. Dies steigerte zugleich ihr Selbstbewußtsein gegenüber der SU. Man glaubte, die ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme, die mit Glasnost und Perestrojka angegangen werden sollten, wären auf die UdSSR beschränkt. Hingegen sei der Sozialismus in der DDR weitaus besser aufgestellt; Grund zur Sorge und für Reformen bestehe nicht, denn alles sei in bester Ordnung. Ausdruck dessen war der arrogante Satz Kurt Hagers aus dem Jahre 1987, daß man seine Wohnung nicht renovieren müsse, weil der Nachbar dies tue. Oder, wie Erich Honecker ganz optimistisch meinte: „Den Sozialismus [in der DDR] in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“.

In der Folge trat ein Hochmut zu Tage, der in der DDR-Führung latent immer vorhanden war. (Schon Ulbricht hatte gelegentlich gegenüber Chruschtschow einen belehrenden, fordernden und überheblichen Ton angeschlagen, sah er sich doch als Parteiveteran.) Zugleich konnte und wollte man die eigene Propaganda nicht über Nacht umstellen, hieß es doch bisher vollmundig: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“. Mithin wurde versucht, den Ostdeutschen nur noch ganz bestimmte Informationen aus der UdSSR zukommen zu lassen, um ihnen so das Wunschbild von Honecker & Co. zu vermitteln. Dazu zählte die negative Darstellung der Reformpolitik, verbunden mit einer starken Betonung der damit einhergehenden Wirtschaftsprobleme. Ferner wurden etwa neuere Erkenntnisse sowjetischer Historiker verschwiegen, wenn sie der SED nicht paßten.

Somit war die DDR bei den klassischen Methoden der deutschen Rußlandberichterstattung angekommen, die in allen politischen Systemen – auch heute – funktionieren. Selektive Informationsauswahl durch Überbetonung von negativen Ereignissen und Verschweigen von „unpassenden“ Nachrichten, verbunden mit (typisch deutschen?) Überlegenheitsgefühlen und dem Bedürfnis, den anderen zu belehren und ihm z.B. vorzuschreiben, wie er seine eigene Geschichte zu sehen hat. Maßgeblich für eine derartige Informationspolitik waren (und sind) innenpolitische Bedürfnisse, für die ein ganz bestimmtes Bild vom anderen benötigt wird, das nicht zwingend etwas mit der Realität in dem fremden Land zu tun haben muß.

Deshalb überrascht es mich nicht, daß einer der deutschen Journalisten, die mit am eifrigsten an einem negativen Rußlandbild werkeln, seine Karriere als Moskaukorrespondent in der späten DDR begonnen hat. Die Rede ist von Manfred Quiring, dessen Vita ein beachtliches Maß an Anpassungsfähigkeit zeigt. Geboren 1948, von 1969 bis 1973 Studium an der Uni Leipzig, der Kaderschmiede des DDR-Journalismus, von 1982 bis 1987 und 1991 bis 1995 Moskau-Korrespondent der Berliner Zeitung, danach Wechsel zu Springer und für dessen Zeitungen seit 2002 wieder in Rußland tätig.

Jahrelang habe ich mich gefragt, was einen DDR-Journalisten zu solch russophoben Tiraden bringt, wie sie Quiring regelmäßig in der Welt zum besten gibt. Es dürfte nicht nur die Vorgabe seines Verlages sein, die ihn zu seinen negativen Texten treibt. Denn bereits sein erster Aufenthalt in Moskau fiel in eine Zeit, als auch in der DDR das traditionell (und oft übermäßig) positive Bild der Sowjetunion schlechter wurde. Es bliebe noch zu untersuchen, wie Quiring in den 80er Jahren über die SU geschrieben hat. Ich vermute jedoch, er mußte sich nach der „Wende“ nicht allzu sehr wandeln. Damals war der Sozialismus in der DDR dem in der UdSSR überlegen, heute ist es der deutsche Kapitalismus gegenüber dem in der RF.


Verwandte Beiträge:
Sensation: Ein selbstkritischer Journalist
Der deutsche Rußland-Komplex
Deutsche Debatten und die Russen
Neulich im Dussmann-Haus
Gabriele Krone-Schmalz
Meinungsbilder

Foto: RIA Nowosti

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Die russische Episode der Malteser

Borovikovsky, Vladmir (1757-1825) - 1800 Portrait of Paul I, Emperor of Russia (Russian Museum)


Kürzlich bin ich bei Flickr auf das obige Gemälde von Wladimir Borowikowskij gestoßen. Es entstand im Jahre 1800 und zeigt den russischen Kaiser Paul I. Auf seinem Gewand ist das Malteserkreuz zu erkennen. Doch wie kommt ein orthodoxer Herrscher, der nach seiner Geburt lutherisch getauft worden war, dazu, sich mit den Insignien des römisch-katholischen Ritterordens von Malta zu schmücken?



Wir schreiben das Jahr 1798. Napolen marschiert durch Europa und nimmt auch den kleinen Mittelmeerstaat Malta ein. Der seit 1530 dort ansässige Orden verläßt die Insel; viele Ritter fliehen nach Rußland, wo der Zar sie aufnimmt und ihnen große Ländereien zur Verfügung stellt. Damit ist das Überleben des Ordens in einer turbulenten Epoche erst einmal gesichert. Aus Dankbarkeit wählten die Ritter ihren neuen Schutzherrn am 16. Dezember 1798 zum Großmeister des Malteserordens.



Doch das russische Asyl der Malteser sollte nur Episode bleiben. Zum einen, weil das Zarenreich doch ein wenig abgelegen war; zum zweiten, weil Paul I. bereits im Jahre 1801 stirbt. Dennoch hat sie in Rußland auch bauliche Spuren hinterlassen. Gemeint ist damit die von 1798 bis 1800 durch den Architekten Giacomo Quarenghi errichtete Malteserkapelle. Sie befindet sich mitten im Zentrum von Sankt Petersburg und ist Teil des Palais des Grafen Woronzow. Die Kapelle ist, auch aufgrund ihrer Abgeschiedenheit, ein architektonisches Kleinod. Sie war jedoch nicht die einzige katholische Kirche in Petersburg, wobei mir nicht bekannt ist, ob sie heute noch als Gotteshaus dient. (Die Position des Altars deutet jedenfalls darauf hin.)



Heute dient die Malteserkapelle (russ.: Maltijskaja kapella) vor allem als Konzertsaal. Dazu prädestiniert ist sie auch durch ihre Orgel, die ja der orthodoxen Kirchenmusik fremd ist. Einen Schwerpunkt bildet insoweit natürlich deutsche und westeuropäische Musik, in diesem Jahr viel Bach und Ritter. Ich selbst konnte die Kapelle im September 2007 während eines Konzerts im Rahmen des internationalen Festivals für Alte Musik kennenlernen. Die Atmosphäre und Akustik sind beeindruckend.



Weitergehende Informationen wie Konzerttermine, Kartenpreise usw. sind auf der offiziellen Webseite zu finden. Solche Veranstaltungen sind für die breite Öffentlichkeit auch die einzige Möglichkeit, die Malteserkapelle zu besichtigen, denn heute ist im Woronzow-Palais die St. Petersburger Suworow-Kadettenschule untergebracht. D.h. daß das gesamte Areal in der Regel für Zivilisten nicht zugänglich sind. Wenn man sich in "Piter" aufhält und dort gerade ein Konzert stattfindet, sollte man sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.




Verwandte Beiträge:
Museen in Rußland
Alexander Rosenbaum, der musizierende Notarzt
Fandorin ermittelt
Die Tragödie eines Volkes
Putin über die russische Jugend

Fotos: www.maltacapella.ru, fotki.yandex.ru/users/vladimafan.

Freitag, 7. Oktober 2011

Rückblende in die Dreißiger


Betrachtet man die Geschichte der Sowjetunion, so stellen sich die 1930er Jahre als eine sehr widersprüchliche Zeit dar. Einserseits gab es eine unheimliche gesellschaftliche Dynamik, die sich z.B. in industriellen Großprojekten und der Erschließung neuer Gebiete äußerte. Es wurden neue Flugzeugtypen entwickelt und Langstreckenrekorde aufgestellt. Die sowjetische Gesellschaft jener Zeit strotzte vor Optimismus und Zukunftshoffnung (was natürlich ganz im Sinne des Marxismus-Leninismus war). Und es gab ja auch Grund zu der Annahme, daß das Land seine Rückständigkeit schnell ablegen könne.
Auf der anderen Seite stehen allerdings die Repressalien, insbesondere die Großen Säuberungen der Jahre 1936 bis 1938. Sie erfaßten weite Teile der Bevölkerung - und vermochten es - erstaunlicherweise - doch nicht, wenn man den Erinnerungen von Zeitzeugen glauben darf, den Menschen ihren Optimismus und auch ihren Glauben an die Partei und Stalin zu nehmen.



Zwei der Vehikel, um den "neuen Menschen", der für den Sozialismus taugte, zu erziehen, waren Körperkultur und Sport. Die 30er waren geprägt vom Massensport, der natürlich vom Staat organisiert und finanziert wurde. Auch hier kann man in den Quellen viel Enthusiasmus finden, der sich etwa auf dem letzten Bild bei einer der zahllosen Paraden zeigt.
Ab Mitte der 1920er Jahre wurde in der UdSSR auch der Schießsport aufgebaut. Er hatte dort (wie in vielen Staaten) immer ein Doppelgesicht: Zum einen leistungsbezogener Sport, zum anderen Mittel der Wehrertüchtigung für alle Bürger. So wurde in den Schießklubs auch das Bajonettfechten geübt. Viele der folgenden Bilder (im unteren Teil) stammen aus Usbekistan, einem islamischen Land, in dem die Frauen erst wenige Jahre zuvor ihre Verschleierung abgelegt hatten. Der (Schieß-)Sport, dem die jungen Usbekinnen nachgingen, hatte mithin noch eine dritte Dimension: Er war ein Weg zur Emanzipation und gesellschaftlichen Gleichberechtigung.



Mögen diese Bilder einen Eindruck vom Leben in den turbulenten 30er Jahren vermitteln, die vielleicht die "authentischste" Epoche der sowjetischen Geschichte waren.














Verwandte Beiträge:
Schießsport in der ehemaligen UdSSR und Rußland
Der Schießstand in Mytischtschi
Anatolij Bogdanow
Söldner oder Bürger in Uniform?
23.02.2009: Bilder des Tages
24.02.2009: Bilder des Tages

Fotos: www.maxpenson.com u.a.

Montag, 3. Oktober 2011

Der Schießstand in Mytischtschi




Es gibt einen sowjetischen Actionfilm über die Zeit des Zweiten Weltkrieges, der eine eigenartige Eingangsequenz aufweist. Parallel zur Vorstellung der Schauspieler werden Bilder aus verschiedenen Sportarten gezeigt. Ferner führt einer der Soldaten eigenartige Schießkunststücke vor. Der Film heißt "Otrjad osobogo nasnatschenija" (dt.: Abteilung besonderer Bestimmung oder einfach Sonderabteilung) und stammt aus dem Jahre 1978. Die Handlung läßt sich kurz zusammenfassen: Eine kleine Gruppe von Spezialkämpfern wird hinter den deutschen Linien abgesetzt, um einen beim Rückzug zurückgebliebenen Raketenwerfer vom Typ "Katjuscha" zu zerstören. Das ist durchaus spannend, doch viel interessanter finde ich die Vorstellung der Soldaten in den ersten Minuten des Films (siehe obiges Video). Die Einheit besteht nämlich fast ausschließlich aus Leistungsportlern verschiedener Disziplinen. Und eine solche Spezialeinheit hat es in der SU tatsächlich gegeben.

Im Juni/Juli 1941 wurde in Moskau die Selbständige Motorisierte Schützenbrigade besonderer Bestimmung (russ. Abk.: OMSBON) vom NKWD formiert. Das Personal bestand größenteils aus Freiwilligen, an denen damals kein Mangel bestand, darunter viele Studenten und Sportler aus Moskau und Umgebung. Dies bescherte ihr den Spitznamen "sportliche Spezialeinheit". Später erreichte die Brigade eine Stärke von rund 2500 Mann und gliederte sich in zwei Schützenregimenter plus Unterstützungseinheiten. Obwohl die Organisation recht konventionell war, nahm die OMSBON nicht nur an der Schlacht um Moskau Ende 1941 teil, sondern stellte vor allem Aufklärungs- und Diversionsgruppen auf, die hinter die deutschen Linien verbracht wurden, um dort den kleinen Krieg zu führen. Anfang 1943 wurde die Brigade in dieser Form aufgelöst.

Am 9. Mai 2011 trafen sich die OMSBON-Veteranen im Moskauer Dynamo-Stadion, um ihrer gefallenen Kameraden zu gedenken:





Der bulgarische Emigrant Iwan Winarow, der seit den 1930er Jahren Offizier der Roten Armee war und dort in der Auslandsaufklärung diente, beschrieb die Aufstellung der Brigade in seinen Memoiren wie folgt:
"[…]

Das Internationale Regiment der Sonderbrigade zählte am Anfang nicht ganz tausend Soldaten. Fast ein Drittel, etwa dreihundert Genossen, waren spanische Emigranten. Die anderen waren Tschechoslowaken, Polen, Österreicher, Ungarn, Jugoslawen, Deutsche, sechs Vietnamesen, Franzosen, Finnen. Es gab sogar einige Engländer im Regiment, Mitglieder der Kommunistischen Partei Großbritanniens, die der Krieg auf einer Moskaureise überrascht hatte. Die österreichischen Genossen stellten nach den Spaniern die stärkste Gruppe. […]

Die Zusammensetzung des Regiments änderte sich ständig. Immer noch trafen im Winter 1941 ausländische Genossen in Moskau ein, die ihre Parteiführungen von Baustellen und Instituten des ganzen Landes riefen. Andere Genossen stellten wieder nationale Brigaden auf, Grundstock für die Bruderarmeen, die später an der Seite der Roten Armee den Kampf gegen die Aggressoren aufnahmen. […]

Das zweite Regiment der Sonderbrigade stellten Moskauer Partei- und Komsomolfunktionäre, Mitarbeiter der Aufklärung und Gegenaufklärung sowie Mitglieder der Moskauer Sportorganisation „Dynamo“. Zu diesen Truppenteilen gehörten also hochqualifizierte, militärisch gutausgebildete und für Sonderaufgaben vorbereitete Genossen, die jeden Auftrag erfüllen konnten. Welche Aufgaben hatten sie?

Ursprünglich war die Sonderbrigade zur Sicherung Moskaus aufgestellt worden. Später änderte sich die Lage an der Front und damit auch die Aufgabe. Die Brigade wurde größer und verwandelte sich in eine Basis für die Ausbildung der Kundschafter- und Fallschirmgruppen, die hinter der Front wirkten. Sie entwickelte sich auch zu einer Zentrale für die Koordinierung, Hilfe und Organisation der Partisanenbewegung im Rücken des Feindes.
Im Oktober/November [1941] hatte die Brigade nur eine einzige Aufgabe, die Verteidigung der sowjetischen Hauptstadt.

Unter der Leitung der Kommunistischen Internationale, der Militäraufklärung und des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten wurde die Sonderbrigade in kurzer Zeit vervollständigt, organisiert und ausgerüstet. Kommandeur der Brigade wurde M. F. Orlow, der als Kommunist schon am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, Kommissar Oberst A. A. Maximow und Stabschef Oberstleutnant F. J. Sedlowski. Kommandeur des Internationalen Regiments wurde W. W. Gridnew und ich wurde Kommissar. Die meisten Offiziere der Brigade kannte ich von der „Frunse“-Akademie oder aus der gemeinsamen Arbeit in der Verwaltung Aufklärung.

Die Sonderregimenter waren in den Gebäuden der Volkskommissariate für Verteidigung und für Innere Angelegenheiten stationiert und taten dort ständig Dienst.
Als sich die faschistischen Truppen Moskau unmittelbar näherten, ging auch die Sonderbrigade an die Front. Ihr Abschnitt war etwa 30 Kilometer breit und einen Kilometer tief. Der Stab der Sonderbrigade befand sich in einem Raum des Hauses der Gewerkschaften.

[…]" (I. Winarow: Kämpfer der lautlosen Front, 3. Aufl., Berlin 1984, S. 215 f.)



Ein erstes Konzept für den Einsatz von Spezialkräften im Rücken des Gegners hatte im Sommer 1941 der Schriftsteller und frühere Nachrichtendienstoffizier Dmitrij N. Medwedew vorgelegt. Medwedew hatte 1939 ausscheiden müssen, nachdem sein Bruder den stalinschen Repressionen zum Opfer gefallen war; erst nach Kriegsbeginn wurde er reaktiviert. Ins Werk gesetzt wurde sein Konzept u.a. von Wjatscheslaw Gridnew, zunächst Chef des 1. Regiments und ab August 1942 der gesamten Brigade. Gridnew hatte zuvor in den Grenztruppen und der Auslandsaufklärung des NKWD gedient.

Die ersten Ausbildungsbasen für die Soldaten der OMSBON waren das Moskauer Dynamo-Stadion und die Schießanlage in Mytischtschi, welche nordöstlich der Hauptstadt liegt und ebenfalls zur Sportorganisation Dynamo gehörte. Der Schießstand war 1925 errichtet worden und diente vor allem dem Schießtraining von Polizisten. In der Kriegszeit dominierte die militärische Nutzung, während danach die sportliche in den Vordergrund trat. Nach der OMSBON hielt eine Scharfschützenschule auf dem Gelände Einzug. Auch in den Folgejahren haben auf den dortigen Bahnen z.B. die Scharfschützen der Spezialgruppe "Alfa" trainiert.



Die Trennlinie zwischen reinem Schießsport und vormilitärischen Training wurde in der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten ohnehin nie so stark gezogen wie etwa in Deutschland. Während man in der UdSSR (und heute in ihren Nachfolgestaaten) in jedem guten Schützen einen potentiellen Vaterlandsverteidiger
erblickt, war man selbst in der DDR um eine strikte Unterscheidung bemüht. Aufschlußreich sind in dieser Hinsicht verschiedene Artikel, die in den Jahren 1958 bis 1960 in der Zeitschrift Der Sportschütze erschienen sind. Viele ostdeutsche Schützen wollten vor allem unpolitische und unmilitärische Nur-Sportler sein. (Vgl. insbesondere W. Schöer: Scharfschütze oder Sportschütze?, in: Der Sportschütze 8/1958, S. 20.)

Doch zurück nach Mytischtschi. Dieser Schießstand hatte für den sowjetischen Sport eine große Bedeutung und war fast schon legendär (insoweit paßt der Vergleich mit dem Stand in München-Hochbrück). Nach größeren Umbauten wurde hier die UIT-Weltmeisterschaft 1958 ausgetragen. 1980 folgten die Schießwettbewerbe der Olympischen Sommerspiele und 1990 erneut die ISSF-WM. Die Anlage war eine der größten ihrer Art in der UdSSR; dort wurden zahlreiche nationale und internationale Wettkämpfe ausgetragen. Ferner waren und sind dort zahlreiche Schießklubs beheimatet.

Nach dem Ende der UdSSR begann eine Odyssee um das Gelände, das zwischenzeitlich unter obskuren Umständen mehrfach die Besitzer gewechselt hat und heute der Errichtung von Luxusvillen dient. Der Schießbetrieb wurde schon vor Jahren weitgehend eingestellt und die Schießstände verfielen oder wurden sogar abgerissen. Derzeit wird ein Rechtsstreit mit dem Ziel geführt, die Anlage an Dynamo zurückzugeben und wieder für den Schießsport herzurichten. Ob dieses Unterfangen trotz eines positiven Gerichtsurteils vom April 2010 gelingen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin haben es die Moskauer im Oktober letzten Jahres geschafft, eine Demonstration für die Wiederherstellung des Schießstandes zu organisieren (siehe auch das Video unten).





Verwandte Beiträge:
Zur Lage des Schießsports in Rußland
Söldner oder Bürger in Uniform?
Partisanenromantik
Schießsport in der ehemaligen UdSSR und Rußland
Partisanen vom Amur