Dienstag, 17. Mai 2011
Fremd- und Selbstbilder im Wissenschaftsbetrieb
In den letzten Wochen habe ich mehrere Programme für wissenschaftliche Veranstaltungen über die sowjetische Geschichte sowie die gegenwärtige Politik auf den Tisch bekommen, die einen deutlichen Unterschied aufweisen. Im Rahmen der Ringvorlesung „Stalinistischer Terror in der Sowjetunion und in Osteuropa“ der Berliner Humboldt-Universität (April bis Juli 2011) treten insgesamt 16 Referenten auf, von denen jedoch nur einer aus Rußland kommt. (Und der vertritt natürlich die mit einem Heiligenschein versehene Organisation Memorial.) Die übrigen Vorträge werden von Akademikern aus Deutschland, den USA, Großbritannien, Frankreich, Kanada und Ungarn gehalten.
Nichts gegen diese Herren! Manchen von ihnen sind ausgewiesene Kapazitäten. Dennoch drängt sich der Verdacht auf, daß die verantwortlichen Berliner Professoren lieber über die Russen als mit ihnen reden. Wo sind die zahlreichen Historiker aus der RF, die Aufsätze und Monographien über den stalinistischen Terror schreiben sowie Quelleneditionen herausbringen? Ohne deren Vorarbeiten wären viele Projekte ihrer ausländischen Kollegen kaum möglich.
Dasselbe Bild ergibt sich bei einem Blick in die akademische Literatur. Deutsche Verlage geben lieber Geld für die Übersetzung eines Rußlandbuches aus dem Englischen aus, anstatt dem deutschen Publikum das Werk eines russischsprachigen Historikers vorzulegen. Muß man Osteuropa unbedingt nur durch die angloamerikanische Brille betrachten?
Die beiden folgenden Beispiele zeigen, daß es auch anders gehen kann, allerdings spielten deutsche Universitäten bei der Zusammenstellung der Programme nur eine kleine Rolle. Vom 5. bis 7. Mai fand in Paris eine Tagung zum Thema „Die Sowjetunion und der Zweite Weltkrieg“ statt. Auf dieser waren zahlreiche Wissenschaftler aus der RF vertreten. Ähnlich stellt sich die Agenda der Konferenz „Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa“, welche für den 3. Juni in Berlin geplant ist, dar. Vortragende und Diskutanten sind zu fast gleichen Teilen Deutsche und Russen. Derartige Veranstaltungen, in denen man miteinander und nicht übereinander spricht, versprechen doch erheblich größere Erträge, nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht.
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