Seit mehreren Jahren wird im Ausland ein russischer Schriftsteller hofiert, dessen magere literarische Leistungen auffallend mit seinem Ruhm als „Oppositioneller“ kontrastieren. Gemeint ist Wladimir Sorokin, der seine Bücher als Kritik von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew verstanden wissen will – und der dafür u.a. von deutschen und französischen Kritikern gelobt wird. Liest man seine Schriften jedoch, so wird man sie sehr vielfältig deuten können. Eines sind sie jedoch nicht: Widerstandsschriften. Ein britischer Rezensent sah im „Tag des Opritschniks“, mit dem Sorokin berühmt geworden ist, sogar das Gegenteil, nämlich eine positive Imperialphantasie.
Meiner bescheidenen Auffassung nach ist dieses Buch höchst unpolitisch. Es handelt sich dabei vielmehr um eine eigentümliche Mischung aus Science Fiction und Pornographie. (Insoweit haben die russischen Kritiker Sorokins ganz recht.) Man kann dem „Tag des Opritschniks“ den literarischen Wert nicht gänzlich absprechen, aber der Leser sollte auf detaillierte Beschreibungen von Gruppensex, Vergewaltigungen und SM-Praktiken stehen, um diesem Buch etwas abgewinnen zu können. Mit Politik hat dies jedoch nichts zu tun und die Einstufung als politischer Schriftsteller wäre eine maßlose Überschätzung Sorokins.
Erheblich relevanter für die gegenwärtige rußländische Gesellschaft ist hingegen ein anderer Titel, der im Gewand eines Kriminalromans daherkommt („Gangstafiction“): „Nahe Null“ von Natan Dubowitzki. Der Name des Autors ist ein Pseudonym. Dies hat die Diskusion über das Buch leider auf Abwege geführt, gibt man sich doch oft Spekulationen über die wahre Identität des Autors hin. Es wird vermutet, daß es sich dabei um Wladislaw Surkow, einen hohen Regierungsbeamten, handeln könnte. Bestätigungen dafür gibt es freilich nicht, und somit erachte ich es für nutzlos, sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen. Denn das Buch hat es in sich.
Man kann „Nahe Null“ durchaus als scharfsinnige Analyse der gesellschaftlichen Lage lesen – allerdings nicht in dem simplen, schematischen Sinn, wie es die „Liberalen“ tun. Jegor, die Hauptfigur des Buches, hat einen nicht untypischen Lebensweg hinter sich: Geboren in der Sowjetunion, aufgewachsen in der Provinz, Schulabschluß, Wehrdienst bei den Fallschirmjägern, danach ein geisteswissenschaftliches Studium. Schließlich arbeitete er zu Beginn der 1990er Jahre als kleiner Angestellter in einem Verlag, als ihn einer seiner Kollegen in die kriminelle Szene einführte. Es ging um nicht lizenzierte Auflagen und Übersetzungen von Büchern, also um einen „Bücherschwarzmarkt“. Fortan hat Jegor, der bisherige Intellektuelle, nicht nur „Schwarzauflagen“ klassischer Autoren unter die Leute gebracht, sondern auch „schmutzige Arbeit“ erledigt. Renitente Buchhändler wurden ebenso beseitigt wie Konkurrenten, die andere Schwarzauflagen verbreiten wollten.
Doch mit Beginn der 2000er Jahre wird das Leben allgemein – und damit auch Jegor – gesitteter. Die Tätowierungen verblassen, die dicken Goldketten verschwinden, man bemüht sich um seriöses Auftreten und um den Wechsel in legale Geschäfte. Hinzu kommt die Förderung der heterogenen Kunstszene, die von diffusen Figuren bevölkert wird. Dazu zählt auch ein Filmemacher, der sich auf Horrorfilme spezialisiert hat. Jegor hat den Verdacht, daß seine Ex-Geliebte Plaksa in einem dieser Streifen umgebracht wurde – beim Geschlechtsverkehr erdrosselt. Nach inneren Qualen macht er sich auf die Suche nach Plaksa, spürt schließlich die versteckte Unterkunft des Regisseurs auf, der im Kaukasus wohnt und sich von einem dort lebenden Stamm bewachen läßt. Das Zusammentreffen beider verläuft höchst unfriedlich; Jegor verläßt es als Krüppel. Nun ist er vom Gedanken an Rache besessen, doch will er zugleich nicht mit seinem Eid brechen, daß er nie wieder töten werde. Eine Zwickmühle, aus der sich Jegor bis zum Schluß nicht befreien kann, denn das Buch läßt das Ende offen.
Jegor kann als Prototyp jener Geschäftsleute gesehen werden, die in den wilden 90ern zuhauf krumme Geschäfte machten, sich aber später um eine weniger aufregende und gefährliche Existenz bemüht haben. (Im Falle Jegors war es die Tätigkeit als Literaturagent.) Da das Buch im Hier und Jetzt spielt, findet auch die Weltwirtschaftskrise ihren Niederschlag: Die plötzlich aufkommende Existenzangst führt bei einigen dieser Geläuterten zu einem Erwachen der alten Instinkte, die schon lange abgelegt schienen.
Auch Jegors Privatleben ist nicht untypisch. Er war mit einer Kollegin aus seinem ehemaligen Verlag verheiratet und beide haben eine gemeinsame Tochter. Doch die Ehe ist alsbald in die Brüche gegangen, wobei die Scheidung für die nunmehrige Ex-Frau sehr einträglich war. Sie führte ein weitgehend sorgenfreies Leben und das Töchterchen entwickelte sich zu einer dicken, verzogenen Göre. Das Verhältnis zwischen den drei Personen ist angespannt. Danach hatte Jegor noch diverse Liebschaften, die jedoch mehr physischen Charakter trugen.
Einer der wichtigsten Aspekte von „Nahe Null“ ist die Charakterisierung der russischen Intelligenzija. Jegor ist noch einer ihrer produktiveren Vertreter, wenn er Geschäfte mit Texten macht und nach neuen Schriftstellertalenten sucht. Andere leben in verwahrlosten Umständen und geben sich einem exzessiven Drogenkonsum hin, um dann in den „cleanen“ Phasen neue Lieder zu schreiben und aufzunehmen. Ein weiterer wird wiederum zum „Advokaten des Teufels“, der sich als Redenschreiber für zwei antagonistische Parlamentsabgeordnete verdingt. Oder jener junge Neonazi, der in den Kaukasus fährt, um dort im islamistischen Untergrund Sprengstoff zu kaufen, mit dem er später in Moskau Anschläge auf dort lebende Moslems verüben will.
Damit führt Dubowitzki (oder wie immer der Autor heißen mag) die Hoffnung auf die „Erlösung“ durch eine Klasse von Intellektuellen ad absurdum. Es gäbe noch viel mehr beachtens- und erwähnenswertes in diesem Buch. Es ist eine interessante und durchaus treffende Darstellung der Verhältnisse im heutigen Rußland. Sie umfassen viele, z.T. gegenläufige Tendenzen und sind bisweilen chaotisch. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, daß das Buch in den oberen Schichten der Gesellschaft spielt; die Perspektive der kleinen Leute kommt nur am Rande vor. Deshalb sollte man mit voreiligen Generalisierungen vorsichtig sein, zumal der Autor viel Wert auf Zwischentöne gelegt hat.
Noch absurder ist es allerdings, wenn manche Rezensenten, gestützt auf die Vermutung der Autorschaft Wladislaw Surkows, davon sprechen, daß der Untergang eines Systems drohe, daß der Autor selbst erschaffen hat. Diese Kommentatoren übersehen die Komplexität politischer und gesellschaftlicher Vorgänge. In unserem Zeitalter, das von der (Informations-)Technik geprägt ist, erschafft niemand ein „System“, zumindest nicht in global integrierten modernen Gesellschaften. Es entwickelt sich einfach und Politiker können bestenfalls versuchen, steuernd einzugreifen. Der Menschen, Bedingungen und Einflußfaktoren gibt es viele und niemand kann sie vollständig dirigieren. Deshalb ist es eine unzulässige Versimplifizierung, wenn sämtliche (positiven wie negativen) Entwicklungen in einem Land einzelnen Personen zuschreiben werden.
Fazit: „Nahe Null“ ist eine fiktionale Darstellung der „besseren Kreise“ der heutigen russischen Gesellschaft, die dennoch starke Bezüge zur Realität hat. Es ist kein moralischer Roman, in dem die Rollen von gut und böse eindeutig verteilt wären. Somit wird auch kein klarer Ausweg aus der partiellen Misere gewiesen. Dies entspricht allerdings auch den Gegebenheiten einer modernen Gesellschaft. Als Hilfe erscheint vor allem die Selbstreflektion und -erziehung der Menschen. Jeder einzelne muß sich (so wie Jegor im Buch) darüber klar werden, daß Mord und andere Verbrechen erstens seine Seele belasten und zweitens für die Gesellschaft insgesamt schädlich sind. Wenn diese Einsicht ausbleibt, hilft auch eine intensivierte Strafverfolgung nicht weiter. Insofern ist das Buch kein politisches Pamphlet, sondern eine Anregung zum Nachdenken über sich selbst.
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Donnerstag, 26. Mai 2011
Freitag, 20. Mai 2011
Die ukrainischen Nationalisten
Der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, inspiziert die großteils aus ukrainischen Freiwilligen gebildete 14. Waffen-Grenadier-Division der SS "Galizien".
Im April haben die Kollegen vom Jagdwaffennetz einen Artikel über den "ukrainischen und baltischen Widerstand unter sowjetischer Besetzung" publiziert. Da das Thema auch meine Forschungsinteressen berührt, sehe ich mich genötigt, nachfolgend einige Anmerkungen zu machen, die sich nur auf die Ukraine beziehen.
Das Problem der ukrainischen Nation
Die Ukraine in ihrer heutigen Gestalt hat ein Problem mit ihrer Identität. Niemand weiß so recht, was den "typischen Ukrainer" ausmacht. Ist es die nach der Auflösung der UdSSR begründete Staatsbürgerschaft des neuen Staates? Oder ist es vielmehr die kulturelle, sprachliche und z.T. auch konfessionelle Identität der "Kleinrussen", insbesondere in jenen Landesteilen, die vor 1918 zu Österreich-Ungarn gehört hatten? Insofern ließe sich vielleicht besser von einem westukrainischen Nationalismus sprechen. Ausdruck dessen ist die regelmäßig festzustellende Spaltung des Landes, etwa bei Wahlen.
Stepan Bandera
Bandera, einer der bekanntesten Führer von OUN und UPA, ist auch in der Ukraine mitnichten ein vollumfänglich verehrter Nationalheld, auch wenn der frühere Präsident Juschtschenko ihm diesen Titel posthum verliehen hat. Seine Anhängerschaft beschränkt sich weitgehend auf der Westteil des Landes.
Gedenkgottesdienst für Stepan Bandera im Jahr 2010.
OUN/UPA und Juden
Dieses Thema sollte man nicht auf die Frage verengen, ob und wenn ja, inwieweit Angehörige des Bataillons "Nachtigall" im Sommer 1941 an Pogromen in Lemberg beteiligt waren. Unstrittig ist, daß es dort nicht nur zur Ermordung von Gefangenen durch die abziehenden sowjetischen Sicherheitskräfte gekommen ist. Vielmehr hat es in Lemberg wie an zahlreichen anderen Orten in der Westukraine mehr oder minder spontane Pogrome gegen jüdische Einwohner gegeben. Diese Pogrome wurden nach derzeitigem Forschungsstand zwar i.d.R. nicht direkt von den Deutschen initiiert, aber wohlwollend geduldet. Zweifelsohne haben OUN-Aktivisten und -Sympathisanten dabei eine maßgebliche Rolle gespielt, war doch der Antisemitismus einer der Eckpfeiler ihrer Ideologie.
(Vgl. auch Breitman/Goda, S. 74 f., 90; das Thema wird derzeit gründlich erforscht, entsprechende Publikationen sind geplant.)
Ferner darf die Rolle von OUN-Mitgliedern, insbesondere aus dem Zweig von Andrej Melnik, in der von den Deutschen gebildeten ukrainischen Verwaltung und Polizei ("Schutzmannschaft") nicht unterschätzt werden. Hier haben sie ihrem Haß auf den "jüdischen Bolschewismus" freien Lauf lassen und an der Judenvernichtung mitarbeiten dürfen. Für Taten in diesem Zusammenhang wurde in München kürzlich John Demjanjuk zu einer Haftstrafe verurteilt. Des weiteren haben Tausende Westukrainer in der 14. SS-Waffen-Grenadier-Division "Galizien" gedient. Diese waren zahlreich an Kriegsverbrechen beteiligt. Hinzu kommt das spätere Vorgehen von Kämpfern der UPA gegen Juden, als erstere schon nicht mehr in deutschen Diensten standen.
OUN/UPA und Polen
Der bewaffnete Kampf der ukrainischen Nationalisten richtete sich selbstverständlich auch gegen den polnischen Staat, beherrschte dieser doch einen Teil des ukrainischen Territoriums. Polen stellte dort - traditionell - die Oberschicht. So wurde Bandera im Jahre 1934 wegen der Beteiligung an einem Attentat auf den polnischen Innenminister zum Tode verurteilt. Dementsprechend negativ fiel die amtliche polnische Reaktion auf den Heldentitel für Bandera aus.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden von der UPA Gruppen des polnischen Untergrundes bekämpft. Ab 1943 sind UPA-Kämpfer, nachdem die meisten Juden weg waren, auch verstärkt gegen die polnische Bevölkerung in "ihren" Gebieten vorgegangen sind. Heute würde man das wohl als ethnische Säuberung bezeichnen. Deshalb war ich überrascht, als das Jagdwaffennetz davon sprach, UPA und Heimatarmee hätten miteinander kooperiert. Womöglich handelt es sich um eine nachträgliche "Geschichtsglättung" aus der Zeit des Kalten Krieges, als es darum ging, frühere Feindschaften dem Kampf gegen den Kommunismus unterzuordnen.
In seiner Position zum ukrainischen Nationalismus hat sich der polnische Staat der Jahre 1944 ff. nicht von dem vor 1939 unterschieden. Um den Aufstand der UPA niederzuwerfen, wurden u.a. Ukrainer aus den östlichen Gebieten der Volksrepublik Polen im Rahmen der Aktion "Weichsel" in andere Landesteile deportiert.
OUN/UPA und ausländische Nachrichtendienste
Die ukrainischen Nationalisten hatten nach 1945 kaum Schwierigkeiten, sich im beginnenden Kalten Krieg auf die richtige Seite zu schlagen. Ihr Feind blieb der gleiche, auch wenn es jetzt untunlich war, weiter gegen Juden zu agitieren. Und die amerikanischen Nachrichtendienste griffen zunächst dankbar auf die erfahrenen Widerstandskämpfer/Terroristen zurück, um Aufklärungs- und Kampfaufträge innerhalb der UdSSR auszuführen. Die US-Dienste zogen sich jedoch recht bald von Bandera zurück, den sie für nicht vertrauenswürdig hielten. Zudem finde seine Ideologie innerhalb der Ukraine kaum noch Unterstützung. Statt dessen setzten die USA auf andere Fraktionen der ukrainischen Emigration, während Bandera vom britischen MI 6 eingespannt wurde.
(Ausführlich hierzu Breitman/Goda, S. 73 ff.)
Aktivisten der OUN-Nachfolgeorganisation Kongreß ukrainischer Nationalisten zeigen den Hitlergruß.
Annotierte Bibliographie
Breitman, R. / Goda, N.: Hitler's Shadow - Nazi War Criminals, U.S. Intelligence and the Cold War, hrsg. v. Nationalarchiv der USA
(ein Kapitel über die ukrainischen Nationalisten im 2. WK und den Jahren des kalten Krieges)
Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes - Die Epoche der russischen Revolution 1891-1924, Berlin 2008
(Herausbildung der ukrainischen Identität im 19. Jahrhundert)
Rossolinski-Liebe, Grzegorz: The "Ukrainian National Revolution" of 1941 - Discourse and Practice of a Fascist Movement, in: Explorations in Russian and Eurasian History, vol. 12, no. 1 (Winter 2011), S. 83 ff.
(Ideologie und Struktur der OUN 1941)
Schünemann, Manfred: Zur aktuellen Situation in der Ukraine, 17.11.2010
Stöver, Bernd: Die Befreiung vom Kommunismus - Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947-1991, Köln 2002
(sehr umfangreiche Darstellung über u.a. antikommunistische Emigrantengruppen, deren Innenleben, Aktivitäten einschließlich Propaganda sowie die Finanzierung und Steuerung durch amerikanische Dienststellen)
Ukrainische Nationalisten stören in Lemberg die Gedenkveranstaltungen anläßlich des Kriegsendes am 09.05.2011
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Dienstag, 17. Mai 2011
Fremd- und Selbstbilder im Wissenschaftsbetrieb
In den letzten Wochen habe ich mehrere Programme für wissenschaftliche Veranstaltungen über die sowjetische Geschichte sowie die gegenwärtige Politik auf den Tisch bekommen, die einen deutlichen Unterschied aufweisen. Im Rahmen der Ringvorlesung „Stalinistischer Terror in der Sowjetunion und in Osteuropa“ der Berliner Humboldt-Universität (April bis Juli 2011) treten insgesamt 16 Referenten auf, von denen jedoch nur einer aus Rußland kommt. (Und der vertritt natürlich die mit einem Heiligenschein versehene Organisation Memorial.) Die übrigen Vorträge werden von Akademikern aus Deutschland, den USA, Großbritannien, Frankreich, Kanada und Ungarn gehalten.
Nichts gegen diese Herren! Manchen von ihnen sind ausgewiesene Kapazitäten. Dennoch drängt sich der Verdacht auf, daß die verantwortlichen Berliner Professoren lieber über die Russen als mit ihnen reden. Wo sind die zahlreichen Historiker aus der RF, die Aufsätze und Monographien über den stalinistischen Terror schreiben sowie Quelleneditionen herausbringen? Ohne deren Vorarbeiten wären viele Projekte ihrer ausländischen Kollegen kaum möglich.
Dasselbe Bild ergibt sich bei einem Blick in die akademische Literatur. Deutsche Verlage geben lieber Geld für die Übersetzung eines Rußlandbuches aus dem Englischen aus, anstatt dem deutschen Publikum das Werk eines russischsprachigen Historikers vorzulegen. Muß man Osteuropa unbedingt nur durch die angloamerikanische Brille betrachten?
Die beiden folgenden Beispiele zeigen, daß es auch anders gehen kann, allerdings spielten deutsche Universitäten bei der Zusammenstellung der Programme nur eine kleine Rolle. Vom 5. bis 7. Mai fand in Paris eine Tagung zum Thema „Die Sowjetunion und der Zweite Weltkrieg“ statt. Auf dieser waren zahlreiche Wissenschaftler aus der RF vertreten. Ähnlich stellt sich die Agenda der Konferenz „Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa“, welche für den 3. Juni in Berlin geplant ist, dar. Vortragende und Diskutanten sind zu fast gleichen Teilen Deutsche und Russen. Derartige Veranstaltungen, in denen man miteinander und nicht übereinander spricht, versprechen doch erheblich größere Erträge, nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht.
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Mittwoch, 11. Mai 2011
Die deutsche Frage I
Seit Jahren muß ich feststellen, daß es in Deutschland zwei verschiedene Debatten über historische Themen gibt, die zum Teil nur wenig miteinander verknüpft sind. Da ist einerseits die fachwissenschaftliche Diskussion im akademischen Raum, mit Aufsätzen, Quelleneditionen und umfangreichen Monographien und Sammelbänden. Auf der anderen Seite dann die „populärwissenschaftliche Diskussion“, die von preiswerten Taschenbüchern (z.T. ohne Fußnoten) und Fernsehsendungen geprägt wird, wobei Guido Knopp noch als vergleichsweise hochwertig gelten darf. Die Qualität letzterer variiert, zumal es offenbar mehr auf die möglichst „spannende“ Vermittlung als auf die inhaltliche Richtigkeit ankommt. (Wie könnte man sonst z.B. erklären, daß in schöner Regelmäßigkeit suggeriert wird, in der DDR wären Anfang der 1980er Jahre Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 stationiert gewesen?)
Ein besonderes Kennzeichen dieser zweiten Diskussion ist ihre inhaltliche Einschränkung. Man hat den Eindruck, als ginge es eher um Volkspädagogik oder Propaganda. Namentlich die wechselvolle Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach 1939 wird in diesem Sinne beackert. Vor allem im westlichen Teil Deutschlands hatte man sich nach 1945 ein paar nette Legenden und Selbstrechtfertigungen aufgebaut (z.T. in direkter Anknüpfung an die NS-Propaganda), von denen manche unserer Mitbürger bis heute nicht recht lassen können. Zu tief scheint noch der Ost-West-Gegensatz in den Knochen zu stecken. Es gibt zahlreiche dieser Einzelfragen, zu denen Guido Knopp & Konsorten regelmäßig eine quasi amtliche Einheitsmeinung präsentieren, während die Forschung schon erheblich weiter ist. Doch könnten deren Ergebnisse wohl manche selbstgerechte Position („wir waren die Guten“) ins Wanken bringen.
Eines jener Bücher, die geeignet sind, bisherige Gewißheiten zu erschüttern, ist „Pax Sovietica – Stalin, die Westmächte und die deutsche Frage 1941-1945“ von Jochen Laufer. Sein Untersuchungsgegenstand ist die unter sowjetischer Vorherrschaft nach 1945 durchgesetzte Friedensordnung im Osten Europas, die er als pax sovietica versteht. Laufer kann die Grundlinien der sowjetischen Außenpolitik bezüglich Deutschlands darstellen, die vom Streben nach Sicherheits- und Einflußzonen im Vorfeld des Territoriums der UdSSR geprägt war. Eine nach 1945 in Westdeutschland wichtige Behauptung kann er jedoch widerlegen: Es gab in der sowjetischen Führung kein Streben nach einer „Bolschewisierung Europas“ und mithin auch keinen „Griff nach der Weltmacht“. Der Sieg über das Deutsche Reich und dessen Besetzung gemeinsam mit den anderen Alliierten waren die Kriegsziele im Zweiten Weltkrieg.
Das Lesen von Laufers Buch, das in ein größeres Forschungsprojekt eingebunden ist, ist ein Genuß, der uns heute – vor allem, wenn es um die sowjetische Geschichte geht – nur selten zuteil wird. Kenntnisreich stellt er nicht nur die sowjetischen Quellen dar, sondern stellt sie auch in den jeweiligen internationalen Zusammenhang. D.h. es werden auch die maßgeblichen britischen und amerikanischen Quellen hinzugezogen, um einen Vorgang darzustellen. Kurzum: Diplomatiegeschichte, wie sie eigentlich betrieben werden sollte. Dabei gelingt es dem Autor, viele relevanten Vorgänge im Detail nachzuvollziehen.
Die behandelten Themen sind so vielfältig, wie es auch die Beziehungen zwischen der UdSSR, den USA und Großbritannien während der Kriegszeit waren. Der Leser erfährt z.B., daß man in London und Washington bis Ende 1942 ständig mit dem Zusammenbruch der SU und demzufolge mit ihrem Ausscheiden aus dem Krieg gerechnet hat. Oder daß es in den westlichen Hauptstädten durchaus die Meinung gab, Deutschland und die Sowjetunion sollten sich gegenseitig schwächen, was für die Westmächte letztendlich nur gut sein könne. Oder wie mühselig es war, substantielle völkerrechtliche Vereinbarungen über das Kriegsbündnis der drei Staaten herbeizuführen – ein Bündnis, das mehrfach von ernsten Spannungen fast gesprengt worden wäre. Die sowjetische Position wurde schließlich durch ein Wechselspiel zwischen eigener militärischer Machtentfaltung, dem Gestaltungswillen Stalins und der militärischen Schwäche der Westmächte geprägt. Stalin war klar, daß er auf warme Worte allein nicht bauen konnte, weshalb es militärischer Siege bedurfte, um auch auf dem diplomatischen Feld erfolgreich zu sein.
Darüber hinaus werden auch interessante Details gestreift, z.B. wie es zur Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen kam, wie deren Grenzen festgelegt wurden, wie man sich die Zeit nach dem Sieg vorstellte u.v.a.m. Mir war bisher nicht bekannt, daß der Verlauf der Westgrenze der SBZ bzw. DDR auf einen Entwurf britischer Planer zurückgeht, der weitgehend „durchgewinkt“ wurde. Die wechselvollen Beziehungen zwischen den drei späteren Siegermächten sind auch hinsichtlich ihrer „atmosphärischen“ Details spannend nachzuvollziehen.
Fazit: „Pax sovietica“ ist mit über 600 Seiten nicht nur gewichtig, sondern auch inhaltlich eine überaus wichtige Abhandlung zu vielen Fragen der sowjetischen Außenpolitik sowie der alliierten Deutschlandpolitik in der Zeit des 2. WK. Gestützt ist sie auf eine exzellente Quellenbasis, denn viele der Dokumente aus rußländischen Archiven wurden hierfür erstmals ausgewertet und werden mit Quellen aus anderen Staaten konfrontiert.
Bei Gelegenheit werde ich hier noch einige Aspekte vertiefen, ebenso bezüglich der sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem 8. Mai 1945.
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Eines jener Bücher, die geeignet sind, bisherige Gewißheiten zu erschüttern, ist „Pax Sovietica – Stalin, die Westmächte und die deutsche Frage 1941-1945“ von Jochen Laufer. Sein Untersuchungsgegenstand ist die unter sowjetischer Vorherrschaft nach 1945 durchgesetzte Friedensordnung im Osten Europas, die er als pax sovietica versteht. Laufer kann die Grundlinien der sowjetischen Außenpolitik bezüglich Deutschlands darstellen, die vom Streben nach Sicherheits- und Einflußzonen im Vorfeld des Territoriums der UdSSR geprägt war. Eine nach 1945 in Westdeutschland wichtige Behauptung kann er jedoch widerlegen: Es gab in der sowjetischen Führung kein Streben nach einer „Bolschewisierung Europas“ und mithin auch keinen „Griff nach der Weltmacht“. Der Sieg über das Deutsche Reich und dessen Besetzung gemeinsam mit den anderen Alliierten waren die Kriegsziele im Zweiten Weltkrieg.
Das Lesen von Laufers Buch, das in ein größeres Forschungsprojekt eingebunden ist, ist ein Genuß, der uns heute – vor allem, wenn es um die sowjetische Geschichte geht – nur selten zuteil wird. Kenntnisreich stellt er nicht nur die sowjetischen Quellen dar, sondern stellt sie auch in den jeweiligen internationalen Zusammenhang. D.h. es werden auch die maßgeblichen britischen und amerikanischen Quellen hinzugezogen, um einen Vorgang darzustellen. Kurzum: Diplomatiegeschichte, wie sie eigentlich betrieben werden sollte. Dabei gelingt es dem Autor, viele relevanten Vorgänge im Detail nachzuvollziehen.
Die behandelten Themen sind so vielfältig, wie es auch die Beziehungen zwischen der UdSSR, den USA und Großbritannien während der Kriegszeit waren. Der Leser erfährt z.B., daß man in London und Washington bis Ende 1942 ständig mit dem Zusammenbruch der SU und demzufolge mit ihrem Ausscheiden aus dem Krieg gerechnet hat. Oder daß es in den westlichen Hauptstädten durchaus die Meinung gab, Deutschland und die Sowjetunion sollten sich gegenseitig schwächen, was für die Westmächte letztendlich nur gut sein könne. Oder wie mühselig es war, substantielle völkerrechtliche Vereinbarungen über das Kriegsbündnis der drei Staaten herbeizuführen – ein Bündnis, das mehrfach von ernsten Spannungen fast gesprengt worden wäre. Die sowjetische Position wurde schließlich durch ein Wechselspiel zwischen eigener militärischer Machtentfaltung, dem Gestaltungswillen Stalins und der militärischen Schwäche der Westmächte geprägt. Stalin war klar, daß er auf warme Worte allein nicht bauen konnte, weshalb es militärischer Siege bedurfte, um auch auf dem diplomatischen Feld erfolgreich zu sein.
Darüber hinaus werden auch interessante Details gestreift, z.B. wie es zur Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen kam, wie deren Grenzen festgelegt wurden, wie man sich die Zeit nach dem Sieg vorstellte u.v.a.m. Mir war bisher nicht bekannt, daß der Verlauf der Westgrenze der SBZ bzw. DDR auf einen Entwurf britischer Planer zurückgeht, der weitgehend „durchgewinkt“ wurde. Die wechselvollen Beziehungen zwischen den drei späteren Siegermächten sind auch hinsichtlich ihrer „atmosphärischen“ Details spannend nachzuvollziehen.
Fazit: „Pax sovietica“ ist mit über 600 Seiten nicht nur gewichtig, sondern auch inhaltlich eine überaus wichtige Abhandlung zu vielen Fragen der sowjetischen Außenpolitik sowie der alliierten Deutschlandpolitik in der Zeit des 2. WK. Gestützt ist sie auf eine exzellente Quellenbasis, denn viele der Dokumente aus rußländischen Archiven wurden hierfür erstmals ausgewertet und werden mit Quellen aus anderen Staaten konfrontiert.
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