Der Flughafen Moskau-Scheremetjewo, in dessen Transitbereich Snowden sich im Augenblick aufhalten soll.
Der Fall des kürzlich desertierten
NSA-Mitarbeiters Edward Snowden hat in den letzten Tagen unerwartet weite Kreise
gezogen. Zunächst tauchte er in Hongkong auf, wo sich die Regierung der USA
sofort an seine Fersen heftete und seine Auslieferung beantragte. Dann verließ
er China, um über Moskau vermutlich nach Lateinamerika zu fliegen. Spätestens
an dieser Stelle wird die Sache zur Lachnummer für Washington.
Bereits der
Auslieferungsantrag an China war absurd. Warum sollte der Staat, der für weite
Teile der politischen Klasse in den USA der Hauptfeind ist (und gegen den
entsprechend gearbeitet wird), seinen Gegnern am Ostufer des Pazifik den
Gefallen tun und einen abgängigen Geheimdienstler zurückschicken? Welcher vernünftige
Grund spräche dafür? Viel besser und logischer ist es doch, ihn selbst
abzuschöpfen, verbunden mit der Zusage der Nichtauslieferung. Warum sollte sich
die Regierung in Peking daran stören, daß amerikanische Staatsgeheimnisse
öffentlich bekannt werden? In den USA nimmt man insofern doch auch keine
Rücksicht auf andere Staaten.
In Washington hätte man nun
zur Besinnung kommen und trotz allem Ärger die in solchen Fällen üblichen
Maßnahmen ergreifen müssen: Schadensbegrenzung innerhalb der Geheimdienste, öffentliche
Verdammung Snowdens, Propaganda gegen die Enthüllungspresse („Gefährdung der
nationalen Sicherheit“) und Einleitung einer (verdeckten) Fahndung, um des
Deserteurs vielleicht doch noch irgendwie habhaft zu werden. Stattdessen
forderte die US-Regierung allen Ernstes auch von Russland, auf dessen
Staatsgebiet Snowden mittlerweile eingetroffen war, dessen Auslieferung.
Als sie dies hörten, wussten
viele Russen nicht, ob sie über den Witz herzhaft lachen oder sich über die
Dummheit der Amerikaner wundern sollten. Als in den letzten Jahren mehrere
rußländische Geheimdienstoffiziere unter Mitnahme von Geheimakten in die USA
gegangen sind, hat Moskau sich darüber nur hinter vorgehaltener Hand empört. Von
einer Auslieferung war gar keine Rede. Natürlich wurden die Verräter auch dort
verdammt, aber man ist sich in Rußland darüber im Klaren, daß auch innerhalb
der Nachrichtendienste mit Verrat gerechnet werden muß. Er gehört eben zum
Geschäft – sehr unschön zwar, aber nicht ganz unnatürlich. Dumm gelaufen … Kein Geheimdienst dieser Welt kann es sich leisten, wertvolle Überläufer zurückzuschicken, allein schon, um zukünftig die eigene Position in der Branche des Nachrichtenhandels nicht zu verschlechtern.
Ganz anders das Verhalten in
Washington. Dort erwartet man allen Ernstes, daß Rußland großzügig auf seine
eigenen Sicherheitsinteressen verzichtet und Snowden nicht abschöpft, sondern
ausliefert. Doch welcher Abwehrspezialist würde sich die einmalige Chance auf
ein Gespräch mit solch einer Quelle entgehen lassen? Und warum sollte er auch?
Umso mehr, als erst vor wenigen Wochen ein US-Spion in Moskau aufgeflogen war und des Landes verweisen wurde. Auf diesen Vorfall hatte die amerikanische Presse
überaus hysterisch reagiert und der Regierung der RF vorgeworfen, sie
leide unter paranoider Angst vor Spionen und würde ausländische Spionage
erfinden, um ihr eigenes Volk einzulullen. Doch die causa Snowden liefert jetzt
den Beweis, daß an den Befürchtungen der Abwehrdienste anderer Staaten
hinsichtlich der von den USA betriebenen Aufklärung nicht paranoid sind und
daß die Aktivitäten von Amerikanern und Briten eher unterschätzt wurden.
Theoretisch könnten die
Russen natürlich dem amerikanischen Begehren nachkommen und Snowden ausliefern.
Doch warum sollten sie das ihnen zufällig zuteil gewordene Geschenk verschmähen?
Zumal die USA ihrerseits keinerlei Hemmungen haben, rußländische
Deserteure bei sich aufzunehmen. Außerdem haben die Sicherheitsbehörden der
Vereinigten Staaten ihre Partner in Rußland nach dem Terroranschlag in Boston
schwer düpiert, als sie – trotz der konkreten und mehrfachen Hinweise auf die
Brüder Zarnajew – schwere Vorwürfe gegen die rußländischen Behörden erhoben. Das
Ziel dieses Manövers – Ablenken vom Versagen des FBI – war leicht zu
durchschauen, doch in den amerikanischen Medien sind im Zweifelsfall immer die
Russen die Bösen, weshalb man bereitwillig mitgemacht hat. Damals hat Moskau
aus Höflichkeit erst spät auf die Anwürfe reagiert und eigene Informationen öffentlich gemacht, um die Regierung Obama nicht zu sehr zu düpieren.
Doch die Ausweisung des spionierenden Diplomaten kurz darauf hat gezeigt, daß
die russische Langmut nicht grenzenlos ist.
Die bloße Vernunft müßte der
US-Regierung eigentlich eingeben, daß ihr Auslieferungsansinnen nicht nur absurd, sondern
außerdem lächerlich ist. Doch scheinen manche Amerikaner dermaßen von sich eingenommen zu sein („god’s own country“), daß ihnen solche Gedanken nicht kommen. Sie sehen sich selbst als die gutmütigen Beherrscher der
Welt, denen alle anderen Staaten zu Diensten zu sein haben. Wenn dem nicht so
ist und eine andere Regierung ganz „störrisch“ ihre eigenen Interessen
verfolgt, dann stellt sie sich gegen das Gute in der Welt. Sonach sind
selbstverständlich auch die anderen Staaten an sämtlichen Konflikten und Problemen schuld.
Ein neuerlicher Tiefpunkt im
deutschen Staatsfernsehen war am gestrigen Abend erreicht, als die Tagesthemen
diese seltsame Blickweise übernahmen und aus dem Fall Snowden ein Rührstück in den internationalen Beziehungen machten.
Statt nüchtern die Person Snowdens, seine Flucht und die Interessenlage der wohl eher
unfreiwillig involvierten Staaten zu analysieren, wird die Angelegenheit
emotional aufgeladen. Für die drei ARD-„Journalistinnen“ Caren Miosga, Ina Ruck
und Tina Hassel bewegt sich die internationale Politik auf derselben Ebene wie
eine Herzschmerzserie im Vorabendprogramm.
Da wird wieder auf den
ewigen Bösewicht Wladimir Putin geschimpft, der liebreich „die ausgestreckte
Hand“ des guten Onkels Barack Obama immer so brüst zurückweisen würde. Daß Putin
als Präsident – ebenso wie Obama – immer die (Sicherheits-)Interessen seines
Staates im Auge hat (und haben muß!), wird wortlos übergangen. Auch die in den
letzten zwei Jahren bekanntgewordenen Spionagefälle der Briten und Amerikaner
in Rußland werden mit keiner Silbe erwähnt. Stattdessen wähnt die ARD schon
wieder eine sinistre Verschwörung der Russen, mit dem Ziel, von ihren eigenen
Menschenrechtsverletzungen abzulenken. Daß diese vermeintlichen Verletzungen
auch in den Rechtssystemen der BRD und anderer „westlicher“ Staaten enthalten
sind, interessiert die ARD wiederum nicht.
Heute hat der Sender mit einem Kommentar von Horst Kläuser noch einmal nachgelegt: Snowden lasse sich
mit den Feinden der Freiheit ein und gefährde Bürgerrechtsgruppen. Wie heißt es
so schön: Alle lieben den Verrat (auch die ARD, denn Snowdens Enthüllungen
haben auch ihr viel Stoff geliefert), aber niemand liebt den Verräter. Außerdem
respektiert Snowden nicht die ARD-interne Bösartigkeitsmatrix: Das, was sein
Ex-Arbeitgeber tut, sei zwar schlimm, aber bei weitem nicht so schlimm wie die
Verhältnisse in China oder Rußland. Deshalb müsse gegen diese Staaten auch mit
geheimdienstlichen Mitteln gekämpft werden, um den Mächten des Guten zum Sieg
zu verhelfen. Kalter Krieg 2.0.