Vor einigen Tagen habe ich abends - in Vorbereitung eines bereits seit Februar angekündigten, aber bis jetzt leider nicht fertigen Projekts :-( - noch den Bericht eines russischen Soldaten aus dem
zweiten Tschetschenienkrieg in der aktuellen
Bratischka gelesen. Dabei ist mir spontan der folgende Gedanke gekommen: Das derzeit gültige
Föderale Waffengesetz der Rußländischen Föderation stammt aus dem Jahr 1996 und ist seither nicht wesentlich verändert worden (soweit ich die Rechtsentwicklung nachvollziehen kann). Doch was hat sich in diesem Riesenland seit 1996 alles ereignet? Terroranschläge, Bürgerkrieg im Nordkaukasus, organisierte und Gewaltkriminalität, Korruption in Polizei und Armee usw. usf. Welche "westliche" Gesellschaft hätte derartige Gewalttätigkeiten ertragen, ohne in ihrer Hilflosigkeit nach einer Verschärfung des Waffenrechts zu rufen, nur damit überhaupt etwas getan wird?
Doch in der RF sieht man das offenbar anders. Die politische Klasse weiß, daß es für kriminelle Elemente erheblich einfacher und effektiver ist, sich illegalerweise aus Behördenarsenalen zu bedienen, als den ordentlichen Weg über amtliche Erlaubnisse zu gehen. Ganz abgesehen von den Waffen, die bereits jetzt auf dem Schwarzmarkt zu finden sind. Deutlich wurde das während des
Geiseldramas im nordossetischen Beslan, als die Angehörigen der Geiseln eine Art irregulärer Miliz formierten, um so - bewaffnet mit Sturmgewehren und MGs - ihre Kinder zu befreien. Und im Kaukasus ist es ein offenes Geheimnis, daß man sich dort schon zu Sowjetzeiten fleißig Armeewaffen "besorgt" hat, um der traditionellen Waffenkultur dieser Region zu frönen.
Statt sich in eine rein symbolische Verschärfung des Waffengesetzes zu flüchten, hat man in der RF ganz praktische Maßnahmen ergriffen, um Terroranschlägen vorzubeugen. Zunächst sind die Sicherheitsbehörden gegen Terrorgruppen im Nordkaukasus, soweit man ihrer habhaft werden konnte, vorgegangen. Im Bereich der Prävention ist u.a. zu vermerken, daß man schon beim Betreten von Flughäfen und öffentlichen Gebäuden einen Metalldetektor passieren muß. Und in den
besonders anfälligen U-Bahnen der Großstädte ist eine starke Polizeipräsenz zu beobachten. Nun kann man über die Sinnhaftigkeit und die Erfolgsaussichten dieser Maßnahmen im einzelnen streiten. Nichtsdestotrotz steht fest: Sie stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Gefahr, die es abzuwehren gilt.
Getragen wurde diese Politik maßgeblich von
Wladimir Putin. Der promovierte Jurist hat eine pragmatische, an ihrer Effektivität orientierte Realpolitik vertreten, wenngleich ihm auch symbolträchtige Handlungen nicht fremd waren. Jemand, der durch die Schule eines großen Nachrichtendienstes gegangen ist, sieht die Welt nicht mit den Augen eines weltverbessernden Utopisten. Sein Nachfolger
Dmitrij Medwedew ist da aus anderem Holz geschnitzt. Obgleich sein akademischer Hintergrund demjenigen Putins ähnelt, so fehlt ihm doch die Prägung, die man als Teil eines Behördenapparates erhält. Medwedew verkörpert nach wie vor den Typus des liberalen Rechtsprofessors, der gerade wegen dieser Prägung zu Symbolpolitik zu neigen scheint. Ausdruck dessen ist m.E. der derzeit diskutierte
Gesetzentwurf gegen "Geschichtsverfälschung", welcher sich an einer der übelsten und freiheitsfeindlichsten Normen des
deutschen Strafrechts orientiert. Und da Medwedew noch mindestens drei Jahre im Amt bleiben wird, so steht zu befürchten, daß sich die RF auch in punkto symbolischer Gesetzgebung mittelfristig den westeuropäischen Gepflogenheiten angleichen wird.
Um den zuletzt genannten Punkt geht es auch im
folgenden Text, der zwar schon etwas älter ist, den ich aber dennoch sehr gut finde:
"[…]
People simply do not realise that Russia is a deeply conservative country.
Fiscal policy is buttressed on a low, flat rate of income tax (13%), and there is virtually no social safety net, with spending on unemployment security, medical provision, disability aid, infrastructure, the environment, and urban regeneration far lower, in both absolute terms and as a percentage of GDP, than its G8 contemporaries.
Similarly, military spending is high in comparison — and growing — medical care is available free in theory, but requires private insurance or additional cash payment in practice, and businesses are in reality pretty un-regulated.
If that doesn’t sound to you like a set of policies Newt Gingrich or William F Buckley would support, then you don’t know your dyed in the wool conservatives from your woolly jumper wearing liberals.
The Parallax Brief believes, however, that these government policies are generally matched by the views of Ivan Six-Pack. Now, the Parallax Brief had been led to believe by his pinko sociology teachers in college that communism taught progressive views on gender, race, immigration and class, so it therefore came as a shock to find when he moved here that after 80 years of Marxist indoctrination, young ladies in Russia often reject feminism, men ooze with unrepentant machismo, and the population appears to generally support a penal code that could have been based on Dostoyevsky’s work.
The Parallax Brief passes no judgment on Russia’s conservatism (beyond finding it ironic that those who criticise Russia the most would like similar policies implemented in their countries (I’m thinking of you Charles Krauthammer, Ed Lucas, Anne Applebaum and the Republican Party)), but does view it as the foundation from which Russia can be better understood, and its news and policies better analysed.
[…]"
Ich teile die Einschätzung des Autors. Rußland ist - gemessen an den ideologischen Vorstellungen der typischen Linken in Westeuropa und Nordamerika - ein zutiefst konservatives Land. Es ist nicht nur das Steuersystem, an dem libertäre Denker ihre Freude haben. Und dem durchnittlichen Russen ist die Vorstellung, daß Waffen
an sich etwas "Böses" seien, genauso fremd wie die deutsche Idee, der Staat müsse sich vollumfänglich um den Lebensunterhalt von Immigranten kümmern.
Doch viele im "Westen" spielen sich als weinerliche "Kritiker" auf, sobald es um Rußland geht. Ich persönlich kenne deutsche CDU-Konservative (sofern man die Union für konservativ hält ;-)), die der Meinung sind, ein paar Schlagstockhiebe hätten noch niemandem geschadet (siehe Gorleben). Wenn aber in Moskau die Polizei ein paar Teilnehmer einer unangemeldeten und gewalttätigen Demo der
Nationalbolschewisten wegträgt, wird sofort Zeter und Mordio geschrieen. Ein zweites Beispiel: Deutsche Freunde, welche hierzulande die Gewerkschaften und den Sozialstaat für Teufelswerk halten, fangen an zu weinen, wenn sie von der Einflußlosigkeit russischer Gewerkschafter erfahren und wünschen sich soziale Unruhen herbei, "damit es den Menschen dort endlich besser" gehe.
Eine geradezu verkehrte (um nicht zu sagen: verrückte) Welt, über die ich hier schon einmal geschrieben hatte. Und umgekehrt spielen sich viele Linke hierzulande als große Freunde Rußlands auf, obwohl das Land heute soweit von ihren eigenen ideologischen Wunschvorstellungen entfernt ist wie 1917. Vielleicht speist sich die Abneigung der Konservativen aber auch aus einer anderen Quelle: dem Neid, daß in Rußland eine Politik betrieben wird, die sie zwar selbst im Grunde ihres Herzens wünschen, in ihren eigenen Ländern allerdings nicht umsetzen können. (Man denke insofern nur an die deutschen Ladenschlußgesetze; etwas Vergleichbares existiert in der RF nicht.)
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