Dienstag, 6. März 2012

Wahlnachlese II: Droht ein Bürgerkrieg?


In der gestern schon erwähnten Fernsehdiskussion am Wahlabend kam mehrfach die teils besorgte, teils prophetisch klingende Warnung vor einem - wörtlich - Bürgerkrieg in Rußland auf. Die Demonstration am 5. März sei vielleicht die letzte friedliche. Auch in Blogposts und Kommentaren hieß es, daß die Putin-Gegner jetzt nicht mehr friedlich bleiben könnten. Durch den Wahlausgang hätten sie ihre Hoffnung verloren, denn das Volk hat Wladimir Putin nicht - wie von einigen erhofft - in die Wüste gejagt, sondern mit deutlicher Mehrheit aus dem Weißen Haus wieder in den Kreml geschickt. Damit seien friedliche Proteste gegen ihn sinnlos geworden.

Dieser Befund ist m.E. durchaus zutreffend. Die Putin-Gegner sind nicht identisch mit dem Volk, auch wenn sie sich das selbst suggeriert haben. Außerdem zeigt sich jetzt, daß die inner- wie außerparlamentarische Opposition gegen Putin und die Regierung alles andere als einig ist. Seit Mitte Dezember waren die notorischen Rabauken ruhiggestellt (fragt sich nur, auf wessen Anweisung hin) und hatten den bürgerlichen Demonstranten die Straße überlassen. Doch deren Zahl stagnierte während der verschiedenen Kundgebungen. Die von Nawalnyj großspurig angekündigte 1 Million ist nicht einmal ansatzweise erreicht worden, selbst die teilweise genannten Zahlen von über 100.000 Teilnehmern dürften übertrieben gewesen sein.

Zudem war der seit Dezember entstandene bürgerliche Teil der Protestbewegung zwar groß, aber ziemlich unpolitisch. Ihr einigendes Band war die Forderung nach fairen Wahlen, die diversen "demokratischen" Alt-Politiker interessierten sie weniger (vgl. hier und hier). Ihre weitergehenden politischen Ambitionen wurden von der Regierung in den vergangenen Wochen aufgenommen und in die Form von Gesetzentwürfen gegossen. Das Signal von Putin und den Seinen hieß: Wir haben verstanden. Die Bewegung hat in der Folge an Dynamik verloren und dürfte sich jetzt wieder spalten. Während nur noch relativ wenige aus der Mittelschicht demonstrieren gehen, haben sich seit Sonntag die Rabauken und Revoluzzer wieder lautstark zurückgemeldet. Diese Entwicklung und der Scheideweg, an dem die Opposition im Augenblick steht, sollen anhand der Ereignisse des gestrigen Abends illustriert werden.



Für den Abend des 5. März war schon vor der Wahl eine Kundgebung unter dem Motto "Für faire Wahlen" angemeldet und von der Moskauer Stadtverwaltung auf dem Puschkin-Platz im Zentrum der Stadt genehmigt worden. Gestern fanden sich dort rund 15.000 Demonstranten ein, um den Ansprachen des Präsidentschaftskandidaten Prochorow (der seinen Wählern dankte) und anderen zu lauschen. Doch die Veranstaltung war, wohl aufgrund der kühlen Witterung, recht schnell beendet und die meisten Teilnehmer gingen wieder ihrer Wege. Damit war der bürgerliche Protest erledigt; Probleme irgeneiner Art gab es bis dahin nicht.

Doch ein "harter Kern" von einigen hundert Personen blieb nach Ende der Kundgebung auf dem Puschkinskaja Ploschtschad zurück. Der Linsextremist Udalzow, dem sich der Anti-Korruptions-Geschäftsmann-und-Blogger Nawalnyj und der Jungpolitiker Jaschin anschlossen, hatte - in bewußter Mißachtung des geltenden Rechts - dazu aufgerufen, ein Zeltlager zu errichten, um Putin zum Rücktritt zu zwingen. Ein Brunnen auf dem Platz wurde von ihnen besetzt.
Und es kam, wie es kommen mußte: Die Polizei forderte die Demonstranten eine Stunde lang auf, den Platz zu räumen. Sogar ein Abgesandter des Menschenrechtsobmanns der Regierung erschien auf dem Platz, um die Leute zum Aufgeben zu bewegen. Vergebens. Sie warteten geduldig darauf, von der Polizei abgeführt und wegen einer nicht angemeldeten Demonstration festgenommen zu werden. Dabei zeigten einige der sog. "Demokraten" auch den Hitlergruß (siehe Video).




Insgesamt kam es auf dem Puschkin-Platz zu 250 Festnahmen. Fast alle Betroffenen wurden jedoch noch in der Nacht wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Räumung verlief, soweit in der Live-Übetragung ersichtlich, ohne Komplikationen oder nennenswerten Gewalteinsatz. Der anschließende Versuch von etwa 100 Personen, die Twerskaja-Straße (eine der wichtigsten Straßen der Stadt) zu blockieren, konnte von einer Handvoll Verkehrspolizisten beendet werden, deren einzige Schutzkleidung ihre Warnweste war.
(Detaillierter kann man die dortigen Ereignisse u.a. hier, hier und hier nachlesen.)

Gestern Abend ging es noch an einer anderen Stelle in der Moskauer Innenstadt hoch her. Auf dem Platz vor der Lubjanka hatten sich einige Dutzend Nationalbolschewisten und andere Nationalisten zusammengerottet. Diese Fraktionen waren während der letzten Wochen ungewöhnlich ruhig gewesen, doch nun ließen sie ihrem Haß freien Lauf. Sie verprügelten einige der zahlreich erschienenen Journalisten und es bedurfte erheblicher Anstrengungen der Polizei, die selbstverständlich nicht angemeldete Kundgebung aufzulösen. Das sah schon weitaus mehr nach Bürgerkrieg aus als die Vorgänge auf dem Puschkin-Platz.



Die Fragen, die derzeit im russischsprachigen Internet diskutiert werden, sind die nach der Bedeutung der gestrigen Demonstrationen im allgemeinen und dem Grund der beiden illegalen und z.T. gewaltsamen Aktionen im besonderen.

Schon als die eigentliche Kundgebung auf dem Puschkin-Platz noch lief, wurde klar, daß zumindest ein Teil der Organisatoren von der ziemlich kleinen Zahl der erschienenen Teilnehmer enttäuscht war. Wenn sich von den über 12.000.000 Einwohnern Moskaus nur noch etwa 15.000 den Berufsoppositionellen anschließen, dann wird das nichts mit der erhofften Revolution. Das reale Volk (einschließlich der Mittelschicht) will offenkundig eher Reformen im Rahmen des bestehenden politischen Systems als einen Umsturz desselben. Dafür haben sie am Sonntag Putin gewählt. Der selbsternannten "Partei der Volksfreiheit" kommt also das Volk abhanden.

Eine gute Zusammenfassung der Kritik bietet dieser Artikel in der Internetzeitung Wsgljad, in dem der Infantilismus der "nicht-systemischen Opposition" beklagt wird, der sogar vielen ihrer Anhänger bitter aufstoße. Nach den gestrigen Aktionen konstantiert der Autor, gestützt auf Zitate vom heutigen Tage, bereits die Spaltung der Protestbewegung.
Ein amerikanischer Beobachter der Szenerie beklagte die ziellose Provokation:
"Slightly disappointed by Pushkin antics; provoking auths with no real aim. Opposition needs to move beyond gestures, build structures."
Und ein weiterer Blogger meinte noch vor der gestrigen Demo, daß das Sujet erschöpft sei und die Opposition neue Ideen und Losungen brauche. Der Dezember 2011 sei endgültig vorbei. Sie hätten zwar gegen Putin gekämpft, doch die Präsidentenwahl habe ihn gestärkt. Deshalb sei es sinnlos und lächerlich, einfach wie gehabt weiterzumachen.




Deshalb, so weitere Überlegungen, müßten die Oppositionellen, welche sich besonders exponiert haben, bewußt zu illegalen, ggf. auch gewaltsamen Mitteln greifen, um ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung zu entgehen. Solche Taten würden zwangsläufig ein Einschreiten der Behörden nach sich ziehen. Nur so könnten sie sich weiterhin als "brutal verfolgte demokratische Oposition" darstellen und Unterstützung im Inland, vor allem aber im Ausland generieren. Mit anderen Worten: Die anschließende Festnahme durch die Bereitschaftspolizei war der einzige Grund für das von Udalzow & Co. am Montagabend veranstaltete "Sit-In". Und eine (auch nachträgliche) Anmeldung wäre kontraproduktiv gewesen. Ein Twitterer meinte gestern ironisch, daß auf dem Polizeirevier gerade Schampus und Konfekt gereicht würden.

Etwas primitiver dürfte die Motivation der Nationalisten an der Lubjanka gewesen sein. Im Sinne einer "Propaganda der Tat" ist jede Schlägerei mit den Sicherheitskräften ein Wert an sich. Die Vorgänge und die an ihnen beteiligten Personen zeigen, daß die einzig wirkliche Opposition in Rußland nicht aus mehr oder minder liberal gesonnenen Intellektuellen und Unternehmern besteht, sondern aus Links- und Rechtsextremisten, die total andere Gesellschaftsentwürfe im Angebot haben und u.U. Gewalt als Mittel der "Meinungsbildung" nutzen.

Den meisten Bürgern, gerade aus der langsam zu Wohlstand kommenden Mittelschicht, sind diese Extremisten wenig geheuer. Mithin dürfte demnächst eine weitere Spaltung innerhalb der Opposition folgen. Ein kleiner radikaler Kern von Revoluzzern steigert sich weiter in seine "Mission" des "Kampfes gegen das totalitäre System" hinein und radikalisiert sich, der große Rest wendet sich hingegen zivileren Formen zu oder verläßt die Protestbewegung. Schon kursieren im Netz Aufrufe zu Anschlägen auf Polizisten. Daß solche Schriften nicht folgenlos bleiben, zeigt der Fall eines Mannes, der Anfang März festgenommen wurde, nachdem er Sprengstoff kaufen wollte, um eine Bombe für die Teilnehmer einer Pro-Putin-Demo zu bauen.

Nachdenklich stimmt, daß es gerade die radikaleren und kompromißlosen Kreise der APO sind, die von Teilen der internationalen Presse als vermeintlich "einzig echte Opposition" hofiert werden. Das könnte ein Anreiz für die verstärkte Durchführung illegaler und gewaltsamer Aktionen sein, deren Folgen absehbar sind. Einen Umsturz würden sie zwar nicht zustande bringen, wohl aber ein Klima der Gewalt erzeugen, welches Regierung und Sicherheitsbehörden in einem schlechten Licht erscheinen ließe. (Am Beispiel der Lage im Nordkaukasus kann man studieren, wie die internationale Medien ein solches Licht fabrizieren.)

Somit überrascht es nicht, daß einige Kommentatoren die gestrigen Ereignisse als geglückte Abwehr eines Revolutionsversuches sehen. So heißt es etwa, die Bereitschaftspolizei OMON habe Moskau gerettet und ein orangenes Szenario abgewendet. (Ende 2004 hatte die "Revolution" in Kiew ähnlich begonnen.) Andere Twitter-Nutzer gratulierten der Polizei zu ihrem erfolgreichen und humanen Vorgehen.



Ein Abdriften von Oppositionellen, die vom Volk enttäuscht sind, in Gewalt und Terrorismus wäre in der Geschichte Rußlands übrigens kein neues Phänomen. Bereits im 19. Jahrhundert mußten die "Narodniki" (dt.: Volkstümler, vornehmlich aus der akademischen Jugend) enttäuscht feststellen, daß die von ihnen idealisierten Bauern in Wirklichkeit ganz anders waren, als sie geträumt und gehofft hatten. Die Bauern waren skeptisch gegenüber den Adels- und Bürgerkindern, die plötzlich in den Dörfern auftauchten und alles auf den Kopf stellen wollten.

Die Enttäuschung über das reale Volk, das seinen selbsternannten Rettern nicht folgte, traf die Narodniki hart. Einige wenige von ihnen radikalisierten sich und bildeten die erste Welle der politischen Terroristen, die das Zarenreich heimsuchten (siehe dazu ausführlich hier und hier). Und diese Terroristen waren blutrünstig: Von den letzten Jahren des 19. Jh. bis 1917 wurden etwa 17.000 Menschen in Rußland Opfer ihrer aus politischer Verblendung begangenen Gewaltakte. Darunter waren der "Befreierzar" Alexander II. und der reformistische Ministerpräsident Stolypin.
Ihr Terrorismus hat dazu beigetragen, eine erfolgreiche Reformierung des Zarenreiches zu verhindern, obwohl der Grundstein dafür gelegt war. Damit wurde der Boden für das Blutvergießen des Revolutionsjahres 1917 und des anschließenden Bürgerkrieges bereitet.

Bleibt zu hoffen, daß dem heutigen Rußland dieses Schicksal erspart bleiben möge. Es braucht keine weiteren Radikalinskis, denn ein paar hundert Islamisten, die sich gerne selbst in die Luft sprengen würden, um dem Paradies näherzukommen, sind Problem genug. Und für mehr als ein paar Anschläge würde es auch bei den übrigen Extremisten auf absehbare Zeit nicht reichen. Ein Bürgerkrieg droht also nicht, auch wenn die Vision düster ist.


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Fotos: raskalov-vit.livejournal.com, img-fotki.yandex.ru, twitpic.

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