Freitag, 2. März 2012

Vor der Präsidentenwahl


Übermorgen wird in der Rußländischen Föderation ein neuer Staatspräsident gewählt. Dies ist für die deutschen Staatsmedien Anlaß für zahlreiche Sendungen. Auf allen Fernseh- und Radiokanälen wurde in der vergangenen Woche intensiv über Rußland berichtet. Es wurden uralte Reportagen wiederausgegraben und zum tausendsten Mal gesendet und damit Stereotype en masse bedient. Darüber lohnt kein Wort. Doch der ARD gelang auch ein ausnahmsweise sehr gutes Porträt der Person Wladimir Putins. In "Ich, Putin" wurde der Noch-Premier von einem deutschen TV-Team begleitet und auf eine gesittete Art interviewt. Ergänzend kommen Gespräche mit Freunden, Gegnern und Weggefährten hinzu. Das Ergebnis ist beeindruckend und unbedingt sehenswert. Der Film zeigt, daß kritischer Journalismus möglich ist, ohne Zuflucht zu Dämonisierungen und Verschwörungstheorien nehmen zu müssen.

Hubert Seipel, der Autor dieser Dokumentation, war Dienstag auch in der SWR-1-Sendung "Der Abend" zu Gast. Die Ankündigung des SWR war allerdings nichts anderes als eine Neuauflage des jahrhundertealten deutschen Klischees von Rußland als schwachem und armen "Koloß auf tönernen Füßen":
"[...]

Russland hat sich seit Putin an der Macht ist, egal ob als Präsident oder Ministerpräsident, praktisch nicht weiterentwickelt. Die Reichen wurden zwar reicher, aber die Masse blieb arm und weitgehend in alten Machtstrukturen erstarrt.

[...]"
Daß dem nicht so ist (auch wenn man das in Baden-Baden glaubt), kann man an zahllosen Beispielen darlegen. Einige Autoren haben sich die Mühe gemacht, sie zusammenzutragen, z.B. "Russia's Transition from Communism in Figures", "Russian GDP from 2006-2011", "Are Russians As Rich As Czechs?", "Russian Demographics Update", "The Reversal Of The 'Russian Cross'", "Russian Healthcare Update" und "Der Grund für westlichen Hass ist Putins Bilanz".

Die darin präsentierten Zahlen sind eindeutig: Den meisten Bürgern der RF geht es heute so gut wie kaum zu einem anderen Zeitpunkt seit der Auflösung der UdSSR 1991. Der Anstieg der positiven Faktoren (Einkommen, Renten usw.) und das gleichseitige Sinken negativer (z.B. Krankheiten, Staatsverschuldung) zeigt eindeutig, daß die These des SWR Humbug ist. Rußland hat sich in der Zeit, in der Putin an der Macht ist, erheblich weiterentwickelt. Das ist nicht nur ein abstrakter statistischer Befund, man kann ihn auch empirisch untermauern. Etwa, indem man einen längeren Blick auf die Straßen einer rußländischen Großstadt wirft und beobachtet, welche Autos von den Menschen gefahren werden. Die alten kantigen Ladas im Fiat-Design, einstmals der Hauptträger der Individualmobilität, sind immer seltener anzutreffen. Statt dessen beherrschen zunehmend Fahrzeuge aus der Produktion asiatischer, europäischer und amerikanischer Hersteller das Straßenbild. (Viele dieser Fahrzeuge sind übrigens in den Werken, die diese Unternehmen in der RF aufgebaut haben, gefertigt worden.)

Und von einer "Erstarrung" des Landes (so der SWR, andere verwenden den Begriff Stagnation) kann nur reden, wer nie in Moskau oder St. Petersburg war. Verglichen mit diesen Metropolen erscheint stellenweise sogar die Berliner Innenstadt wie ein Dorf. ;-)

Deshalb wird Wladimir Putin mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit erneut zum Präsidenten der RF gewählt werden. Und zwar von der schweigenden Mehrheit des Volkes, die in den deutschen Medien höchstens als "gehorsame dumme Biomasse" auftaucht, während zugleich eine "außerparlamentarische Opposition" goutiert wird, deren Bedeutung aus eigenem Verschulden marginal ist.




Der Wahlkampf hat während der letzten Wochen noch einmal an Dynamik gewonnen; die Kandidaten neigen - wie überall auf der Welt dazu - allen Bürgern alles zu versprechen. Und es wird auch kräftig mit Schmutz geworfen. Der "liberale" Kandidat Prochorow versucht sogar, Putin Eheprobleme nachzuweisen. Ansonsten versucht er, mit fremdenfeindlichen Parolen ("gegen Asien") zu punkten, doch der Erfolg seiner Kampagne dürfte gering sein. Prochorow hat sich am 23. Februar, dem Tag der Vaterlandsverteidiger, sogar mit Veteranen der Spezialeinheiten Alfa und Wympel getroffen, um seine Sorge um die Sicherheit der Bürger zu demonstrieren. All dies wurde ausführlich im russischen Fernsehen behandelt (siehe obiges Video) - ebenso wie die technischen Maßnahmen, die (die schon vorher behaupteten) Wahlfälschungen unmöglich machen sollen. Dazu zählen nicht nur zahlreiche Wahlbeobachter der Wählerliga, sondern auch der Einsatz von jeweils zwei Webkameras in allen Wahllokalen. Deren Bilder können am Sonntag live unter der URL Webvybory2012.ru abgerufen werden.

Transparenter kann man eine Stimmabgabe nicht gestalten. Dies hindert einige Berufsnörgler freilich nicht daran, schon jetzt - also vor der Wahl! - gegen bis dato gar nicht stattgefundene Wahlfälschungen zu protestieren. Die gefälschten "Beweise" dafür kursieren schon jetzt im Internet - ab Sonntag werden wir solche vorab fabrizierten Videos sicher auch im deutschen Fernsehen vorgeführt bekommen. Bereits unmittelbar nach Schließung der Wahllokale sind die ersten Demonstrationen angekündigt. Wem das Wahlergebnis nicht gefällt, der demonstriert halt dagegen. Unter Umständen könnte sogar ein weißrussisches Szenario drohen. Dort hatten nach der Präsidentenwahl vom 19.12.2010 Oppositionskandidaten (an deren eindeutiger Wahlniederlage nicht einmal die US-Regierung zweifelte) mitsamt ihren Anhängern auf den Straßen randaliert und versucht, öffentliche Gebäude zu stürmen. Dieser Putschversuch ist von den Sicherheitskräften unterdrückt worden - und die Folgen sind bekannt (Sanktionen der EU etc.).

Wir werden in den nächsten Tagen sehen, ob es wie bisher weitgehend friedlich bleibt und wie die rußländischen "APO"-Gruppen von ihren ausländischen Geldgebern instruiert worden sind. Generell scheint die Luft aus den Demonstrationen raus zu sein. Am vergangenen Sonntag waren nur noch 11.000 Menschen auf dem Moskauer Gartenring versammelt, während die Partei Geeintes Rußland am 23.02. etwa 130.000 Demonstranten auf die Straße brachte.

Die zweite wichtige Frage ist, ob es einen zweiten Wahlgang geben und wenn ja, wer dann gegen den derzeitigen Premier antreten wird. Eine Stichwahl wäre nach Artikel 77 des Präsidentenwahlgesetzes notwendig, wenn weniger als 50 % der abgegebenen Stimmen auf einen Kandidaten entfallen. Derzeit scheint Putin zwar deutlich über diesen 50 % zu liegen, doch die Umfragen der letzten Wochen zeigten auch, daß es noch einige unentschlossene Wähler gibt.

Interessant ist überdies, wer in den letzten Monaten in den Reihen der "APO" als lautstarker Kämpfer gegen vermeintlich undemokratische Gepflogenheiten, Korruption u.ä. aufgetreten ist. Z.B. ein ehemaliger Vizepremier Boris Nemzow, der die Legitimität von Jelzins und Putins Präsidentschaften bestreitet, obwohl er selbst in dieser Zeit in Regierungsämtern war. Wie steht es dann um seine Legitimität? Oder Michail Kassjanow, Ministerpräsident von 2000 bis 2004. Während dieser Zeit war er auch Chef der Regierungskommission zur Korruptionsbekämpfung - was hat er persönlich in diesen Jahren getan, um die heute von ihm angeprangerten Mißstände zu bekämpfen? Darüber schweigen sich die Herren Kassjanow und Nemzow in ihren Reden und (oft auf Englisch gegebenen) Interviews lieber aus.

Abschließend noch der Hinweis auf einige Links zur Vertiefung, von denen vor allem der erste lesenswert ist:

Die Mobilisierung der schweigenden Mehrheit

Zwei Präsidenten gesucht - zwei Stellenbeschreibungen

Der Grund für westlichen Hass ist Putins Bilanz

Geheime Zeitmaschinentechnologie im Dienste fairer Wahlen

Kalte Dusche für Putins Möchtegern-Totengräber

Rubrik zur Präsidentenwahl bei RIA Nowosti

Navalny’s Petty Racism

It Ain’t Lonely at the Top: Navalny’s Tenuous Coalition



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Fotos: RIA Nowosti.

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