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Samstag, 26. März 2011

Alexander Rosenbaum, der musizierende Notarzt

Im russischen Sprachraum hat sich bis heute eine Tradition des Chansons, oder technischer formuliert, des Autorenliedes erhalten, die es so in Deutschland nicht gibt. Als ymbol dafür mag Radio Chanson gelten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen dafür beispielsweise Wladimir Wyssozkij und Bulat Okudschawa. Etwas jünger ist der nachfolgend vorgestellte Künstler, der in Rußland und wohl auch Israel sehr beliebt ist und ebenfalls zu meinen persönlichen Präferenzen zählt.

Alexander Jakowlewitsch Rosenbaum wurde am 13.09.1951 in Leningrad geboren. Seine Eltern studierten dort Medizin, mußten sich jedoch kurz nach der Graduierung in Kasachstan niederlassen. Maßgeblich dafür waren religiöse Gründe, denn sie waren Juden und kurz vor Stalins Tod begann dieser mit einer antisemitischen Kampagne. Später kehrte die Familie nach Leningrad zurück und Alexander Rosenbaum nahm 1968 ebenfalls ein Medizinstudium auf. Bereits während seiner Schulzeit hatte er eine Musikschule besucht und begann nun, eigene und fremde Lieder und Gedichte vor einem größeren Publikum vorzutragen. 1974 schloß er sein Studium ab - er hatte sich auf Reanimation und Geburtshilfe spezialisiert - und arbeitete fortan als Notarzt in der Newastadt, in der er bis heute lebt.

Parallel dazu bildete er sich musikalisch weiter und trat auch mit seinen Liedern auf. Irgendwann hatte er wohl das Gefühl, sich für eine von beiden Tätigkeiten entscheiden zu müssen - er wählte die Musik und gab die Medizin auf. Anfang der 1980er Jahre begann seine Musikkarriere, die bis heute andauert. Daneben war er als Schauspieler an mehreren Filmen beteiligt. Bisher hat Alexander Rosenbaum fast 500 Lieder und Gedichte geschrieben und fast 100 Alben aufgenommen. Dabei ist es ihm gelungen, einen Großteil der Lieder in zwölf verschiedene Philosophien einzuteilen (Philosophie des Krieges, der Liebe usw.).

Seine Titel sind nicht nur musikalisch angenehm, sondern haben oft auch einen tiefergehenden Text. Er singt nicht nur selbst, sondern spielt auch Gitarre und Klavier. Es ist jedoch die Gitarre, die für den typischen "Rosenbaum-Sound" steht. Mithin eine bescheidenes Ausstattung, mit der er allerdings ganze Konzertsäle füllen kann. Nachfolgend sollen fünf seiner Lieder, Youtube sei dank, vorgestellt werden.

Seine Erfahrungen aus der Arbeit im Rettungsdienst hat er im "Lied des Arztes der Schnellen medizinischen Hilfe" verarbeitet:





Aus Rosenbaums Feder stammen einige Lieder, die sich mit dem Krieg in Afghanistan beschäftigen. Dazu zählt auch das folgende mit dem Titel "Schwarze Tulpe". Es ist im Video mit Szenen aus dem Film "Afganskij Islom" versehen, worin Alexander Jakowlewitsch auch selbst mitgespielt hat:





Der Krieg wird auch im nächsten, sehr temperamentvollen Lied thematisiert, in dem es um die "Kosaken" und ihre kämpferische Lebensweise geht:





Alexander Rosenbaum ist kein weltfremder und unpolitischer Künstler. Im Gegenteil, seit 2003 ist er Dumaabgeordneter für die Partei Jedinaja Rossija und gilt seither russischen Neonazis als weiterer Beweis für eine angebliche jüdische Verschwörung im Kreml. Doch in Israel ist er ebenfalls bekannt und hat 2006 mit dem folgenden Werbelied zugunsten der Partei Jisra'el Beitenu in den Knessetwahlkampf eingegriffen:





Abschließend noch das bekannteste Lied von Alexander Rosenbaum: "Gop-stop". Ein sehr frühes Werk, das er hier im Duett mit Grigorij Leps während einer Neujahrssendung vorträgt:





Heute Abend wird Rosenbaum am alljärlichen Wettbewerb "Chanson des Jahres" teilnehmen, der von Radio Chanson im Kremlpalast veranstaltet wird. Vielleicht gewinnt er ja den Preis.


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Sonntag, 13. Februar 2011

Raketen über See

Vorab: Ich interessiere mich nicht besonders für militärisches Großgerät wie Panzer, Schiffe oder Flugzeuge. Doch das heute anzuzeigende Buch geht weit über rein technische Fragen hinaus: "Raketen über See - Die taktische Seezielrakete P-15 (Styx) im Kalten und heißen Krieg" von Holger Neidel und Egbert Lemcke ist im Jahre 2008 erschienen. Wie schon mit dem vom selben Verlag herausgebrachten Buch von Frank Preiß werden dem Leser, welcher der russischen Sprache nicht oder nur bedingt mächtig ist, erstmals in seriöser und kompetenter Weise Informationen über das Militär der heutigen Rußländischen Föderation sowie der früheren Sowjetunion präsentiert. Hier geht es zuvörderst um die in den 1950er Jahren entwickelte Seezielrakete P-15 (NATO: Styx) und ihre diversen Abarten und Nachfolgemodelle, wobei die behandelte Zeitspanne von den 1950er Jahren bis 2007 reicht. Schiffsgestützte Flugkörper, die erstmals von der UdSSR gebaut und eingesetzt wurden, waren eine kleine Revolution des Marinewesens.

Dabei werden nicht nur die technischen Entwicklungen detailliert nachvollzogen, die Autoren stellen sie auch in den notwendigen sicherheitspolitischen Kontext: Welchen Sinn ergeben see- und landgestützte Seezielraketen? Sie ermöglichen auch einem vergleichsweise schwachen Staat die kostengünstige Abwehr überlegener Marinekräfte des potentiellen Gegners. Die beiden Autoren vertiefen diese und ähnliche Fragen mehrfach, wenn sie nicht nur Fallbeispiele aus der Sowjetunion selbst, sondern auch aus den Staaten analysieren, die von der SU oder China mit diesen Waffensystemen beliefert worden sind (z.B. DDR, Indien). Neben der Vorstellung der verschiedenen Raketen werden auch ihre Trägerplattformen, insbesondere die damals neuartigen Raketenschnellboote, vorgestellt und ihre Entwicklung nachvollzogen.

Der Band ist durchgängig mit instruktiven Tabellen, Fotos und Zeichnungen versehen. Das alles macht dieses Werk zu einer Fundgrube sowohl für Marineinteressierte als auch für jene, die die Wechselwirkung zwischen Strategie und Technik studieren wollen. Überdies wird man nach der Lektüre besser dazu fähig sein, manches aktuelle militärische Problem zu verstehen. Freilich muß man den beiden Autoren nicht bei jeder Bewertung oder Schlußfolgerung folgen, doch tut dies dem Wert ihres Werkes keinen Abbruch.



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Foto: RIA Nowosti.

Dienstag, 22. Juni 2010

Moisej Itkis (1929-2009)

Vorbemerkung: In den zurückliegenden Monaten habe ich mehrfach über den Schießsport in Rußland berichtet und dabei mit Lew Weinstein auch schon einen bekannten Schützen vorgestellt. Heute möchte ich damit beginnen, in loser Folge weitere Sportschützen aus der früheren Sowjetunion zu porträtieren und z.T. auch Texte, die aus ihrer Feder stammen, zu publizieren oder von ihnen geschaffene Waffen vorzustellen. Besonders interessant erscheinen mir die Schützen, die in den 1950er Jahren bekannt geworden sind, als die UdSSR erstmals die sportliche Weltbühne betreten hat.



Heute beginnen wir mit Moisej Abramowitsch Itkis (manchmal auch Moysey oder - slawisiert - Michail Itkis geschrieben). Er wurde am 20.04.1929 in einem ukrainischen Dorf namens Torgowiza geboren und verstarb heute vor einem Jahr, am 22.06.2009, in seiner zweiten Heimat Israel. Er war in den 1950er und 60er Jahren u.a. mehrfacher Welt- und Europameister in verschiedenen Gewehrdisziplinen. Seinen m.W. ersten internationalen Titel errang er bei der UIT-Weltmeisterschaft 1954 in Caracas. Vier Jahre später bei der WM in Moskau gewann er Gold im Stehendkampf mit dem Kleinkalibergewehr über 50 m (374 Ringe) und Silber mit dem Standardgewehr über 300 m. Außerdem hat er mehrere Welt- und Europarekorde verbessert.

Über sein Privatleben ist leider nur wenig bekannt. Itkis war - wie einige der sowjetischen Spitzenschützen - Jude (was zu Sowjetzeiten unter Umständen Nachteile mit sich bringen konnte), hat Pädagogik studiert und 1969 am Leningrader Lesgaft-Institut für Körperkultur über ein Schießsportthema promoviert. Danach blieb er im damaligen Leningrad und war als Dozent an der Moshaijskij-Militäringenieurakademie tätig. Später ist er - wie viele Juden aus der ehemaligen UdSSR - nach Israel ausgewandert, doch scheint er in der dortigen Schützen-"Szene" nicht mehr in Erscheinung getreten zu sein.

Moisej Itkis hat mehrere schießsportliche Publikationen verfaßt, siehe z.B. hier, hier, hier und hier. Ich kenne jedoch keinen Titel, der ins Deutsche übersetzt worden wäre.



Abschließend gilt es, noch einige grundsätzliche Ausführungen zum Sport in der Sowjetunion zu machen. Von besonderer Bedeutung waren die zahlreichen freiwilligen Sportgesellschaften, in denen sowohl Breiten- als auch Leistungssport betrieben wurde und zu denen auch die Kinder- und Jugendsportschulen gehörten. Viele dieser Gesellschaften waren berufsständisch organisiert, wobei die Gewerkschaften eine große Rolle spielten. So gab es z.B. für Berufsschüler die "Arbeitsreserven" und für Studenten den "Sturmvogel". Die Gesellschaft "Spartak" war für viele Wirtschaftszweige zuständig, während sich "Wodnik" auf Mitarbeiter der Schiffahrt und Wasserwirtschaft beschränkte und "Zenit" vor allem den Arbeitern der Rüstungsindustrie Erholung von der Maloche bieten sollte. Dennoch waren die meisten dieser Organisationen nicht strikt abgeschlossen. So mußten etwa Studenten nicht zwangsläufig für den Sturmvogel starten.

Für den Schießsport waren neben den genannten Organisationen (vor allem den Arbeitsreserven) die folgenden besonders wichtig: Die DOSAAF war eine Wehrsportorganisation (analog der GST in der DDR), in der neben dem Schießen auch andere technische Sportarten wie z.B. Modellbau, Fliegen, Fallschirmspringen, Tauchen, Segeln usw. gepflegt wurden und deren Angebote sich primär an Jugendliche richteten. Die Dynamo-Sportklubs waren für die Körperertüchtigung der Mitarbeiter von Innenbehörden und KGB zuständig, betrieben aber auch Jugendarbeit.
Im Bereich des Verteidigungsministeriums gab es eigene Sportklubs, deren bekanntester wohl der ZSKA in Moskau ist. Doch auch auf den untergeordneten Ebenen wurde intensiv trainiert. So verfügte z.B. die GSSD über eine Schießsportsektion mit hauptamtlichen Trainern. In diesen Sporteinheiten leisteten viele schon zuvor gute Sportler ihren zweijährigen Wehrdienst ab. Und nicht wenige Sportsoldaten blieben auch länger dabei. Somit überrascht es nicht, daß aus der Sportgesellschaft der Streitkräfte ein großer Teil der Olympiateilnehmer kam (und bis heute kommt).
Darunter war auch Moisej Itkis, der während seiner aktiven Schützenlaufbahn den Rang eines Oberleutnants bekleidete.

Innerhalb dieser Sportorganisationen wurden ebenfalls zahlreiche Schießwettkämpfe ausgetragen. Daher muß man immer sauber unterscheiden, von welchen Meisterschaften ggf. die Rede ist. Waren es die (der Deutschen Meisterschaft vergleichbaren) Allunionsmeisterschaften oder nur die Allunionsmeisterschaften der DOSAAF, der Armee oder von Dynamo? Mit ihrer heterogenen Sportlandschaft unterschied sich die SU doch stark von der sehr zentralisierten DDR. (Das war, nebenbei bemerkt, nicht nur im Sport so. Auch hinsichtlich anderer Lebens- und Wirtschaftsbereiche war die SU erheblich stärker dezentralisiert als der "erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden".)


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Fotos: www.shooting-ua.com, Der Sportschütze.

Montag, 6. Juli 2009

Sonntag, 22. April 2007

Die Silowiki - Dichtung und Wahrheit

In den letzten Jahren hat sich ein Topos im journalistischen wie im wissenschaftlichen Schrifttum über die russische Innenpolitik verfestigt und fast schon axiomatische Qualität erlangt: Die sog. Silowiki, also Vertreter der Machtstrukturen (Militär, Polizei und Nachrichtendienste) hätten im Laufe der Präsidentschaft Wladimir Putins de facto die Herrschaft im Land übernommen. Die Folge sei eine zunehmende "Militarisierung der Gesellschaft".
Besonders fleißig beim Schreiben solcher Geschichten ist Michael Ludwig von der FAZ (aber er ist bei weitem nicht der einzige):

"[…]

Der FSB, so heißt es in manchen Berichten, habe heute fast wieder so viele Mitarbeiter wie einst der KGB. Kritiker sehen aber anderes als wichtiger an: Der gefürchtete KGB habe im neuen Rußland zwar aufgehört zu bestehen, aber viele KGB-Leute hätten den Systemwechsel von 1991 unbeschadet überstanden und seien samt ihrem "Ballast im Kopf" in den neuen Dienst übernommen worden. Noch immer bezeichnen sich seine Mitarbeiter als "Tschekisten", wie die Agenten der in der Sowjetunion durch viele Legenden verklärten Tscheka hießen, Lenins Geheimpolizei. Sie war im Grunde eine bewaffnete Formation der Kommunistischen Partei, die für den - mit Stolz so bezeichneten - "roten Terror" der ersten Jahre der Sowjetherrschaft verantwortlich war. Erst nach Stalins Tod hörten die Massenmorde auf, die von den immer wieder umbenannten Nachfolgeorganisationen der Tscheka begangen wurden, die von dem polnischen Kleinadligen Feliks Dzierzynski zur Revolutionszeit gegründet worden war. Präsident Putin, als ehemaliger KGB-Spion in der DDR und als Direktor des FSB unter Jelzin, selbst ein stolzer "Tschekist", hat immer wieder sinngemäß gesagt, daß die Sicherheit des Vaterlands und der Schutz der Bürger immer die beiden wichtigsten Ziele des Dienstes gewesen seien.

Die Leiterin des Instituts für angewandte Politik, Olga Kryschtanowskaja, hat vor einigen Jahren geschätzt, daß unter Putin etwa 60 Prozent der obersten Führungsposten im Staat mit Angehörigen der Geheimdienste, der Polizei oder des Militärs besetzt worden seien. Nach anderen Schätzungen haben etwa 70 Prozent der engen Mitarbeiter Putins einen geheimdienstlichen Hintergrund. Kritiker Putins behaupten, dieser betreibe die "KGBisierung" des Landes. Putin widerspricht dem nicht und gibt zu verstehen, daß Geheimdienstler über ein hohes Maß an Professionalität verfügten und nun für die Demokratie arbeiteten.

Nur wer in Putin hineinzuschauen vermöchte, könnte beurteilen, ob der Mann aus Sankt Petersburg dies tatsächlich glaubte. Die politische Praxis unter Putin zeigt indessen, daß unter seiner Führung eine forsche Zentralisierung der Macht stattgefunden hat, während der Männer aus dem FSB in den Provinzen an Schlüsselpositionen gesetzt wurden. Möglicherweise glaubte Putin, das Land nur so in den Griff zu bekommen und Stabilität garantieren zu können. Sollte, wie bisweilen vermutet wird, der frühere Geheimdienstagent und derzeitige Verteidigungsminister Sergej Iwanow tatsächlich zu Putins Favoriten für die 2008 anstehende Nachfolge im Präsidentenamt gehören, dann würde das dafür sprechen, daß Putin alles tut, damit sein Kurs fortgesetzt wird und die Macht des FSB auch künftig gewahrt bleibt. Aber es muß sich erst noch herausstellen, ob das Korsett, das Moskau dem Land verordnet hat, auch über den Tag hinaus wirklich hält.

In der russischen Präsidialverwaltung bilden Politiker mit Geheimdienstvergangenheit heute die wohl wichtigste Gruppierung. Igor Setschin, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung, der dort für Personalpolitik zuständige Viktor Iwanow oder Verteidigungsminister Sergej Iwanow sind sicher die stärksten Figuren dieser Fraktion, die auch in wichtigen Unternehmen Machtpositionen haben. Setschin ist Aufsichtsratsvorsitzender des staatlichen Ölkonzerns Rosneft, der der größte Profiteur der Zerschlagung des privaten Ölkonzerns Yukos ist. Setschin wird nachgesagt, daß er zusammen mit anderen den Plan zur Zerschlagung von Yukos ausgetüftelt habe. Der FSB soll vor drei Jahren seine Untergliederungen in der Provinz angewiesen haben, Belastungsmaterial gegen Yukos zu sammeln. Viktor Iwanow wurde vor zwei Jahren zum Aufsichtsratschef der Fluggesellschaft Aeroflot gemacht. Ein weiterer früherer Geheimdienstler mit sowjetischer Erfahrung und Weggefährte Putins, Walerij Golubjow, wurde erst vor kurzem stellvertretender Vorstandschef des staatlichen Erdgasmonopolisten Gasprom. Damit verstärkt der Kreml seine Kontrollen über Gasprom vor den anstehenden Parlaments- und Präsidentenwahlen in den Jahren 2007 und 2008. Gasprom steht bisher unter Kontrolle der anderen Fraktion im Kreml und wird von den zivilen Petersburgern Aleksej Miller und Dmitrij Medwedjew geführt - letzterer gilt ebenfalls als potentieller Nachfolger Putins. Da verwundert es nicht weiter, daß der eine Sohn von Putins Nachfolger im Amt des FSB-Chefs, Nikolaj Patruschew, als Berater des Aufsichtsrates von Rosneft wirken und der andere Sohn in der Außenhandelsbank für Kredite an Ölfirmen zuständig sein soll.

Die Bevölkerung scheint Putins Auffassung von der "Professionalität" des FSB für den Dienst an Staat und Demokratie zumindest anfangs geteilt zu haben. Man hoffte offenbar auch auf eine gewisse Askese der "Tschekisten", was Korruption angeht. Es läßt sich nicht schwarz auf weiß belegen, und nur ganz selten wird andeutungsweise in Rußland darüber geschrieben - doch diese Hoffnung hat sich wohl nicht erfüllt. Auf Reisen in der russischen Provinz hört man jedenfalls in Gesprächen immer wieder, daß auch die FSB-Leute überall kräftig mitkassierten und private Wirtschaftsinitiativen ebenso gängelten wie andere Behördenvertreter.

Putin hatte dem FSB vor drei Jahren durch einen Erlaß einen erheblichen Machtzuwachs verschafft, indem er ihm die Grenztruppen wieder unterstellte, die Kontrolle über das Zählsystem bei Wahlen gab und ihm durch Wiedereingliederung eines bis dahin gesonderten Dienstes bessere Möglichkeiten zur Überwachung "der Kommunikation" schuf. Anfängliche Versuche in den neunziger Jahren, die Dienste aufzugliedern, damit nicht alle Macht und Kontrolle in einer Hand ist, wurden dadurch in das Gegenteil verkehrt.

[…]

Das erinnert an sowjetische Zeiten. Damals wurde der Geheimdienst vom engsten Zirkel der politischen Partei kontrolliert. Heute läßt die neue Machtstellung des FSB russische Beobachter die Frage stellen, ob Putin die Zügel noch selbst in der Hand halte oder ob er möglicherweise bereits eine Geisel des mächtigen Geheimdienstes oder unterschiedlicher Fraktionen darin sei. Im Zusammenhang mit dem Mord an Litwinenko begann diese Frage erneut die Gemüter zu bewegen. Aber vorläufig fehlen die Antworten."

Dieses Narrativ ist mittlerweile zum Selbstläufer geworden, so daß Ludwig in einem anderen Artikel nur noch kurz ausführen muß:

"[…]

Beobachter sind überzeugt, dass es nicht darauf ankomme, ob Iwanow, Medwedew oder ein anderer vom scheidenden Präsidenten an die Spitze der politischen Pyramide gestellt werde, weil Putin dafür gesorgt habe, dass der Geheimdienst auf jeden Fall an der Macht bleibe."

An anderen Stellen ist von einer Machtübernahme der Silowiki oder gar von einem "Putsch der Spione" die Rede. Und man versucht zu beweisen, daß sich unter dem 'finsteren Agenten' Putin in Rußland eine Art neuer, imperialistischer Sowjetunion entwickelt habe. Durch endlose Wiederholungen dieser Geschichte - allerdings in unterschiedlichen Variationen - kommt kaum noch jemand auf den Gedanken, ihren Wahrheitsgehalt und Erklärungswert zu hinterfragen und dabei Dichtung und Wahrheit voneinander zu trennen.

Die Rußlandanalysen 117 haben sich intensiver mit dem Thema beschäftigt und präsentieren uns ein erheblich differenzierteres Bild als üblich. So erinnert Bettina Renz in ihrem Aufsatz (S. 2 ff.) an russische Muster der Elitenrekrutierung, in denen die Machtministerien schon immer einen besonderen Platz eingenommen haben. Insofern ist die Besetzung staatlicher Ämter mit Silowiki nichts neues, insbesondere dann nicht, wenn es sich um Posten handelt, die selbst in diesen Bereich fallen (z.B. das Amt des Verteidigungsministers).

Eine Analyse der Biographien aller wichtigen Personen innerhalb der russischen Regierung und der Präsidialadministration ergibt kein einheitliches Bild und läßt keine Rückschlüsse auf eine geplante 'Einschleusung' von Silowiki zu. Auch suggeriert dieser Terminus eine geschlossene Personengruppe, die es so nicht gibt, weder soziologisch noch politisch. Es ist schlichtweg nicht nachvollziehbar, weshalb jemand, der vor Jahrzehnten nur seinen zweijährigen Wehrdienst abgeleistet hat genauso dazu zählen soll wie ein Ex-General. Dafür sind die lebensweltlichen Erfahrungen dieser Menschen zu unterschiedlich. Desweiteren wird der Einfluß anderer, ziviler Faktoren in ihrem Leben einfach ignoriert. Warum sollte z.B. bei Putin der Dienst im Nachrichtendienst erheblich mehr Einfluß auf seine Person gehabt haben als sein Jurastudium oder seine Tätigkeit in der St. Petersburger Stadtverwaltung während der 1990er Jahre (gerade aus dieser Zeit stammen einige seiner heutigen Mitarbeiter, z.B. Dimitri Medwedew und German Gref)? Folgte man dem Silowiki-Argument, würde man ferner eine Gemeinsamkeit von politischen Auffassungen und Interessen etwa zwischen Putin, Alexander Lebed und einem beliebigen Dumaabgeordneten der KPRF, der früher Berufssoldat war, annehmen, die sich in der Realität kaum nachweisen läßt.

Renz' Fazit lautet (S. 4):
"[…]

Das Konzept der Silowiki als Werkzeug eines nach einer generell autoritäreren Politik strebenden Präsidenten kann die politische Situation in Rußland höchstens grob umreißen und sollte nicht zu wörtlich genommen werden. Wie der amerikanische Politikwissenschaftler Peter Reddaway treffend bemerkte, haben die Silowiki weder einen „Anführer“, noch eine realistische Möglichkeit zur Koordination ihrer Pläne und Ziele. Die Beschränkung demokratischer Freiheiten, die in Russland in den letzten Jahren und in bestimmten Bereichen, zum Beispiel den Medien, stattgefunden hat, steht außer Frage. Die Erklärung dieser politischen Entwicklungen sollte jedoch auf der Analyse spezifischer politischer Entscheidungen basieren und nicht auf den beruflichen Werdegang von Entscheidungsträgern reduziert werden. Theorien, die versuchen, russische Politik universell zu erklären, ignorieren die Feinheiten des politischen Prozesses und sollten besser durch Ansätze ersetzt werden, die dazu geeignet sind, Entwicklungen in ihrer vollen Komplexität zu erfassen. In den Worten der ehemaligen Moskaukorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz: „Wer versucht, Putin und seine Politik heute eindimensional zu bewerten, riskiert, ganz danebenzuliegen.“"

Mithin sind die abstrakten Zahlen von Olga Kryschtanowskaja (ebd., S. 7 ff.) keine hinreichende Basis für die von ihr selbst und anderen gezogenen reißerischen Schlußfolgerungen. Diese simplifizierende soziologische Analyse ignoriert weitere relevante Faktoren und gerät somit zu einer eindimensionalen Verzeichnung der russischen Wirklichkeit. Was bleibt nun vom Mythos Silowiki übrig? Nicht viel, außer der simplen Tatsache, daß viele der heute in der russischen Politik und Verwaltung tätigen Männer irgendwann in ihrem Leben einmal Uniform getragen haben.

Nun darf darüber spekuliert werden, warum sich gerade das Thema der Silowiki sich in den russischen wie auch den ausländischen Medien einer anhaltenden Beliebtheit erfreut. Bezüglich letzterer könnte der Grund darin liegen, daß damit die alten Geschichten und Schlagworte aus dem Kalten Krieg vom "Reich des Bösen" und dem KGB als dessen ultimativer Verkörperung wieder auferstehen können, was gerade jetzt, da man nicht mehr mit der Schwäche des Landes rechnen kann, von nicht geringem Vorteil sein könnte. In Rußland selbst bietet eine unterstellte Vorherrschaft der Silowiki gerade für die politisch einflußlose Opposition die Möglichkeit, die Ursachen für ihre Erfolglosigkeit zu externalisieren und somit nicht nach eventuellen eigenen Fehlern fragen zu müssen.

Was dabei komplett verloren gegangen ist, ist ein internationaler Vergleich des Einflusses von 'Silowiki' in ihren jeweiligen Staaten, wohlgemerkt: in "westlichen" Staaten. Hierbei wird man wohl zuerst an Israel denken, denn eine nicht geringe Anzahl israelischer Politiker aus allen politischen Lagern des Landes hat eine Militärkarriere hinter sich, z.B. Mosche Dayan, Chaim Herzog, Ezer Weizmann, Jitzchak Rabin, Ariel Scharon, Ehud Barak und Amir Peretz.
Betrachtet man in den USA allein die Präsidenten, so findet man auch dort eine erkleckliche Anzahl von Politikern mit einer Militär- oder Nachrichtendienstvergangenheit: George Washington, Andrew Jackson, Ulysses S. Grant, Theodore Roosevelt, Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower, John F. Kennedy, Gerald Ford, George H. W. Bush und dessen Sohn George W. Bush.
Selbst in der besonders zivilen Bundesrepublik Deutschland sind 'sie' zu finden, etwa Helmut Schmidt, Manfred Wörner, Klaus Kinkel, Jörg Schönbohm oder August Hanning.
Angesichts dieser bunten Mischung ist die Absurdität der Behauptung offensichtlich, alle diese Männer hätten gleiche oder zumindest ähnlich gelagerte politische Meinungen und Interessen, nur weil sie einen Teil ihres Berufslebens in Sicherheitsorganen verbracht waren.

Ob sich damit auch die Story von den russischen Silowiki erledigt hat, die uns immer so einen schönen Schauer über den Rücken jagt?