Montag, 16. Februar 2009

Iwans Krieg

Im Jahr 2005 hat die britische Historikerin Catherine Merridale unter dem Titel "Iwans Krieg" eine sozialgeschichtliche Studie über die Rote Armee während des Zweiten Weltkriegs vorgelegt. Dafür hat sie viel Lob erhalten, schließlich sind bei diesem Thema Arbeiten, die sich um die Perspektive der Soldaten (und Zivilisten) "von unten" her bemühen, Mangelware. Hier liegt auch die Stärke des Buches: Die Autorin hat zahllose Dokumente, Tagebucheinträge und Feldpostbriefe ausgewertet und zudem Gespräche mit über hundert Kriegsveteranen geführt. Insoweit füllt das Buch eine echte Leerstelle aus. Es gelingt ihr, Einzelschicksale zu verfolgen und so ihren Lesern nicht eine graue Masse, sondern Individuen vorzustellen - mit allen Aspekten des menschlichen Lebens.
Allerdings hat es nicht das Zeug, um sich zum Standardwerk zu entwickeln, denn es enthält zu viele Fehler, die man einer Geschichtsprofessorin, die über ein explizit militärhistorisches Thema schreibt, nicht großzügigerweise nachsehen kann.

Zum Teil handelt es sich um Übersetzungsfehler, die freilich ebenfalls ins Gewicht fallen. Einige der schönsten Blüten möchte ich meinen Lesern nicht vorenthalten. So heißt es z.B. auf S. 92, daß die Hauptwaffe der Infanterie "ein magazingestütztes Bolzengewehr mit Bajonett" gewesen sei, das zudem noch aus dem 19. Jahrhundert stammte. Im Original steht dort wahrscheinlich "bolt-action rifle", was allerdings mit Repetiergewehr zu übersetzen ist. Gemeint sind damit die Mosin-Nagant-Gewehre und -Karabiner, die allerdings nicht so furchtbar unmodern waren, wie von der Autorin (und ihren wohlwollenden Rezensenten) suggeriert: Das deutsche 98er System war ebenso wie das britische ebenfalls eine Entwicklung des 19. Jh.

An einer anderen Stelle ist von "Karriereoffizieren" statt Berufsoffizieren die Rede und auf S. 125 mutiert der Weißrussische Bahnhof in Moskau zur "Station Weißrussland" (hier zeigt sich die Inkompetenz des Übersetzers am deutlichsten). Auf S. 81 wird von einem "kleinen Kessel" gesprochen, der zur Ausrüstung der Soldaten gehört habe. Vermutlich ist damit jener Gegenstand gemeint, den man im Deutschen als Kochgeschirr bezeichnet.
Ebendort heißt es weiter:

"Nur die Offiziere erhielten Handwaffen, gewöhnlich Nagan-Revolver, ein Modell aus dem späten 19. Jahrhundert."
Im Deutschen und Englischen wird dieses Revolvermodell aber, nach seinem belgischen Konstrukteur, als Nagant tituliert, auch wenn in der russischen Sprache "Nagan" (in einer veralteten Transkription) zum Fachbegriff für Revolver jedweder Art geworden ist (so, wie andernorts "Colt"). Desweiteren werden Revolver (und Pistolen) i.d.R. nicht nur als Hand(feuer)waffen, sondern spezifischer als Faustfeuerwaffen bezeichnet. Damit waren allerdings bei weitem nicht nur Offiziere, sondern etwa auch Panzerbesatzungen ausgerüstet. Ferner dürfte es Merridales Weltbild erschüttern, wenn sie erfährt, daß bereits 1934 eine neue Ordonnanzpistole in die Rote Armee eingeführt worden ist: die TT-33 "Tokarew". Bis zum Juni 1941 waren davon schon mehr als 600.000 Exemplare an die Truppe ausgeliefert worden.

Zwischenfazit: So unmodern war die Rote Armee nicht bewaffnet. Zudem werden technische und taktische Entwicklungen - wie etwa der massenhafte Einsatz von Maschinenpistolen und die damit verbundene Infanterietaktik - höchstens am Rande gestreift oder aber überhaupt nicht erwähnt. Stattdessen überwiegt die Schilderung der Zustände in der Roten Armee in den dunkelsten Farben, weshalb man sich fragen muß, wie diese in jeder Hinsicht "schlechte" Armee einen Krieg gewinnen konnte. Die Antworten darauf bleiben bei Merridale leider dürftig.

Es ist der Vorteil dieser zahllosen Übersetzungsfehler, daß viele bereits am Anfang des Buches auftauchen und man als einigermaßen sachkundiger Leser schon deshalb die Sinne schärft und nicht unkritisch weiterliest. Die starken Seiten des Buches liegen dort, wo Merridale zeitgenössische Quellen und Veteranen zu Wort kommen läßt und so die Perspektive der einzelnen Soldaten darstellt. Bis dato standen dafür zumeist nur Memoiren zur Verfügung, die noch zu Sowjetzeiten erschienen und entsprechend gefärbt waren, sowohl sprachlich als auch inhaltlich.
Wenn die Autorin hingegen versucht, die großen Linien von Politik, Strategie und dem Militär insgesamt nachzuzeichnen, erleidet sie häufig Schiffbruch. (Damit bestätigt sie auch die Vorbehalte, die ich gegenüber den Konzepten der Alltags- und Sozialgeschichte schon vorher hatte.) Wer als Leser nach einer Gesamtdarstellung der Roten Armee im 2. WK sucht, kann mit diesem Werk kaum etwas anfangen. So werden z.B. Fragen der Organisation fast gar nicht behandelt.

Einen wichtigen Aspekt hat sie allerdings mustergültig herausgearbeitet: Der "Große vaterländische Krieg" war das mit Abstand einschneidendste Ereignis in der Geschichte der Sowjetunion. Nach 1945 war nichts mehr so wie vor 1941. Ähnlich wie in Deutschland, so war auch dort jeder Bürger vom Krieg betroffen, häufig in sehr direkter Art. Von daher kann es nicht überraschen, daß dieser Krieg in der Erinnerung der Menschen der (früheren) Sowjetunion eine herausragende Stellung innehat, an der z.B. auch die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen wenig ändert. Im Krieg ist erst die wirkliche sowjetische Identität geschaffen worden und nichts war für die sowjetische Gesellschaft - auch emotional - wichtiger als der Sieg, der den gewaltigen Opfern (über 20 Mio. Tote) einen Sinn gegeben hat.

Leider verflüchtigt sich diese Erkenntnis im Laufe des Buches. Schuld daran ist freilich weniger die (sehr gute) Quellenlage, sondern vielmehr die Vorurteile der Autorin, die es ihr unmöglich machen, über ihren eigenen Schatten zu springen. Erstens betrifft dies die Hierarchie der Leiden, die von Merridale aufgestellt wird. Während sie zuvor ausführlich referiert hatte, wie in der SU bereits 1941 die ersten Massenmorde an den Juden durch deutsche Einsatzgruppen bekannt geworden und auch in den Medien behandelt worden sind, so behauptet sie später, es habe in der SU keine angemessene Würdigung der Shoa gegeben und es sei den Juden der ihnen gebührende erste Rang in der Opferhierarchie verwehrt worden (vgl. S. 361 ff.). Insoweit zeigt sich Merridale als echte Vertreterin der westeuropäischen Historiographie: So sei an die Ermordeten von Babi Jar nicht in ihrer Eigenschaft als Sowjetbürger, sondern in der als Juden zu erinnern.

Dieser rhetorische Kunstgriff beruht freilich nicht nur auf den Vorurteilen der Autorin, sondern auch auf ihrer Unfähigkeit zur ordentlichen Begriffsbildung. So oszilliert der gesamte Text zwischen den Begriffen "sowjetisch" und "russisch" hin und her, ohne sie sauber zu definieren. Erst auf den S. 361 f. äußert sie sich dazu:
"Zwar führte die Sowjetunion diesen Krieg, aber in der Roten Armee dienten mehr Russen als Angehörige anderer ethnischer Gruppen. [...] In der Heimat lösten sie einen Patriotismus aus, der dem Namen nach sowjetisch, doch in der Sache russisch war."
Hier sitzt Merridale einem weitverbreiteten Irrtum der westeuropäischen Geschichtswissenschaft auf, nämlich daß es so etwas wie eine sowjetische Identität nie gegeben habe. (Auf S. 468 hingegen relativiert sie diese Auffassung wieder im Hinblick auf den Heimatbegriff.)
Besagter Irrtum ist eher aus dem Wunschdenken der Außenstehenden als aus einer Analyse der Wirklichkeit in der UdSSR geboren. Auch ich muß bekennen, ihm früher angehanden zu haben, vor allem wegen des Eindrucks, den der postsowjetische Nationalismus auf mich gemacht hat. Die Wirklichkeit war komplexer. Wie sollten sich z.B. Ehepaare definieren, in denen der eine Partner Ukrainer, der andere Georgier war und die beide aus beruflichen Gründen erst in Moskau und dann in Nowosibirsk lebten? Zumal die Ethnien, aus denen sie stammten, schon jahrzehntelang unter dem staatlichen Dach der UdSSR (und zuvor des Russischen Kaiserreiches) zusammengelebt hatten. Der "Homo sovieticus" war keine Schimäre der kommunistischen Propaganda, sondern Realität. Die SU hat es tatsächlich geschafft eine allen Ethnien gemeinsame Identität zu stiften, aus der wiederum der Sowjetpatriotismus folgte. Und warum sollte gerade ein Georgier namens Stalin, der in seiner engsten Umgebung viele weitere Georgier um sich geschart hat (z.B. Berija) und der von einem Ukrainer (Chruschtschow) beerbt werden sollte, einen ethnisch-russischen Nationalismus fördern? Die RSFSR war nur eine von 15 Unionsrepubliken - und im Gegensatz zur Ukraine und Weißrußland nicht Mitglied der UNO.

Gegen besagte These ließen sich noch viele weitere Argumente vortragen. Zwei sollen jedoch genügen: Warum finden auch heute noch in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken am 9. Mai, dem Tag des Sieges, Militärparaden und Volksfeste statt? So z.B. in Belarus, der Ukraine, Armenien und Aserbaidschan. Man kann dies kaum anders erklären als mit dem Vorhandensein von Überresten der gemeinsamen sowjetischen Identität, die insbesondere durch den 2. WK gefördert worden ist (s.o.). Zweitens: Warum hat bei der Volksabstimmung vom März 1991 über den neuen Unionsvertrag - und damit den Fortbestand der UdSSR - eine Mehrheit von drei Vierteln für den neuen Vertrag gestimmt, wenn die gesamte Bevölkerung angeblich nichts sehnlicher wünschte als die Unabhängigkeit? Das Ende der Sowjetunion war somit eher ein Werk der politischen Eliten denn eins des Volkes. (NB: Diese nüchterne Feststellung impliziert keinerlei Sowjetnostalgie!)

Doch zurück zum Buch von Catherine Merridale. Was eben schon angeklungen ist, zieht sich durch den ganzen Text: Zu vielen Fragen hat sie mindestens zwei Meinungen, ohne sich auf eine festzulegen. Das zeigt sich auch bei den ausführlich erörterten Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Rotarmisten 1945. Was war die Ursache: Notzucht oder Rache? Merridales Antwort lautet: Sowohl als auch entweder oder. Dieses Phänomen ist für den Leser sehr unbefriedigend, zumal die Autorin alles andere als meinungsscheu ist. Ein anderes Beispiel: Erst berichtet sie von der Bestrafung eines Soldaten wegen judenfeindlicher Äußerungen, dann wird die offizielle Duldung antisemitischen Verhaltens behauptet. Das paßt nicht zusammen!

Interessant ist ferner, welche prominenten Zeugen im Buch erwähnt und welche mit Schweigen übergangen werden. So wird Lew Kopelew - Anfang 1945 als Offizier der Roten Armee in Ostpreußen eingesetzt - rund ein Dutzend Mal zitiert, während Alexander Solschenizyn - der zur gleichen Zeit in derselben Region war und an der Front verhaftet und später in den Gulag geschickt wurde - keinerlei Erwähnung findet, obwohl auch er in "Ostpreußische Nächte" und "Schwenkitten '45" das sowjetische Vorrücken nach Deutschland literarisch verarbeitet hat. Vermutlich fehlte es Solschenizyn in Merridales Augen zuletzt aber an einer hinreichend "oppositionellen" Haltung in Bezug auf die derzeitige Regierung der Rußländischen Föderation. Oder er hatte im Gegensatz zu Kopelew einfach das Pech, nichtjüdischer Herkunft zu sein. Also Nichtbeachtung.

Resümee: "Iwans Krieg" hat bei mir einen gemischten Eindruck hinterlassen. Der sozial- und alltagsgeschichtliche Ansatz war neu und für das Thema erfrischend. Hervorzuheben ist insoweit die solide Quellenarbeit der Autorin. Dies macht das Buch lesenswert: Wie haben sowjetische Soldaten zur Zeit des Zweiten Weltkrieges gelebt, welche Gedanken, Eindrücke und Empfindungen hatten sie, wie hat sich ihre gesellschaftliche Umwelt dargestellt. Soweit jedoch die "Haupt- und Staatsaktionen" der (Militär-)Geschichte betroffen sind, weist das Buch erhebliche Mängel auf. (Insofern ist Figes' "Tragödie eines Volkes" erheblich besser.) Da es sich nicht als Standardwerk eignet, ist von einer isolierten Lektüre durch spezifisch militärhistorische Fachliteratur abzuraten. Wer einen Überblick über die Rote Armee sucht, ist mit anderen Titeln besser beraten. (Einige werde ich hier demnächst nennen.)


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