Samstag, 19. Mai 2007

Werte und Außenpolitik

In der Debatte über das Verhältnis zu Rußland (ebenso wie bei anderen internationalen Fragen) tauchen immer wieder die Behauptungen auf, Europa sei eine "Wertegemeinschaft" oder man müsse für die weltweite Verbreitung "westlicher Werte" sorgen, zur Not auch gegen seine Interessen. So schreibt etwa dieser Journalist:
"[...]

Europäer und Russen verfügen fraglos über eine hohe Dichte gemeinsamer Interessen, weshalb eine gute Zusammenarbeit in den von Putin erwähnten Fragen wichtig ist. Deshalb müssen die Europäer den Russen dabei auch entgegenkommen. Das gilt jedoch nicht für die gemeinsamen Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie. Hier muss Russland nicht nur der europäischen Entwicklung "entgegenkommen", hierbei muss Russland zur europäischen Entwicklung aufschließen."
Ich hatte hier bereits früher meine Vorbehalte gegen die - auch in innenpolitischen Fragen - hierzulande in Mode gekommene Beschwörung von Werten geäußert. Die seit der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (1958) aufgekommene Rede vom Grundgesetz als "objektiver Werteordnung", die über die konkreten Rechtsnormen hinausreiche, hat dazu wesentlich beigetragen. Dabei stellt dieses Wertordnungsdenken lediglich eine Aushilfe dar, da man, wie Günter Dürig bemerkt hat, bei der Formulierung des Grundgesetzes keinen transzendentalen Bezug herstellen konnte (von der Anrufung Gottes in der Präambel einmal abgesehen). Bedauerlicherweise hat diese 'säkulare Aushilfe' mittlerweile eine Karriere gemacht, die die Durchsetzung bestimmter Werte schon fast als Wert an sich (;-)) erscheinen läßt. Fraglich bleibt daher insbesondere, welchen Nutzen das Abstellen auf bestimmte Werte in der internationalen Politik haben soll - vom rhetorischen einmal abgesehen. Außerdem: Welche "Werte" sollen in diesem Kontext gelten, wer definiert sie und wer postuliert ihre Geltung? Vielleicht ist es der Kinderglaube, daß, wenn alle das gleiche denken und fühlen würden, auf Erden das Paradies herrschen müßte?

Jedenfalls hat sich nun auch Robert Spaemann des Themas angenommen und legt im Cicero dar, weshalb Europa kein Werteverbund sein sollte:
"[...]

Wenn ich von der Gefährlichkeit der Rede von der Wertegemeinschaft spreche, dann möchte ich den Blick lenken auf die Tendenz, die Rede von Grundrechten allmählich mehr und mehr zu ersetzen durch die Rede von Grundwerten. Mir erscheint dies in keiner Weise harmlos. Zwar ist es, wie ich zu Beginn sagte, natürlich so, dass der Kodifizierung von Rechten und Pflichten durch eine Verfassung Wertungen, Wertschätzungen zugrunde liegen. Und es ist wichtig, dass in einem Gemeinwesen solche tragenden Wertschätzungen öffentlich gestützt und weitergegeben werden. Die Situation eines Landes wie Algerien ist nicht wünschenswert. Dort wurde der Mehrheitswille durch eine Militärdiktatur an seiner Verwirklichung gehindert, weil dieser Mehrheitswille eben gerade nicht westliche Demokratie, sondern islamisches Recht will. In dieser Situation gibt es nur die Wahl zwischen zwei verschiedenen Diktaturen, einer traditionellen und demokratischen auf der einen Seite, einer emanzipatorischen Minderheitendiktatur auf der anderen. Ein auf allgemeinem Wahlrecht beruhender, durch Grundrechte eingeschränkter Parlamentarismus kann nur existieren, wenn die Mehrheit des Volkes das will. Aber eben dies kann durch die Institutionen des Rechts zwar gefördert, nicht aber garantiert werden. Wenn der Staat dies garantieren will, dann muss er selbst zu dem werden, was er gerade ausschließen soll, zu einer Gesinnungsdiktatur, oder, wie es heute euphemistisch heißt, einer „Wertegemeinschaft“.

Das Dritte Reich war zweifellos eine Wertegemeinschaft. Sie nannte sich „Volksgemeinschaft“. Die damals als die höchsten betrachteten Werte: Nation, Rasse, Gesundheit standen allemal über dem Recht, und der Staat war, ähnlich wie im Marxismus, nur eine Agentur dieser höchsten Werte. Darum stand die Partei, die den Werten unmittelbar verpflichtet war, im Zweifelsfall immer über dem Staat. Nun gibt es gewiss immer wieder Situationen, in denen Bürger den Gehorsam gegen ein Gesetz verweigern, weil dieses Gesetz ihren Überzeugungen von fundamentalen Rechten des Menschen widerspricht. Wo aber die Staatsgewalt – unter Berufung auf höhere Werte – es für legitimiert erachtet, Menschen etwas zu verbieten, ohne dass dies gesetzlich verankert wäre, da ist Gefahr im Verzug. Hier fünf Beispiele für diese Gefahr:

1. Seit einigen Jahren hat ein Begriff in die politische Sphäre Einzug gehalten, der dort von Rechts wegen nichts zu suchen hat: der Begriff der „Sekte“. „Sekte“ ist ein negativ besetzter Ausdruck, mit dem traditionelle christliche Kirchen kleinere christliche Gemeinschaften bezeichnen, die sich von diesen Kirchen aus Gründen des Glaubensbekenntnisses oder der religiösen Praxis abgespalten haben. In der Sprache der staatlichen Rechtsordnung hat dieser Begriff eigentlich nichts verloren. Jeder Zusammenschluss von Bürgern aufgrund gemeinsamer Überzeugungen muss dem Staat gleich gelten, solange er nicht gegen die für alle geltenden Gesetze verstößt oder zu solchem Verstoß auffordert. Das ist aber leider nicht mehr der Fall. Sekten werden unter staatliche Beobachtung gestellt, es wird von Staats wegen vor ihnen gewarnt, und ihre Mitglieder werden von öffentlichen Ämtern möglichst ferngehalten. In dem neuen politischen Verständnis sind Sekten Gemeinschaften, die sich durch gemeinsame Überzeugungen definieren, Überzeugungen, die von denen der Mehrheit der Bürger oder der politischen Klasse abweichen. Kriterium für den Sektencharakter einer Gruppe ist ferner, dass sie für ihre Überzeugung missionarisch wirbt, und schließlich, dass sie einen starken Binnenzusammenhalt besitzt, oft auch eine strenge hierarchische Struktur sowie manchmal eine charismatische Persönlichkeit an ihrer Spitze.

Da all diese Kriterien vage sind und da es in liberalen Staaten bisher nicht verboten ist, solchen Gemeinschaften anzugehören, ist die Aufnahme in den Katalog der Sekten eine Ermessensfrage für die Inhaber des öffentlichen Interpretationsmonopols, und ihre Verfolgung geschieht in der Regel durch informellen Druck, vor allem durch Diskriminierung ihrer Mitglieder. Warum kann ein Staat etwas gegen Sekten haben? Nur darum, weil er anfängt, sich selbst als „Gemeinschaft“, als Wertegemeinschaft zu verstehen, als Großkirche, die Dissidentengemeinschaften ausschließt.

[...]

Die christlichen Kirchen sind schlecht beraten, wenn sie ihre Sektenkritik mit der staatlichen verbinden und sich nicht schützend vor diese Gruppen stellen, auch wenn sie deren Überzeugungen für falsch halten. Wenn sie weiter wie bisher schrumpfen, ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis sie selbst öffentlich als Sekten wahrgenommen werden. Dass die gegenwärtige Katholische Kirche eine Großsekte sei, kann man bereits bei Hans Küng lesen, und wenn man die eben genannten Kriterien zugrunde legt, ist das nicht einmal falsch. Aber nun beginnt der staatliche Arm, sich eine Zivilreligion zuzulegen. Die mühsam erworbene Errungenschaft des liberalen Rechtsstaats wird wieder preisgegeben, wenn der Staat sich als Wertegemeinschaft versteht, auch wenn es eine „liberale“ Wertegemeinschaft ist, die Liberalismus als Weltanschauung statt als Rechtsordnung versteht. Die Sektenverfolgung ist ein ziemlich sicherer Indikator für die hier drohende Gefahr, die Gefahr eines liberalen Totalitarismus.

2. Ein weiterer Indikator ist es, wenn staatliche Institutionen aufgeboten werden, um bestimmte verfassungskonforme politische Positionen öffentlich zu ächten. So versucht man in Deutschland – sehr im Unterschied z. B. zur Schweiz – eine öffentliche Diskussion um die Frage der Zuwanderung von Ausländern dadurch zu verhindern, dass restriktive Positionen oder gar ein ethnisch-kulturelles Selbstverständnis der Nation als unanständig tabuisiert und mit den Gewalttätigkeiten gegen Ausländer in Beziehung gebracht werden. Das Selbstverständnis eines Staates soll nicht dem Risiko eines demokratischen Diskurses ausgeliefert werden. Dass so etwas in der politischen Auseinandersetzung geschieht, muss man hinnehmen. Gefahr ist nicht im Verzug, wenn Demonstrationen „gegen rechts“ stattfinden. Gefahr ist im Verzug, wenn der Staat bis hin zum deutschen Bundespräsidenten diese Kundgebungen organisiert oder ihnen höhere Weihen gibt. Außerdem ist es ein Offenbarungseid staatlicher Ohnmacht. Das Mittel des Staates gegen Gesetzlosigkeit und Gewalt – von Inländern gegen Ausländer und von Ausländern gegen Inländer – ist die Polizei; darüber hinaus besteht es in der staatsbürgerlichen Erziehung, die den Respekt vor rechten und linken Positionen vermittelt sowie die Ablehnung von Gewalt, wie immer diese sich rechtfertigen mag. Der Staat als „Bündnis gegen rechts“ – das ist die Wertegemeinschaft anstelle des Staates, und hier müssen die Alarmglocken läuten.

[...]

4. Das vierte Beispiel ist der Kosovo-Krieg. Er ließ bereits ahnen, was auf uns zukommen sollte und mit dem Irakkrieg ja auch tatsächlich auf uns zukam. Dieser Krieg wurde bekanntlich geführt im Namen „unserer Werte“. Nun dient ein Interventionskrieg zur Verhinderung der Vertreibung eines ganzen Volkes aus seiner Heimat zweifellos einer „gerechten Sache“. (Man wundert sich allerdings, dass der deutsche Außenminister erst anlässlich dieses Falles die Entdeckung machte, dass es Angriffskriege zugunsten einer gerechten Sache gibt.) Mit dem geltenden Völkerrecht war die Führung eines solchen Krieges allerdings unvereinbar, worauf unter anderem Henry Kissinger und Helmut Schmidt hingewiesen haben. Das Völkerrecht erkennt nur noch den Verteidigungskrieg gegen Angriffe auf das eigene Territorium oder das Territorium verbündeter Staaten an. Was deshalb Anlass zu Bedenken gibt, ist, dass der neue Sachverhalt nicht etwa zu einer Revision der völkerrechtlichen Ächtung des Angriffskriegs führt – durch präzise Definition anerkannter Rechtfertigungsgründe für einen solchen – sowie zur Kündigung der entgegenlautenden bisherigen Verträge. Die „Werte“, um die es ging, ermächtigten vielmehr diejenigen, die in ihrem Namen handelten, die geltenden Rechtsnormen einfach zu ignorieren. Auch hier wieder: Wer im Namen der Wertegemeinschaft handelt, steht über dem Recht. Man nannte das einmal Totalitarismus.

[...]

Aber was heißt dann „Wertegemeinschaft?“ Es ist nicht die nicht institutionalisierbare, verborgene Gemeinschaft derer, die versuchen, das Gute zu erkennen und zu tun, sondern die organisierte Gemeinschaft derer, die die Wahrheit bereits gefunden haben, man könnte sagen: die Parodie der christlichen Kirche. Denn diese Wahrheit ist die, dass es mit Bezug auf gut und böse so etwas wie Wahrheit nicht gibt. Die Menschenrechte sind etwas, worauf wir uns geeinigt haben. Der Versuch, auch Menschen anderer Kulturen zu deren Anerkennung zu bewegen, krankt eben an diesem Begriff der Wertegemeinschaft. Denn wenn „unsere Werte“ das Ergebnis unserer Geschichte und unserer Optionen sind, dann gibt es keinen Grund – außer einen rein machtpolitischen – ,andere auf unsere Optionen einzuschwören, also z.B. darauf, die Menschenwürde überall in Institutionen parlamentarischer Demokratien und individualistischer Menschenrechte zu konkretisieren. Werte sind aber in Wirklichkeit niemals das, wofür wir optieren, sondern das, was allen Optionen vorausgeht und diese Optionen begründet, also das, woran wir wirklich glauben. Wofür wir, aufgrund dieses Glaubens, optiert haben und optieren, das ist eine Rechtsordnung.

Die Wertebasis einer modernen Rechtsordnung aber verlangt, dass die Rechte der Bürger, des Zusammenschlusses von Bürgern, nicht davon abhängen, ob diese Bürger diese Wertebasis teilen, vorausgesetzt, sie gehorchen den Gesetzen. Auch wenn dieser Gehorsam nur der ist, der auch einer fremden Besatzungsmacht entgegengebracht wird, um das Weiterleben zu ermöglichen. Man gehorcht auch ihr, aber nicht, weil man ihrer Wertegemeinschaft angehört, sondern weil man den Wert des inneren Friedens kennt, pax illis et nobis communis, wie Augustinus schrieb. Das künftige Europa wird nur dann eine Rechtsgemeinschaft sein können, in der alle Bürger der Länder europäischer Tradition ein gemeinsames Dach finden, wenn es Gemeinschaften mit gemeinsamen Wertschätzungen ermöglicht und schützt, selbst aber darauf verzichtet, eine Wertegemeinschaft zu sein."
Spaemann arbeitet hier sehr schön den Unterschied zwischen einer Rechts- und einer Werteordnung heraus und zeigt schlüssig den totalitären Charakter des Insistierens auf letzterer auf. An die Stelle des rechtsförmlich geregelten Umgangs miteinander treten sowohl innerhalb eines Staates als auch zwischen den Staaten bestimmter Überzeugungen, die zur Not auch mittels eines "Kreuzzugs" durchgesetzt werden.
Spaemanns Aufsatz ist eine weite Verbreitung zu wünschen, damit die Ideologen der "westlichen Wertegemeinschaft" in ihrem unseligen Tun dadurch behindert werden mögen. Aber ob diese - auch in der politischen Klasse Deutschlands - überhaupt das intellektuelle Niveau besitzen, um ihn zu verstehen? (Zumindest bei Richard Herzinger darf man daran zweifeln.)

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