Heute vormittag wurde auf 3sat die ORF-Diskussionsrunde Europastudio zum Thema "Wohin geht Russland?" wiederholt. Unter der Moderation des altgedienten Paul Lendvai diskutierten Susanne Scholl (ORF-Korrespondentin in Moskau) sowie die drei Wissenschaftler Maria Huber (Leipzig), Gerhard Mangott (Innsbruck) und Andrej Zagorski (Moskau) über die aktuelle Entwicklung im Land.
Den Verlauf der Debatte kann und will ich hier nicht wiedergeben (ein Video ist leider nicht online), wohl aber einen Eindruck, den ich gewonnen habe. Es hatten sich recht bald drei Lager herauskristallisiert, wobei Zagorski und Lendvai häufig, aber nicht durchgängig, mit Scholl konform gingen. Ihre These von der in Rußland wiederauferstandenen Sowjetunion traf auf allgemeine Ablehnung, ebenso - allerdings schon schwächer - ihr Lob Jelzins. Frau Scholl zeichnete in der Sendung das übliche düstere Bild: schwache Wirtschaft, Rohstoffabhängigkeit, demographische Misere, Unterdrückung der Opposition, Zensur etc. pp. Und an allem ist ihrer Meinung nach - natürlich - Putin schuld. Als sie von den anderen Diskutanten zunehmend kritisiert und korrigiert wurde, und als diese versuchten, etwas mehr der russischen Wirklichkeit entsprechende Farbe in ihr Schwarz-weiß-Gemälde zu bringen, reagierte sie zunehmend unwirsch und gereizt. Valide Einwände wurden rüde abgebügelt und Lendvai mußte sie sogar beruhigen. Dem Anschein nach durfte - frei nach Palmström - etwas, das sie nicht für relevant hält, auch nicht relevant sein.
Dieser Ablauf scheint mir durchaus typisch für die deutschsprachigen Debatten über Rußland zu sein, weshalb ich denke, daß man daraus einige generalisierbare Folgerungen ziehen kann, die nachfolgend thesenartig vorgetragen werden.
1. Es existiert offenkundig unter Journalisten, insbesondere den Rußlandkorrespondenten, so etwas wie eine 'herrschende Meinung'. Deren augenblickliche Fixpunkte sind u.a.: Putin ist schlecht und hat kaum etwas Positives erreicht, Jelzin war gut und hat einiges Positives erreicht, die derzeitige Entwicklung Rußlands ist negativ. Möglicherweise wird die Herausbildung dieser Einheitsmeinung durch Besonderheiten des Journalistendaseins befördert (Gruppendruck - was schreiben die anderen? -, Redaktionsvorgaben etc.).
2. Selbige Einheitsmeinung wird (nur mit leichten Nuancen versehen) über die Massenmedien - vor allem das Fernsehen sowie Tages- und Wochenzeitungen - dem durchschnittlichen Medienkonsumenten eingeflößt, der selbst kein Russisch spricht und schon deshalb auf die Vermittlung angewiesen ist - sofern er sich überhaupt etwas intensiver für Rußland interessiert und nicht nur ein paar wenige, immer gleiche Schlagworte oberflächlich registriert.
3. Die entsprechenden Journalisten bilden fast einen abgeschlossenen, exklusiven Zirkel, dessen Mitglieder elitäre Gefühle entwickeln: Sie sind Informationsquellen und Meinungsmacher zugleich, die für ihr mutiges Ausharren in einer neuen Diktatur Respekt verdienen.
4. Durch diese hohe Selbstwertgefühl, verbunden mit dem 'common sense', zu dem sich das herrschende Narrativ dieser Gruppe mittlerweile gesteigert hat, geht die Bodenhaftung verloren und eventuell geäußerte Kritik an der simplifizierenden Einheitsmeinung wird ohne weiter nachzudenken abgebügelt. - Dumm nur, wenn diese Kritik von Personen vorgetragen wurde, die genauso viel von Rußland verstehen, wie der Journalist selbst und daher auch an seinem hohen Ego 'kratzen'. Aber 'zum Glück' (für ihn - Pech für die Medienkonsumenten) haben diese Leute nicht die gleiche mediale Reichweite wie er, weshalb sich an der alltäglich verkündeten Botschaft nichts ändern wird. Dadurch kann er denen zeigen, wer in der Sache Recht hat, wichtig ist und über Einfluß verfügt.
5. Nachdem diese sich selbst und gegenseitig verstärkenden Prozesse eine gewisse Zeit abgelaufen sind, kommt es zu einer Verengung des Blickfeldes, so daß der Journalist nur noch das sieht, was er auch sehen will. Die Folge ist eine selektive und fiktionale Wahrnehmung der Wirklichkeit, die dann wiederum in die Heimat übermittelt wird. Usw. usf.
Soweit die amateurhaften Überlegungen eines Nicht-Kommunikationswissenschaftlers. Natürlich weiß ich, daß nicht alle Journalisten so sind, allerdings scheint es auf die Mehrheit zuzutreffen, weshalb ich mich über Ausnahmen um so mehr freue. Im Falle Rußlands ist man in Europa und Nordamerika während der 1990er Jahre schon einmal den besonders von den Medien geschürten und verbreiteten Illusionen erlegen - Stephen Cohen hat es eindeutig beschrieben (siehe hier und hier). Soll das gleiche jetzt wieder passieren?
PS: Der Autor dieses Blogs bemüht sich darum, zu der unter 4. genannten kritischen Gruppe zu gehören, ist sich aber der Grenzen seiner Wirksamkeit durchaus bewußt.
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