Donnerstag, 10. Mai 2007

Eine deutsche Außenpolitik gibt es nicht

Diese Position vertritt Peter Scholl-Latour in einem schon etwas älteren Aufsatz im Cicero, der leider bis heute meiner Aufmerksamkeit entgangen ist. Gewohnt meinungsstark und stringent argumentierend plädiert er u.a. für eine deutsche Atombewaffnung. Unbedingt lesenswert, auch wenn man seine Auffassungen vielleicht nicht teilen mag:

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Eine deutsche Außenpolitik, die diesen Namen verdient, gibt es ebenso wenig wie ein deutsches strategisches Konzept. Die Schuld daran ist nicht nur den in Berlin agierenden Parteien und Politikern anzulasten. Die überstürzte Ausweitung der Europäischen Union auf 27 Mitglieder mit extrem divergierenden Interessen hat den Kontinent und somit auch Deutschland jeder resoluten Handlungsfähigkeit beraubt. Im militärischen Bereich ist der Atlantischen Allianz mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Gegner abhandengekommen. Seitdem hat sich die Nato „out of area“ in eine zeitlich und räumlich unbegrenzte Phantomjagd auf den internationalen Terrorismus eingelassen.

Wer die Dinge beim Namen nennt, setzt sich in den deutschen Medien unweigerlich dem diffamierenden Vorwurf des Antiamerikanismus aus. Dabei sind es prominente amerikanische Politiker, die George W. Bush als den verhängnisvollsten Politiker in der Geschichte der USA anprangern. Die Chance einer „pax americana“, die nach dem Ende des Kalten Krieges durchaus bestand, ist durch den blinden Bellizismus der Bush-Administration wohl endgültig verspielt worden. Heute gilt es für die Deutschen, endlich den Unterschied zu erkennen zwischen dem Nordatlantischen Bündnis Europas mit Amerika, das den existenziellen Bedürfnissen beider Kontinente und ihrer kulturellen Affinität entspricht, und andererseits der konkreten Struktur dieser Allianz – North Atlantic Treaty Organization, die seit Beilegung des Ost-West-Konflikts obsolet wurde und sich für die europäischen Partner zunehmend negativ auswirkt.

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Die Deutschen sollten endlich begreifen, dass im Extremfall nicht die perfektionistischen Abwehrsysteme glaubwürdigen Schutz gegen die nukleare Bedrohung durch blindwütige Feindstaaten bieten, sondern – in Ermangelung eines kontinentalen Konsens – die nationale Verfügung über eine eigene atomare Abschreckung. Frankreich hat aus dieser Erkenntnis mit der Schaffung seiner „Force de dissuasion“ längst die Konsequenz gezogen. Im Deutschen Bundestag, wo schon die zivile Nutzung der Kernenergie mehrheitlich verworfen wird, würde die Erwähnung eines ähnlichen Projektes einen Orkan der Entrüstung auslösen. Die Zeiten, da unter Kohl und Mitterrand – bei aller Loyalität gegenüber Washington – über eine enge militärische Symbiose zwischen Deutschland und Frank­reich beraten wurde, gehören offenbar der Vergangenheit an. Einer Kanzlerin, die in der Uckermark beheimatet ist, kann man schwerlich „karolingische“ Visionen zumuten. In Paris wiederum ist den Epigonen de Gaulles der Sinn für die „grandeur“ des Abendlandes abhanden gekommen.

Seit George W. Bush und seine neokonservative Umgebung trotz gelegentlicher Beschwichtigung an die europäische Adresse am Unilateralismus der US-Politik festhalten und die wirklich relevanten Staaten sich frei nach Nietzsche als „kälteste aller Ungeheuer“ zu erkennen geben, wirken die Beteuerungen von Nibelungentreue, wie sie aus dem Berliner Reichstag über den Atlantik klingen, naiv und unzeitgemäß. Wer kann es übrigens Wladimir Putin verübeln, dass er den Aufbau neuer Lenkwaffenstellungen an seiner Westgrenze, die mit einem von Warschau geschürten „Drang nach Osten“ der Nato und der EU einhergeht, als Provokation empfindet und adäquate Gegenmaßnahmen trifft. Hat bei den patentierten Kreml-Kritikern jemand bedacht, wie wohl die amerikanische Öffentlichkeit reagieren würde, wenn russische Ingenieure ihre Raketensysteme – unter welchem Vorwand auch immer – in Venezuela, Nicaragua oder gar Kuba einbetonierten?

Hier offenbart sich ein grundlegendes Dilemma der aktuellen deutschen Außenpolitik. Wie soll eine diplomatische Leitlinie für 27 Mitgliedstaaten der EU getroffen werden, wenn die osteuropäischen Beitrittsländer weit mehr auf Washington als auf Brüssel ausgerichtet sind. Die Konvergenz zwischen Deutschland und Russland, die – unabhängig von Schröder und Putin – einer historischen Tradition und vor allem einer zwingenden ökonomisch-industriellen Komplementarität entspricht, stößt somit auf das Misstrauen der Vereinigten Staaten einerseits, die sich einer Verselbstständigung Berlins von der exklusiven atlantischen Einbindung diskret, aber nachhaltig entgegenstemmen, sowie andererseits auf die offene Kritik der ehemaligen Sowjetsatelliten, denen die Annäherung zwischen Berlin und Moskau, beziehungsweise St.Petersburg, allzu oft zum historischen Verhängnis wurde. Kein Wunder, dass das Interesse Osteuropas an der Europäischen Union sich im Wesentlichen auf die Überwindung bestehender finanzieller Engpässe und die Verheißung ökonomischer Prosperität beschränkt. Machtpolitik, wie es die Stunde erheischen würde, unter gemeinsamer Einflussnahme auf die globalen Entwicklungen lässt sich mit einem so bunt karierten Haufen nicht bewirken.

Seit dem Debakel von Bagdad, an dem gemessen die US-Niederlage in Vietnam rückblickend als Episode erscheint, drängt sich der Zweifel an der Fähigkeit Amerikas auf, den Herausforderungen des „asymmetrischen Krieges“, der globalen Auseinandersetzung mit den verzettelten Brandherden der islamischen Revolution erfolgreich zu begegnen. So wie die US-Army in Falludscha hat ja auch die israelische „Zahal“ im Südlibanon feststellen müssen, dass alle technologischen Wunder der modernen Rüstungsindustrie gegen einen taktisch perfektionierten Kampf ihre Wirkung verfehlen, dass jegliche Verwüstungen und „Kollateralschäden“ angerichtet werden. Es wäre überdies an der Zeit, dass die deutsche Regierung, als treuer und aufrechter Verbündeter, auf gewisse unverantwortliche Husarenritte der Bush-Regierung aufmerksam machen würde. Während man auf Capitol Hill verzweifelt nach einem halbwegs ehrenhaften Ausweg aus dem irakischen „quagmire“ sucht, bricht das Pentagon den Raketenstreit mit Russland vom Zaun, hält Vizepräsident Dick Cheney Brandreden gegen die angeblich weltbedrohende Aufrüstung Chinas. Präsident Bush fegte die überaus vernünftigen Vorschläge der Baker-Hamilton-Kommission vom Tisch und schickt sich an – wie viele Experten befürchten – im Verbund mit Israel einen Vernichtungsschlag gegen die iranischen Nuklearanlagen zu führen. Unterdessen erwägt man in Berlin lediglich ein Verschärfung der Sanktionen gegen Teheran, was sich als wirkungslos erweisen wird, und versucht mit dem gewohnten Zweckoptimismus die Einsicht zu verdrängen, dass ein Kriegseintritt Irans der militärischen Präsenz der USA im Irak ein jähes Ende setzen würde.

Allzu viele Berliner Parlamentarier verweigern sich der Einsicht, dass der Krieg im Irak – wie US-Verteidigungsminister Robert Gates diskret eingesteht – bereits verloren ist, dass eine Ausweitung des Konfliktes auf Iran sich zum Desaster für den ganzen Westen erweisen würde und – was Deutschland unmittelbar betrifft – dass der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen ist. Auch am Hindukusch und nicht nur in Mesopotamien müssen Überlegungen darüber angestellt werden, wie man den auf Dauer unvermeidlichen Rückzug aus Afghanistan ohne allzu schmerzlichen Gesichtsverlust und vor allem ohne hohe eigene Verluste vorbereitet.

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Schon fordert der niederländische Generalsekretär der Nato, de Hoop Scheffer, der dem amerikanischen Präsidenten jeden Wunsch von den Lippen abliest, dass die aus europäischen Kontingenten rekrutierte „Nato Response Force“ bis zu einer Stärke von 300000 Mann aufgebläht werde, um jene Mannschaftslücken zu füllen, die aus der mangelnden Wehrbereitschaft amerikanischer Freiwilliger und der Verstrickung in immer neue Konflikte aufgerissen wurden. Dass es sich bei dieser Nato-Truppe um „eine sich selbst finanzierende europäische Fremdenlegion im Dienste amerikanischer Interessen“ handeln würde, wagen nur angesehene amerikanische Publizisten wie William Pfaff auszusprechen. Vielleicht werden sich die führenden deutschen Medien endlich der systematischen Zweckentfremdung der Atlantischen Allianz und der eigenen Unterwürfigkeit bewusst, wenn die Forderung des Pentagon nach Ausweitung der Allianz auf den Pazifischen Raum, auf den Nato-Beitritt Australiens, Neuseelands, sogar Japans und Südkoreas sich bewahrheiten sollte. Eine solche Orientierung in Richtung auf den Stillen Ozean könnte von Peking nicht anders denn als ein bedrohliches Einkreisungsmanöver gewertet werden. Die deutschen Abgeordneten, die als Polit-Touristen China bereisen und die Repräsentanten dieser uralten Kultur immer wieder mit erhobenem Finger zur Übernahme westlicher Demokratiebegriffe ermahnen, täten besser daran, die amerikanischen Verbündeten von einer umzingelnden Stützpunktstrategie gegen das Reich der Mitte abzubringen, die den Europäern nur Nachteile bescheren kann.

In Afghanistan, so hat sich Brent Scowcroft, der frühere Sicherheitsberater des Präsidenten Bush senior geäußert, werde sich entscheiden, ob die Nato an der derzeitigen Krisensituation zerbricht. Die Missstimmigkeiten häufen sich und werden auch nicht durch den willfährigen Einsatz von sechs deutschen „Beobachtungsflugzeugen“ vom Typ Tornado ausgeräumt. Das irakische Szenario scheint sich am Hindukusch zu wiederholen. Seit drei Jahren liegen der deutschen Regierung ernüchternde und realistische Lagebeurteilungen der örtlichen Kommandeure, des BND und eines klarsichtigen Botschafters vor, die das Unternehmen am Hindukusch als „mission impossible“ definieren. Aber die deutschen Regierungsparteien weisen diese Erkenntnis ebenso konsequent von sich, wie die Bush-Administration seinerzeit die Warnungen missachtete, die ihr über den voraussichtlichen Verlauf des Irak-Feldzuges aus diversen verlässlichen Quellen vorlagen.

Entgegen einer gezielten Desinformationskampagne würde die Welt nicht untergehen, wenn die Nato-Koalition Afghanistan räumen und die dortigen Stämme ihrem Schicksal überließe, wie das übrigens dem Wunsch der Bevölkerung entspricht. Auf die Höhlen des Hindukusch ist Al Qaida längst nicht mehr angewiesen, seit diese nebulöse Terrororganisation in der pakistanischen Nord-West-Region Zuflucht findet und ihre Kampfkraft auf den Schlachtfeldern des Irak erprobt.

Immerhin hat sich in Berlin Widerspruch geregt, als der Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Steven Hadley, die freie Verfügung des amerikanischen Nato-Befehlshabers in Kabul über das deutsche Isaf-Kontingent und dessen Einsatz im heiß umkämpften Süden und Osten des Landes anforderte. So weit, so gut. Der wirkliche Skandal hat sich in den letzten Tagen der rot-grünen Koalition ereignet, als der Bundestag mit erdrückender Mehrheit, aber ohne jede Debatte und sachlicher Erörterung die faktische Verschmelzung der ursprünglich grundverschiedenen Militäreinsätze „Enduring Freedom“ und als Isaf sowie die Aufstockung der deutschen Truppen auf 3000 Mann akzeptierte.

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Das große Thema der deutschen Außenpolitik ist höchst unerfreulich und könnte beliebig ausgeweitet werden. So unbedarft darf kein Minister sein, dass er glaubt, die fünf Vetomächte würden Deutschland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat einräumen. Die reale Autorität und das Durchsetzungsvermögen der Vereinten Nationen werden in Berlin ohnehin maßlos überschätzt. Die militärischen Einsätze der Blauhelme – soweit diese auf sich selbst gestellt waren – endeten stets mit einem erbärmlichen Fiasko. Es nützt auch wenig, im Konflikt um das Heilige Land als „ehrlicher Makler“ aufzutreten, wenn man aus der „road map“ lediglich die Anerkennung Israels durch die mehrheitlich gewählte Hamas-Bewegung herausliest und die prinzipielle Forderung nach Wiederherstellung des Territorialbestandes von 1967 beiseitelässt. In der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit der sich auf Maschreq und Maghreb ausweitenden islamischen Revolution wäre es an der Zeit, dass die Bundesregierung ihr Augenmerk vorrangig auf die unmittelbare Nachbarschaft, auf die muslimischen Balkan-Völker der Albaner und Bosniaken richtet, die einem diskriminierenden Protektorat der „Internationalen Gemeinschaft“ unterstellt bleiben.

Die ungebrochene Beliebtheit, deren sich die Deutschen weiterhin im ganzen Dar-ul-Islam erfreuen und die durchaus nicht nur auf die Bewunderung für Hitler zurückzuführen ist, wird unweigerlich in dem Maße schrumpfen, wie die Bundesrepublik sich von der manichäischen Weltaufteilung in Gut und Böse korrumpieren lässt, die der Vision des amerikanischen Präsidenten vorschwebt. Die Tragödie des Abendlandes besteht darin, dass der Schwund amerikanischer Glaubwürdigkeit in Verteidigungsfragen einhergeht mit einer selbst verschuldeten militärischen Kastration der Europäer. Seit neben Israel und Indien auch die extrem labile Islamische Republik Pakistan sich in den Atomclub drängte, wird das Fortschreiten der nuklearen Proliferation auf Dauer gar nicht zu verhindern sein. Auch dieser Realität muss man ins Auge blicken.

Wie wird die deutsche Bevölkerung reagieren, wenn ihr Staat in den Sog jenes „Clash of civilizations“ gerät, dem Eu­ropa – die eigene Identität verleugnend und die eigene Wehrkraft vernachlässigend – gar nicht entrinnen kann. Was geschieht, wenn in Berlin oder Hamburg die Bomben von Terroristen explodieren oder falls die Europäische Union aus ihrem südlichen oder östlichen Umfeld massiver Erpressung und Einschüchterung ausgesetzt wäre?

Bis dahin sollte die Bundeswehr sich von den überalterten Nato-Schablonen gelöst haben und über die Mittel verfügen, notfalls auch im nationalen Alleingang, am besten aber im engen Verbund mit den französischen Schicksalsgefährten, diesen Gefahren mit vernichtenden Gegenmaßnahmen, notfalls auch mit gezielten „preemptive strikes“ zu begegnen. Dabei kommt es nicht auf die Massen an, sondern auf die kriegerische Eignung einer hochtrainierten Truppe und ihrer speziellen Eingreifkommandos. Diejenigen europäischen Partner, die sich wie Tony Blair als „Pudel Amerikas“ behandeln lassen und die kontinentale Einigung lediglich als eine Art Freihandelszone zu akzeptieren bereit sind, würden dann ihrem eigenen Hang zum Rückfall in Zwist und Missgunst überlassen bleiben. Die deutschen Politiker ihrerseits, die mit ihren endlosen internen Querelen gelegentlich an das christliche Byzanz erinnern, dessen Senat unmittelbar vor der Eroberung der „Polis“ durch die osmanischen Heerscharen Mehmet II. über das Geschlecht der Engel debattierten, würden ihren Auftrag sträflich verfehlen, wenn sie sich nicht eine Überlebensmaxime zu eigen machten, die Napoleon zugeschrieben wird: „Gouverner c’est prévoir“ Regierungskunst gründet sich auf Vorausschau.

[...]"

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