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Dienstag, 7. Juni 2011
Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung
Am vergangenen Freitag hatte ich Gelegenheit, in Berlin an der deutsch-russischen Konferenz „Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa“, die anläßlich des bevorstehenden 70. Jahrestages der Operation „Barbarossa“ veranstaltet wurde, teilzunehmen. (Das Programm ist hier zu finden.) Nachfolgend wird auf einige Aspekte dieser Veranstaltung eingegangen, an der auf beiden Seiten namhafte Politiker und Wissenschaftler teilgenommen haben.
In den Einführungsreferaten von Botschafter Wladimir Grinin und dem Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Walter Momper wurde die seit 20 Jahren erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland, etwa auf dem Gebiet der öffentlichen Verwaltung, betont. Momper konnte hier aus seiner Erfahrung der Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Moskau berichten. Ähnliches wurde von anderen Teilnehmern vorgetragen. Am unproblematischsten sei die Kooperation auf den Gebieten Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft.
Im ersten, primär historischen Teil kamen jeweils zwei Historiker aus Deutschland und der RF zu Wort, die durch Co-Referate anderer Teilnehmer ergänzt wurden. Von besonderem Wert waren die Einlassungen Jochen Laufers und seines Kollegen Alexej Filitow, die gemeinsam am nunmehr vierten Band der Quellenedition „Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948“ arbeiten, der sich insbesondere die Berlinkrise 1948 widmen wird. Schon jetzt deutet sich an, daß dadurch – ebenso wie durch Laufers eigene Forschungen – mancher hierzulande populäre Mythos ins Wanken kommen dürfte.
Laufers These: Nach Kriegsende 1945 richtete sich keine sowjetische Aggressivität nach außen. Vielmehr ging es um eine Absicherung des während des Krieges eroberten Machtbereichs in Osteuropa (Repressivität). In Fragen, die über dieses Territorium hinausgingen, wie z.B. die Meerengenfrage, zeigte Stalin eine erstaunliche Flexibilität und Kompromißbereitschaft.
Daran anschließend fragte Peter Schulze, ob man sich im Westen dessen bewußt gewesen sei und ob der Aufbau gewaltiger Militärapparate nicht möglicherweise instinktiv (also ohne genaue Bedrohungsanalyse) erfolgte.
Im übrigen zeichneten sich Alexander Tschubarjan, Boris Chawkin und Nikolaj Schmeljow durch sachliche und ausgewogene, die neuesten Forschungsergebnisse widerspiegelnde Beiträge aus, die den Verfasser dieser Zeilen für seine weiteren Forschungen angeregt haben.
Besonders Tschubarjan gelang es, die schwierige Gemengelage in der sowjetischen Führung, die sich aus dem Fehlen eines formalisierten und zentralisierten Entscheidungsverfahrens ergab, darzulegen. Manche Entscheidungen der Stalin-Ära werden womöglich nie endgültig zu erklären sein, denn es fehle z.T. schlicht an zeitgenössischen Quellen. Stalin habe vieles nicht schriftlich fixiert und seine Mitarbeiter hätten oft keine eigenen Aufzeichnungen hinterlassen. So auch Molotow, der sich zudem noch kurz vor seinem Ableben in den 1980er Jahren – also lange nach Stalins Tod – weigerte, auf wichtige Fragen sowjetischer Historiker zu antworten. Das hat im konkreten Fall zur Folge, daß die rußländischen Historiker etwa auf die deutschen Protokolle von Molotows Verhandlungen mit Ribbentrop und Hitler zurückgreifen müßten, da es keine Aufzeichnungen der sowjetischen Teilnehmer gebe.
Erhellend auch Peter Jahns Referat über „Täter- und Opferdiskurse in der Kriegserinnerung der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit“, der den langsamen Wandel von der Verdrängung der Verbrechen und dem überhöhten Opfermythos von der „Verteidigung des christlichen Abendlandes“ an den fernen Ufern der Wolga hin zur Aufarbeitung nachzeichnete.
Dies veranlaßte eine Konferenzteilnehmerin zu dem durchaus treffenden Kommentar, daß die Niederlage im Zweiten Weltkrieg für die heutigen Deutschen identitätsstiftend geworden sei und sie aus der Vergangenheitsbewältigung neues Selbstbewußtsein – auch auf der internationalen Bühne – zögen.
Damit hatte die Dame schon vorweggenommen, was sich im weiteren Verlauf der Tagung zeigen sollte: Viele der deutschen Teilnehmer haben das Thema „Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa“ strikt in einen historischen und einen aktuellen Teil getrennt und so getan, als hielte die Geschichte keine Lehren für die Gegenwart bereit. Die russischen Teilnehmer waren hingegen durchweg bemüht, beides in ihren Betrachtungen zu verbinden.
Alexej Gromyko (übrigens der Enkel des früheren sowjetischen Außenministers) benannte drei Syndrome aus der deutsch-sowjetischen Vergangenheit, die z.T. bis in die Gegenwart wirken: das Versailles-Syndrom (Ausschluß der UdSSR aus der europäischen Sicherheitsarchitektur in Gestalt des Völkerbundes), das München-Syndrom als Symbol für Uneinigkeit und das 22.-Juni-Syndrom als Beschreibung der militärischen Überraschung. Ferner meinte er, falls der berühmte Shukow-Plan vom 15. Mai 1941 – also ein sowjetischer Präventivschlag in den seit Ende 1940 erkannten deutschen Truppenaufmarsch hinein – umgesetzt worden wäre, stünde die Sowjetunion heute noch viel stärker am Pranger als ohnehin. Mithin waren Stalins Weisungen, die jegliche „Provokation“ des Dritten Reiches ausschließen wollten, der einzig gangbare Weg, damit sich der spätere Aggressor nicht auf die Position der Selbstverteidigung zurückziehen konnte.
Daran anschließend drehte sich die Tagung um Probleme der Gegenwart und der mittelfristigen Zukunft. Der darin an prominenter Stelle behandelte Transnistrienkonflikt ist es aufgrund seiner Besonderheiten wert, in diesem Blog demnächst gesondert behandelt zu werden.
Die Bundestagsabgeordneten Gernot Erler und Manfred Grund führten u.a. zur Außenpolitik der Europäischen Union aus. Die EU wolle sich mittels ihrer Nachbarschaftspolitik mit einem Ring befreundeter Staaten umgeben. Gleichzeitig erklärte Erler prononciert, das klassische Denken in Einflußsphären gehöre dem 19. Jahrhundert an und habe im 21. Jh. keine Zukunft. Diese These ruft indes beim Betrachter Erstaunen hervor, denn die Staaten, die mittels der Nachbarschaftspolitik an die EU gebunden werden sollen, wären im Ergebnis nichts anderes als eine exklusive und hierarchische Einflußsphäre der EU. Das geht soweit, daß diese Staaten einen Teil des Gemeinschaftsrechts („aquis communautaire“) übernehmen sollen, ohne allerdings an Formulierung dieser Rechtsakte in irgendeiner Form beteiligt zu sein.
Manfred Schünemann und Peter Schulze haben die sich daraus ergebenden Differenzen zwischen Deutschland bzw. der EU und Rußland sehr treffend resümiert: Die EU will in Osteuropa zwar Freunde haben – aber ausschließlich zu den in Brüssel formulierten Spielregeln. Auf der anderen Seite ist die Rußländische Föderation durchaus zur Integration in europäische Strukturen bereit – aber nur zu gemeinsam ausgehandelten, nicht zu einseitig diktierten Bedingungen.
Man könnte es auch anders formulieren: Der „Westen“ erwartet oft, daß die RF in zentralen politischen Fragen einseitig in Vorleistung geht, ohne daß eine Gegenleistung jenseits eines „feuchtwarmen Händedrucks“ oder freundlichen Schulterklopfens absehbar ist. Früher, namentlich mit Präsident Jelzin, hatte man damit regelmäßig Erfolg, doch seit einigen Jahren ist Moskau immer weniger dazu bereit und erwartet – ganz „altmodisch“ – eine konkrete und einigermaßen gleichberechtigte Zusammenarbeit (Stichwort: Win-win-Situation).
Dieses Dilemma zog sich durch die gesamte Konferenz; seine Auflösung erscheint derzeit kaum möglich, auch wenn seine nüchterne Benennung schon ein Gewinn für die weitere Debatte ist.
Des weiteren wurden von den Referenten und Diskutanten zahlreiche Detailfragen angesprochen, deren Erörterung hier nicht möglich ist. Einer der Höhepunkte war zweifelsohne der Vortrag des Brigadegenerals a.D. Klaus Wittmann, der in erfreulicher Offenheit über das Verhältnis der NATO zu Rußland sprach. Deshalb soll seinen Einlassungen hier etwas mehr Raum gegeben werden, zumal er sämtliche relevanten Punkte angeschnitten hat.
Zunächst konstatierte Wittmann, daß der „Westen“ und Rußland heute keine gegenseitige Bedrohung darstellten; die Kriegsgefahr in Europa gehe gegen Null. Beide Seiten stünden vor gemeinsamen Bedrohungen und Herausforderungen (z.B. Drogenhandel, Terrorismus, Proliferation von ABC-Waffen). Der NATO-Gipfel in Lissabon habe erste Fortschritte gebracht, die jedoch noch nicht konkret genug seien. Die NATO müsse bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zur RF ambitionierter vorgehen und brauche ein grundsätzlich neues Programm, das vor allem die Möglichkeiten zur Kooperation betone, denn der Versuch, europäische Sicherheit nicht mit, sondern gegen Rußland zu erreichen, brächte neue Risiken.
Als Probleme bzw. Fehler, die die NATO in der Vergangenheit gemacht habe, benannte er u.a. ein Mißverstehen der russischen Psychologie (Vermitteln eines Gefühls der Ausgeschlossenheit), westlichen Triumphalismus („wir haben den Kalten Krieg gewonnen und ihr habt verloren“) sowie die Nichtratifikation des Angepaßten KSE-Vertrages durch sämtliche Mitgliedsstaaten der NATO, was im Ergebnis zu einem Rückschlag bei der konventionellen Rüstungskontrolle geführt habe.
Insofern unterscheidet sich der Brigadegeneral deutlich (und wohltuend) von einem anderen Referenten – Hannes Adomeit –, dessen Einlassungen in Vortrag und Diskussion sich auf den Tenor bringen lassen, daß die Russen an sämtlichen Problemen im Ost-West-Verhältnis allein schuld seien. Auch einige von Wittmanns Lösungsvorschlägen sind praxisorientiert und erscheinen durchaus realisierbar. So z.B. ein neuer Ansatz für den gescheiterten und inhaltlich mittlerweile obsoleten AKSE-Vertrag, ein neues Format für den NATO-Rußland-Rat, in dem vor allem die gemeinsamen Interessen ausgelotet werden sollen, oder eine verstärkte Kooperation der NATO mit der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS/CSTO), insbesondere hinsichtlich der Probleme in und um Afghanistan.
Andererseits zwingen manche seiner Einlassungen zur kritischen Nachfrage. So meint Wittmann, der Vorwurf, die NATO habe in den 1990er Jahren aus der Schwäche Rußlands Kapital gezogen und sich nach Osten ausgedehnt, sei unberechtigt. Dabei dürfte dies für jeden verständigen Betrachter, der eine Landkarte lesen kann, evident sein. Auch seine Zweifel, es habe seitens der NATO keine Zusagen für den Verzicht auf eine Ostausdehnung gegeben, werden bei einem Blick in zeitgenössische Quellen widerlegt. Was sonst sollte z.B. der Sinn von Artikel 5 Absatz 3 des Zwei-plus-vier-Vertrages sein? Warum sollten seitens der NATO-Staaten 1990 nicht auch weitere, freilich nicht rechtsverbindliche Erklärungen mit ähnlichem Inhalt abgegeben worden sein?
Ferner hat Wittmann (wie auch Erler und Grund) mehrfach ein neues außen- und sicherheitspolitisches Denken innerhalb Rußlands eingefordert. Vor allem die Eliten in Politik und Militär sollten von den überkommenen Denkmustern des Kalten Krieges Abstand nehmen. Dieser Vorwurf ist zum Teil durchaus berechtigt, solche Personen gibt es, auch unter den Journalisten und Publizisten. Allerdings übersieht der frühere General ebenso wie die beiden Abgeordneten zweierlei: Erstens erscheinen einige der rußländischen Vorbehalte durchaus berechtigt, wenn man die Sache nicht aus der Berliner, Brüsseler oder Washingtoner Perspektive betrachtet, sondern von Moskau aus. Deshalb geht der implizit mitschwingende Vorwurf der Irrationalität des russischen Denkens fehl und deutet eher auf einen Mangel an eigener Empathie hin.
Zweitens sollte, gerade wenn ein gemeinsamer Neuanfang gewünscht wird, nicht verschwiegen werden, daß das politische Denken in den Schemata der Blockkonfrontation auch in den NATO-Staaten noch virulent ist. Ist hier etwa kein Umdenken erforderlich?
Es mutet beispielsweise seltsam an, wenn im März diesen Jahres der amerikanische Director of National Intelligence, James Clapper, vor dem Senat davon spricht, daß Rußland für die USA eine schwere Bedrohung darstelle, gegen die man sich unbedingt wappnen müsse. Oder wenn die Außenministerin Hillary Clinton vor dem Kongreß unumwunden einräumt, daß die US-Regierung einen Informationskrieg gegen Rußland (und andere Staaten) führt und dafür neue Haushaltsmittel anfordert. Oder, drittens, der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey, der Rußland mehrfach als „faschistische“ „Diktatur“ beschimpft hat.
Derart „altes Denken“ findet sich in den NATO-Staaten nicht nur auf der politisch-strategischen Ebene, sondern auch auf der militärisch-taktischen. In der Zeitschrift Visier Nr. 3/2010 (S. 131) wird berichtet, daß sich im Pflichtenheft für die Maschinenpistole MP 7 explizit die Forderung befunden habe, daß die kleinkalibrige Munition der MP 7 fähig sein soll, ballistische Schutzwesten rußländischer Produktion zu durchschlagen. Weshalb will die NATO mit ihren Waffen unbedingt russische Schutzwesten durchdringen können? Warum genügen keine abstrakten Kriterien für derartige Tests? Eine Antwort drängt sich auf: Selbstverständlich betrachtet die NATO Rußland nach wie vor als ihren möglichen Hauptfeind, gegen den sich die eigenen Rüstungsanstrengungen zu richten haben.
Drittens sei ein Beispiel für das von Wittmann kritisierte alte Denken genannt, das aus dem Bereich des deutschen „Otto-Normalbürgers“ stammt. Vor einigen Jahren hatte ich eine rußlandbezogene Diskussion mit einem Bekannten aus Hessen, der, als ihm die Argumente ausgingen, bekannte: „Mein Großvater hat gewußt, daß der Feind im Osten steht; mein Vater hat gewußt, daß der Feind in Osten steht; und ich weiß es auch.“ Der junge Mann, dessen genannte Vorfahren bei den Panzertruppen von Wehrmacht und Bundeswehr dienten, war seinerzeit bekennendes Mitglied der Jungen Union und zudem Akademiker, weshalb ich ihm eine bessere Reflektionsfähigkeit zugetraut hätte. Doch nein, statt dessen kam platte Russophobie zum Vorschein, die nicht einmal die – mittlerweile gut dokumentierte – verbrecherische Dimension der deutschen Kriegführung der Jahre 1941 bis 1945 erkennen wollte.
Die Überwindung alter und tiefsitzender Vorurteile und eigentlich obsoleter Denkschemata ist also keineswegs nur in Rußland, sondern auch in den Mitgliedsstaaten von NATO und EU eine drängende Aufgabe. Anderenfalls bleiben vertrauensbildende Maßnahmen im Stadium der guten Absicht stecken.
Leider wurde dies am Freitag von keinem der Teilnehmer thematisiert, denn dann hätte man auch über die Rolle der Medien sprechen müssen. In denen des „Westens“ dominiert seit Jahren ein eindeutig negatives Rußlandbild. Mittlerweile kann dies schon mittels empirischer Untersuchungen belegt werden. Und wenn es ein Medium wagen sollte, gegen diese Einseitigkeit anzuschreiben und sich um mehr Ausgewogenheit und Realitätssinn zu bemühen, dann wird es von den Platzhirschen des Meinungsmonopols – wie etwa in diesem Fall – sofort der „Kreml-Propaganda“ bezichtigt, die die ahnungslosen Deutschen verwirren solle.
Angesichts dessen dürfte das angemahnte und notwendige Umdenken zumindest in Deutschland schwer sein. Die Russen leben ihrerseits schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr hinter dem „eisernen Vorhang“, der sie nicht nur von Reisen, sondern auch von Informationen aus dem Rest der Welt abgeschnitten hat. Im Gegenteil, Webportale wie InoSMI.ru, auf denen täglich zahlreiche rußlandbezogene Artikel aus der internationalen Presse ins Russische übersetzt werden, erfreuen sich großer Beliebtheit. D.h. „Iwan-Normalbürger“ weiß recht genau, wie negativ und z.T. feindselig im Ausland über ihn und sein Land geschrieben wird.
Es liegt auf der Hand, daß dies innerhalb der rußländischen Gesellschaft nicht ohne Rückwirkungen bleiben kann. Die von manchen ausländischen Beobachtern beklagte „anti-westliche“ Stimmung der letzten Jahre ist zu einem Großteil darauf zurückzuführen. Politik und Medienberichterstattung des „Westens“ gegenüber Rußland sind für manche Russen die Bestätigung dafür, daß die Feindbilder sowjetischer Provenienz gar nicht so falsch gewesen sein können. Und damit dreht sich die Spirale des „alten Denkens“ weiter …
Der Begriff erinnert natürlich an das von Michail Gorbatschow in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre propagierte „Neue Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik. Bedauerlicherweise sind diese Ansätze der gemeinsamen Sicherheit, wie sie auch für die OSZE geplant waren, schon lange steckengeblieben und werden nur noch selten, je nach aktuellem Bedarf, instrumentalisiert. Die OSZE kann die ihr zugedachte Rolle eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems nicht erfüllen, weil einige Staaten ein (auch in Übersee aktives) Militärbündnis bevorzugen. Erfreulicherweise wurde auf der Konferenz auch von deutscher Seite mehrfach eine größere Bedeutung der OSZE angemahnt, auch wenn das von Präsident Medwedew vorgeschlagene Projekt eines Vertrages über europäische Sicherheit keinerlei Aussichten auf eine Realisierung hat.
Ein letzter Punkt, der nicht nur von Wittmann, sondern auch von anderen deutschen Teilnehmern betont wurde, war die Aufforderung, die Deutschen sollten in den Beziehungen zu Rußland Alleingänge vermeiden und nur in Abstimmung mit ihren Partnern in NATO und EU agieren. Grund hierfür seien historisch bedingte Befindlichkeiten in den neuen Mitgliedsstaaten der beiden Organisationen. Die wechselvolle Geschichte z.B. Polens als Argument gegen gute deutsch-russische Beziehungen anzuführen, halte ich für gewagt. Denn entgegen der von einigen polnischen Nationalisten verbreiteten Mythen war Polen im 20. Jahrhundert keineswegs ein wehrloses Opfer „der Russen“. Nicht nur der 1919 vom Zaun gebrochene Krieg, der die Eroberung eines Intermarium genannten polnischen Imperiums bezweckte und u.a. zur Einnahme von Kiew führte, spricht dagegen. Erstaunlich ist, daß dieser Konflikt von manchen polnischen Historikern heute als „Verteidigungskrieg“ verkauft wird (passenderweise in englischer und deutscher Sprache). Bemerkenswert ist ferner, daß von den 16000 bis 20000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die zwischen 1919 und 1924 in polnischem Gewahrsam umgekommen sind, heute kaum noch gesprochen wird, während alle Welt weiß, was 1940 in Katyn und anderen Orten geschehen ist. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen …
Wenn bestimmte Kreise in den osteuropäischen Staaten meinen, einen großteils irrationalen Russenhaß pflegen zu müssen, um ihre nationale Identität zu erhalten, dann ist dies bedauerlich genug. Wir Deutschen sind durch unsere Mitgliedschaft in NATO und EU jedoch nicht dazu verpflichtet, uns die dort populären Geschichtsklitterungen und -mythen zu eigen zu machen. Die Abläufe waren zumeist erheblich komplexer und weniger schwarz-weiß.
Des weiteren legen neuere Forschungen den Schluß nahe, daß die Mitgliedsstaaten von Warschauer Vertrag und RGW keineswegs die willenlosen Objekte sowjetischer Vorherrschaft waren, als die sie heute oft dargestellt werden. Im Gegenteil, die Führungen dieser Staaten haben konsequent eigene Ziele verfolgt und sie der SU bisweilen sogar aufgezwungen. Auch hinsichtlich dieses Punktes wird die Historiographie in den nächsten Jahren hoffentlich dazu beitragen, ein realistischeres Bild der jüngeren Geschichte zu zeichnen.
Zudem sollte nicht vergessen werden, mit welchen Argumenten in den 1990er Jahren in der deutschen Öffentlichkeit die NATO-Osterweiterung beworben wurde. Da hieß es z.B., man dürfe kein Sicherheitsvakuum in Europa entstehen lassen, weshalb die Einbindung der osteuropäischen Staaten in die NATO auch im Interesse Rußlands liegen sollte. Ein interessantes Argument – doch hat die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt, daß es nicht zutrifft.
Der Schutzmantel der NATO-Mitgliedschaft hat insbesondere in den drei baltischen Republiken dazu geführt, daß deren Politik immer konfrontativer wurde. Und zwar nicht nur gegenüber der RF als Staat, sondern auch gegenüber den jeweiligen ostslawischen Minderheiten. So sind mittlerweile aus Estland mehrere Fälle bekannt, in denen estnische Ärzte russischsprachigen Patienten die Behandlung verweigert und beschimpft haben – sogar dann, wenn die Patienten bereits die estnische Staatsbürgerschaft erworben hatten (was bekanntlich nicht ganz einfach ist). Dieses Verhalten ist skandalös und hat – zu Recht – zur Entlassung der betreffenden Ärzte geführt.
Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß offenkundig Teile der baltischen Mehrheitsbevölkerung einem radikalethnischen Nationalismus huldigen, welcher in den selbsternannten „Wertegemeinschaften“ NATO und EU eigentlich keinen Platz haben sollte. Beide Organisationen werden im Baltikum jedoch vor allem als Schutzschild gegen „die Russen“ wahrgenommen, so daß man seinem Haß auf die ungeliebten Mitbürger nunmehr freien Lauf lassen kann, ohne auf den Nachbarn Rußland noch irgendwelche politischen Rücksichten nehmen zu müssen.
Insofern haben NATO und EU bei der Krisenprävention kläglich versagt; ihre Osterweiterung hat im Ergebnis nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit geführt.
Dieser Befund sollte hierzulande im Auge behalten werden, wenn einige osteuropäische Hardliner von den Deutschen wieder einmal bedingungslose Solidarität für ihren partikularen Kampf gegen Rußland fordern und dabei versuchen, mit Emotionen zu spielen.
Leider hat Wittmann nur wenig zur militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und der RF gesagt. Er erwähnte zwar gemeinsame Ausbildungs- und Forschungsaktivitäten, doch blieb z.B. die seit Jahren anstandslos laufende Kooperation bezüglich Afghanistan, z.B. die deutschen Truppen- und Gütertransporte auf dem Land- und Luftweg, ungenannt.
Zum Abschluß der Konferenz zog Nikolaj Schmeljow sein Resümee. Er betonte, daß Rußland seinem Selbstverständnis nach ein europäisches Land war und ist, das jedoch aufgrund seiner geographischen Lage zwangsläufig auch Interessen in Asien wahrzunehmen hat. Schmeljow hält alle Diskussionen über eine Mitgliedschaft Rußlands in NATO oder EU für absurd, denn beide Organisationen würden sich schon allein wegen der räumlichen Ausdehnung damit übernehmen. Wünschenswert sei vielmehr eine enge Kooperation, wie sie sich etwa in Gestalt des eurasischen Transportkorridors anbiete. Mit Blick auf die derzeitige Krise in der Finanzpolitik der EU meinte er, daß Rußland sich kein am Boden liegendes Europa wünschen könne. Schmeljow hat, wie auch andere russische Teilnehmer, wert darauf gelegt, daß Europa nicht mit der Organisation „EU“ identisch ist. Das oft gemachte sprachliche Gleichheitszeichen zwischen beiden Termini sei fehl am Platze.
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