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Samstag, 4. Juni 2011

Die deutsche Frage II

Seit der politischen „Wende“ in den Jahren 1989 bis 1991 haben sich in vielen osteuropäischen Staaten seltsame Wandlungen zugetragen. Manch früherer hochrangiger KP-Funktionär warf plötzlich sein Parteibuch weg und behauptete, im Grunde seines Herzens schon immer Antikommunist gewesen zu sein. Andere maßgebliche Herren versuchten, ihre eigene Rolle kleinzureden, indem sie sich im Nachhinein selbst zu bloßen Befehlsempfängern Moskaus degradierten, deren Einfluß gegen Null gegangen sei. Damit werden meist zwei Ziele verfolgt. Zum einen will man sich von den Vorwürfen der einstigen Opposition exkulpieren, zum zweiten möchte man sich selbst in die veränderten Gesellschaften, in denen das Nationale oft stark betont wird, integrieren.
Ist diese Strategie erfolgreich, dann werden „die Sowjets“ oder, vulgärer und aktueller formuliert, „die Russen“ für sämtliches Ungemach verantwortlich gemacht. Auf diese Weise werden der Pole Dzierzynski oder die Georgier Stalin und Berija u.a. kurzerhand zu Russen erklärt und schon ist eine Geschichtsinterpretation gegeben, mit der alle Nationalisten in Polen, Georgien und andernorts leben können. An die Stelle der komplexen und schwierigen Geschichtsaufarbeitung tritt so das Schüren von Ressentiments.

Letzteres wird man von ehemaligen Funktionären der DDR nicht in jedem Fall behaupten können. Hier überwiegt vielmehr der Ärger über den angeblichen Verrat, den die Sowjetunion 1989/90 an der DDR begangen habe. Anstatt dem sozialistischen deutschen Teilstaat in einer schwierigen Phase beizustehen, habe Michail Gorbatschow seine ostdeutschen Genossen feige an den Westen verkauft und sie damit der Willkür des Klassenfeindes überlassen. Man könnte dies als eine Art ostdeutsche Dolchstoßlegende bezeichnen. Dabei wird allerdings übersehen, daß die sowjetische Politik seit 1945 viel stärker gesamtdeutsch orientiert war, als es der SED-Führung lieb war und lieb sein konnte. Die DDR in ihrer von der BRD stark abgeschotteten Existenz wurde in Moskau eher als „Second-best“-Lösung gesehen. Für die Zeit von der Mitte der 1940er bis Mitte der 1950er Jahre wurde dies von Wilfried Loth schon überzeugend herausgearbeitet (vgl. „Stalins ungeliebtes Kind“, Berlin 1994, und daran anknüpfend „Die Sowjetunion und die deutsche Frage“, Göttingen 2007). Loths Erkenntnisse korrespondieren mit den Erinnerungen des bekannten sowjetischen Diplomaten Valentin Falin aus den 1970er Jahren, insbesondere hinsichtlich der Haltung Erich Honeckers zur deutschen Frage (vgl. „Politische Erinnerungen“, München 1993).

Einer der am häufigsten debattierten Fragen ist die nach der Verantwortlichkeit für die Schließung der Berliner Sektorengrenze am 13. August 1961. Jüngst sind mehrere Schriften erschienen, in denen eine „Schuld“ ostdeutscher Politiker für dieses von manchen bis heute als traumatisch empfundene Ereignis geleugnet wird. Heinz Keßler und Fritz Streletz ziehen sich in ihrem Buch „Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben“ (Berlin 2011) darauf zurück, daß die DDR mit dem Mauerbau nur einen Auftrag des Warschauer Vertrages und damit der UdSSR ausgeführt habe. Noch weiter geht Eberhard Rebohle, der Walter Ulbricht von jeder Mitverantwortung freispricht:
"[…]

Mit dieser Zusage hatte Chruschtschow auf der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses Anfang August in Moskau die Entscheidung des Kreml mitgeteilt, um die Westsektoren Berlins eine Grenze zu errichten und auch die Staatsgrenze West der DDR zu befestigen. Es handelte sich schließlich nicht um eine einfache Staatsgrenze, sondern um die westliche Grenze des östlichen Verteidigungsbündnisses, dessen Führungsmacht die Sowjetunion war. Also wies Chruschtschow die DDR an, entsprechende Maßnahmen vorzunehmen. Das geschah am 13. August 1961 und in den nachfolgenden Wochen.

Insofern hatte Walter Ulbricht durchaus die Wahrheit gesagt, als er im Frühsommer auf die Frage einer westdeutschen Journalistin erklärte, dass niemand in der DDR die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. Nein, das hatte weder er noch ein anderer hierzulande wahrlich vor. Die Weisung wurde in Moskau erteilt, und das zu einem späteren Zeitpunkt.

Natürlich verteidigte die DDR diese Entscheidung, auch wenn sie nicht die ihre war. Schließlich gehörte sie einem Bündnis an, wo es sowohl eine Treuepflicht gab wie aber auch den Durchsetzungsanspruch und auch die -fähigkeit der Führungsmacht. Diese stand schließlich mit einer ‚Gruppe der sowjetischen Streitkräfte’ (GSSD) auf dem Territorium der DDR. Eine halbe Million Mann, verteilt auf 750 Standorte. Hätte Ulbricht diese Maßnahme abgelehnt, wären seine Tage als Staats- und Parteichef gezählt gewesen.

[…]" (Rebohle: „Rote Spiegel“, Berlin 2009, S. 46.)
Diese Behauptungen sind, um es vorweg zu sagen, Unfug und lassen sich quellenmäßig nicht belegen. Es ist das Verdienst der amerikanischen Historikerin Hope M. Harrison, dem in ihrem 2010 erschienen Buch „Ulbrichts Mauer – Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach“ entgegengetreten zu sein.

Harrison beginnt mit ihrer Darstellung in etwa dort, wo Wilfried Loth aufgehört hat: im Jahr 1953. Beide Autoren zeigen, daß insbesondere Ulbricht einen Kurs verfolgte, der auf eine strikte Abgrenzung der DDR von der BRD gerichtet war, um in seinem Teil Deutschlands einen sozialistischen Staat aufbauen zu können. Hinsichtlich des „Aufbaus des Sozialismus“ waren die Sowjets immer die Bremser, zumal dadurch seit 1952 der Flüchtlingsstrom in die BRD anschwoll.
Das Flüchtlingsproblem wurde anfangs in Moskau sogar ernster genommen als in Ost-Berlin. Daraus resultierte auch die Divergenz der Meinungen über seine Lösung. Während die sowjetische Führung mehrfach auf eine politische und ökonomische Lösung drängte, um die Menschen zum Bleiben zu bewegen, stand für viele höhere SED-Funktionäre schon seit 1953 fest, daß es einer vollständigen Schließung der Grenzen der DDR bedürfe. Der von Moskau im Mai/Juni 1953 angeregte „Neue Kurs“, mit dem harte Maßnahmen (z.B. Erhöhungen der Arbeitsnormen, Kampf gegen die Kirchen) aufgehoben wurden, versandete in den Folgemonaten.

Ulbricht blieb stur – auch, als 1956 in der UdSSR eine vorsichtige Entstalinisierung begann. Er behauptete einfach, in der DDR habe es nie einen Personenkult gegeben, weder um Stalin noch um den Genossen Walter aus Leipzig. Dabei waren es die von Ulbricht anläßlich seines 60. Geburtstages am 30.06.1953 geplanten pompösen Feierlichkeiten gewesen, die großen Unmut bei Stalins Nachfolgern erregt hatten. Doch Ulbricht gelang es, angesichts der Krisen des 17. Juni 1953 und der Folgejahre (z.B. Ungarn 1956), im Amt zu bleiben. Mehr noch, er konnte, obwohl ihn seine innerparteilichen Gegner im Juni 1953 schon fast abgesetzt hatten, seine Stellung festigen und diese Gegner (z.B. Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt) aus der SED werfen lassen. Die Zügel wurden angezogen und die sowjetische Seite stimmte dem partiell zu, vor allem aus Angst, daß die DDR anderenfalls einfach zusammenbrechen könnte.

Damit waren die Chancen auf eine (maßvolle) Liberalisierung der Verhältnisse in der DDR gesunken. Der Aufbau des Sozialismus ging weiter und immer mehr Menschen konnten oder wollten dabei nicht mitmachen. Das Problem der „Republikflüchtlinge“ war für die DDR nicht nur prestigeschädigend (schließlich wollte man das bessere Deutschland sein), sondern langsam auch ökonomisch bedrohlich, weil viele gut ausgebildete Fachkräfte das Land verließen.
1960/61 spitzte sich die Lage zu und Ost-Berlin drängte immer stärker auf eine „administrative“ Lösung, also die vollständige Abriegelung der Grenzen der DDR. Chruschtschow war davon nicht angetan, aber auch er konnte sich dem Druck nicht länger entziehen. Doch er wollte eine solche Entscheidung nicht isoliert treffen, damit später niemand behaupten konnte, Moskau habe den Mauerbau befohlen. Deshalb fanden im Sommer zwei Tagungen des Warschauer Vertrages statt, auf denen das Problem diskutiert und schließlich der Beschluß gefaßt wurde, Ulbrichts Ansinnen zuzustimmen. Ziel war, ein „Ausbluten“ der DDR und eine damit einhergehende Schwächung des sozialistischen Lagers zu verhindern.

Es ist absurd, wenn man daraus einen Auftrag der WV-Staaten an die DDR macht, den man ohne eigenes Wollen oder Zutun habe ausführen müssen. Im Gegenteil: Ohne die massiven, seit Jahren vorgetragenen Forderungen von Ulbricht und seinen Genossen wäre dieser gemeinsame Beschluß des WV nie zustande gekommen und demzufolge auch die Berliner Mauer nicht errichtet worden.
Diese Erkenntnisse sind freilich nicht gänzlich neu. Schon vor sind die einschlägigen Dokumente ediert publiziert worden. Neu an Harrisons Darstellung ist die Einbeziehung eines längeren Zeitabschnitts (1953-1961), weshalb sie anhand der politischen Ereignisse dieser Jahre die maßgebliche Verantwortung Walter Ulbrichts noch besser belegen kann. Er wollte um jeden Preis seinen kleinen sozialistischen Staat behalten. Im Umgang mit Gegnern setzte er sowohl im Außenverhältnis als auch innerhalb der SED i.d.R. einseitig auf Konfrontation.

Des weiteren gelingt es Harrison, den Blick zu weiten und verschiedene politische Ereignisse in die Betrachtung mit einzubeziehen, angefangen vom Fall Berijas 1953 über den Einfluß z.B. Polens in der Mauerfrage bis zum Konflikt zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion Ende der 50er Jahre. (Der WV war kein monolithischer Block, man denke nur an die Sonderrole, die Rumänien seit Beginn der 70er Jahre spielte, indem es de facto aus den militärischen und nachrichtendienstlichen Kooperation ausschied.)
Ferner ist es der Autorin möglich, die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR in ihrer gesamten Komplexität darzustellen. Es handelte sich um ein vielschichtiges Patron-Klient-Verhältnis, bei dem die DDR, der nach außen schwach wirkende Klient, in Wirklichkeit meist der stärkere „Superverbündete“ war. Diese theoretische Fundierung erhöht den Wert von Harrisons Studie auch für die Analyse andere Probleme der internationalen Beziehungen.

Zu guter Letzt darf allerdings nicht vergessen werden, daß Ulbricht mit seiner Politik, die eine Vertiefung der Spaltung Deutschlands bewirkte, nicht allein stand. In Westdeutschland hatte er mit Konrad Adenauer einen kongenialen Partner. Adenauer, der „rheinische Separatist“, hatte sich mit der Bundesrepublik Deutschland einen Staat geschaffen, der seinen persönlichen Vorlieben entsprach: Stark katholisch geprägt und von den verderblichen Einflüssen des Protestantismus und Preußentums abgeschnitten. (Legendär ist ja, daß Adenauer immer, wenn er in der Zwischenkriegszeit mit der Reichsbahn von Berlin nach Hause fuhr, auf der Magdeburger Elbbrücke ausspuckte.) Auch er wollte um jeden Preis nicht nur seine persönliche Macht, sondern auch seinen westdeutschen Teilstaat behalten und zog daher eine in EG und NATO integrierte BRD einer gesamtdeutschen Lösung vor. Was dem einen das Großexperiment eines „Sozialismus auf deutschem Boden“, war dem anderen die „Westbindung“.

Mithin war die deutsche Teilung nicht nur Schicksal oder eine Folge des Zweiten Weltkrieges und des Willens der vier Siegermächte, sondern auch das Ergebnis der Politik zweier deutscher Staatsmänner, die konträre Ideologien und Konzepte verfolgten und für deren Realisierung jeweils einen eigenen Staat benötigten. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb für Deutschland eine Lösung wie in Österreich nie in Betracht kam.

En passant räumt Harrison noch mit anderen Mythen auf, die sich gerade in Ostdeutschland gebildet haben. Damit ist zuvörderst die Auffassung gemeint, die DDR wäre von der Sowjetunion wirtschaftlich ausgebeutet worden. Nunmehr wird jedoch deutlich, daß es sich umgekehrt verhalten hat und die DDR zumindest während der 1950er Jahre in erheblichem Umfang auf Wirtschaftshilfe aus der UdSSR und anderen sozialistischen Staaten angewiesen war und ihne diese Hilfe vermutlich nicht überlebt hätte.

Überhaupt war die Ökonomie die Achillesferse der DDR und des gesamten Warschauer Vertrages. Harrison stellt dar, daß nicht nur die DDR, sondern etwa auch die Tschechoslowakei und Ungarn, stark vom Außenhandel mit kapitalistischen Staaten abhängig waren. Folglich fürchtete man in diesen Staaten ein totales Wirtschaftsembargo der NATO-Mitglieder. Daraus resultierte eine große Vorsicht in der Außenpolitik. Jeder Schritt wurde sorgfältig auf seine Wirkung hin abgewogen. Damit erscheint der Mauerbau von 1961 als äußerste, gerade noch akzeptable Maßnahme.

Man könnte diesen Zusammenhang noch weiter thesenartig zuspitzen (und müßte ihn dann eingehend untersuchen): Das „sozialistische Lager“ oder, wie es großspurig hieß, das „sozialistische Weltsystem“ der zweiten Hälfte des 20. Jh. konnte nur deshalb solange existieren, weil es kapitalistische Staaten gab, die mit ihm Handel trieben und die Weltwirtschaft insgesamt (in der Regel) kapitalistisch funktionierte. Dies war den verantwortlichen Politikern meist wohl auch klar, zumindest im Unterbewußtsein. Ihnen ging es, gerade in der Spätphase nach 1970, oft nur darum, die eigene Bevölkerung mit Konsumgeschenken bei Laune zu halten.
Deshalb konnte aus ihrer Perspektive eine „Weltrevolution“, die den Sozialismus auf dem ganzen Globus ausgebreitet hätte, nicht wünschenswert sein. Die friedliche Koexistenz der beiden Systeme, von der seit Chruschtschow vermehrt die Rede war, stellte somit keine hohle Phrase dar, sondern war eine Existenzebdingung des Sozialismus. Mithin stellen sich auch alle militärischen Planungen so dar, daß sie tatsächlich als Vorneverteidigung gemeint waren, nicht jedoch als Aggressionsabsicht gegenüber der NATO. Schließlich war man ökonomisch auf den „Klassenfeind“ angewiesen.


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