Der deutsche Bevölkerungsschutz besteht nicht nur aus der nächstgelegenen Feuer- und Rettungswache, deren Kräfte uns im Alltag etwa bei Verkehrsunfällen oder Wohnungsbränden begegnen. Er hat – wie mittlerweile in vielen Staaten der Welt – auch eine internationale Dimension. Ob es um Überflutungen in Polen, Wirbelstürme in Frankreich, Tsunamis in Südostasien oder Erdbeben auf Haiti geht – immer stehen die meist ehrenamtlichen Helfer bereit, um auch jenseits des eigenen Staatsgebietes in Not geratenen Menschen schnellstmöglich Hilfe zu leisten. Vorreiter innerhalb der Bundesrepublik war insofern das Technische Hilfswerk (THW), das in der Rechtsform einer Bundesanstalt dem Bundesinnenministerium untersteht. Hervorzuheben sind hier vor allem die Schnelleinsatzeinheit für Bergung im Ausland (SEEBA) und die Schnelleinsatzeinheit Wasser Ausland (SEEWA). Aber auch private Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz, Malteser, Johanniter, Rettungshundevereine usw. werden bei Katastrophen im Ausland aktiv.
Nun bedingt die geographische Lage Deutschlands ein großes Problem: Viele Einsatzorte sind derart weit entfernt, daß die Hilfskräfte zwingend auf dem Luftweg dorthin transportiert werden müssen. Leider standen bisher den hiesigen Hilfsorganisationen, abgesehen von ein paar Rettungshubschraubern, keine eigenen Lufttransportmittel zur Verfügung. Das THW hatte zunächst auf Transportflugzeuge der Luftwaffe zurückgegriffen, bis das Bundesverteidigungsministerium einen Stopp verfügte und vom BMI Geld für die erbrachten Dienstleistungen forderte. Da die von der Hardthöhe aufgerufenen Tarife über denen kommerzieller Fluggesellschaften lagen, ist das THW seither darauf angewiesen, sich selbst auf dem freien Markt um zeitnahe Mitfluggelegenheiten in Krisenregionen zu kümmern. Das führt natürlich zwangsläufig zum Zeitverzug beim Transport von Personal, Gerät und Hilfsgütern sowie zu einem deutlich größeren Organisationsaufwand, wenn man sich mit mehreren Airlines abstimmen muß. Dafür mußte ferner eine THW-eigene Sondereinheit in der Nähe von Frankfurt/Main geschaffen werden. Bei den privaten Hilfsorganisationen ist die Lufttransportlage noch trostloser; dort muß alles selbst organisiert und bezahlt werden – obwohl diese Aktionen alle im Interesse der Bundesrepublik erfolgen.
Natürlich kann man das notorisch klamme BMVg verstehen, denn „ohne Moos nix los“. Andererseits juchteln die Katastrophenhelfer ja nicht aus Spaß an der Freud durch die Welt, sondern um den politischen Auftrag zur humanitären Hilfe auszuführen. In anderen NATO-Staaten ist das übrigens kein Problem, dort werden die Hilfskräfte selbstverständlich von ihren jeweiligen Luftstreitkräften geflogen.
Doch seit letzter Woche scheint endlich ein Ausweg aus dem Lufttransportengpaß des deutschen Katastrophenschutzes gefunden zu sein. Auf der Fachmesse Interschutz in Leipzig wurde am 7. Juni in Anwesenheit des BMI-Staatssekretärs Klaus-Dieter Fritsche und des russische Katastrophenschutzministers Sergej Schojgu ein Memorandum of Understanding über die Nutzung von Luftfahrzeugen der RF für die Durchführung humanitärer Hilfe unterzeichnet. Grundlage der Vereinbarung ist das Deutsch-russischen Katastrophenhilfeabkommen aus dem Jahre 1994. Die entsprechende Pressemitteilung des BBK lautet:
"[…]
Im Rahmen der Kooperation zwischen dem Bundesministerium des Innern (BMI) und dem russischen Ministerium für Notfallsituationen (EMERCOM) unterzeichnen BBK-Präsident Christoph Unger und der Direktor für internationale Kooperation von EMERCOM, Juri Brazhnikow, eine Vereinbarung zur Nutzung von russischen Großraum-Transportflugzeugen. Die Unterzeichnung findet auf der Messe Interschutz in Leipzig statt. Im Falle internationaler Hilfeleistungseinsätze im Interesse des Bundes, insbesondere nach der Aktivierung des Europäischen Gemeinschaftsverfahrens für Katastrophenschutz, sollen diese Maschinen vom Typ Iljuschin 76 für Personen- und Hilfsgütertransporte genutzt werden.
Diese Vereinbarung basiert auf dem zwischen Deutschland und der Russischen Föderation bestehenden Hilfeleistungsabkommen. Im Rahmen einer bilateralen Arbeitsgruppe wurde ein gemeinsames Arbeitsprogramm über Zusammenarbeit u. a. auf den Gebieten Ausbildung, kritische Infrastrukturen und medizinischer Bevölkerungsschutz für 2011 und 2012 vereinbart. Minister Shoigu, EMERCOM, sowie Staatssekretär Fritsche, BMI, haben das Arbeitsprogramm ebenfalls auf der Messe Interschutz unterzeichnet.
Mit den Vereinbarungen wird die gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Russischen Föderation im Bevölkerungsschutz fortentwickelt.
[…]"
Um diese Vereinbarung (die entgegen der o.g. Verlautbarung nicht nur auf Maschinen vom Typ Iljuschin beschränkt ist) einordnen zu können, muß man wissen, daß das Katastrophenschutzministerium der RF (MTschS, bisweilen auch MChS und Emercom genannt) über stattliche Fliegerkräfte verfügt. Diese reichen von kleinen Rettungshubschraubern über große Transporthelikopter wie der Mi-6 bis hin zu Transportflugzeugen (z.B. Jak-42, Il-62, Il-76) und Amphibienflugzeugen Be-200. Damit werden regelmäßig russische Hilfsmannschaften und -güter transportiert – und zwar nicht nur bei internationalen Einsätzen, sondern auch im Inland. Anders wäre angesichts der großen Dimensionen Rußlands eine schnelle und qualifizierte Nothilfe auch in entlegenen Gegenden oftmals kaum leistbar. Hierzulande sind wir ebenfalls schon in den Genuß dieser Fähigkeiten gekommen: Im August 2002 wurden Spezialisten, Amphibienfahrzeuge, Pumpen und weitere Technik des MTschS nach Deutschland geflogen, um bei der Bekämpfung des Elbehochwassers zu helfen.
Nun kann also auch Deutschland die im rußländischen Katastrophenschutz bestehenden Möglichkeiten nutzen. Das ist sehr erfreulich, deutet sich damit doch die Lösung eines seit vielen Jahren bestehenden Problems an, zu dessen eigenständiger Lösung unsere Politiker und Beamten nicht fähig waren. Und es regt zum Nachdenken an, daß an dieser Lösung keiner der „üblichen Verdächtigen“ beteiligt ist, von deren Fähigkeiten man hierzulande so gerne redet. Weder Flugzeuge der deutschen Luftwaffe noch eines anderen NATO- oder EU-Mitgliedsstaates werden uns zur Verfügung gestellt, sondern solche einer rußländischen Behörde.
Zu den finanziellen Aspekten haben sich beide Seiten nicht geäußert. Ausgehend von Artikel 9 des zugrundeliegenden Katastrophenhilfevertrages wird das wohl fallweise entschieden werden. Dabei dürfte der deutsche Obulus wahrscheinlich eher gering ausfallen, wenn man sich an ohnehin geplante Flüge des MTschS "anhängen" kann. Und, der größte Vorteil: Das BBK und die an Auslandseinsätzen teilnehmenden Hilfsorganisationen gewinnen endlich Planungssicherheit und müssen sich nicht mehr auf kurzfristig aufgestellte Bedingungen unterschiedlicher Fluggesellschaften einstellen (Hunde: ja oder nein; Material: nur Handgepäck oder etwas mehr etc.).
Die Luftwaffe ist übrigens in einer ähnlichen Lage. Aufgrund ihrer unzulänglichen eigenen Lufttransportmittel wird ein großer Teil des Nachschubs für die deutschen Truppen in Afghanistan mit gecharterten Maschinen aus Rußland und der Ukraine transportiert. Wer auf der A 9 am Flughafen Leipzig/Halle vorbeifährt, kann diese Flugzeuge regelmäßig sehen. Leider findet ein Großteil der erfolgreichen Kooperation zwischen unseren Staaten im Verborgenen statt.
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