Montag, 7. Juni 2010
Krieg im Baltikum
Sven Ortmann, den ich für seinen Weblog Defence and Freedom sehr schätze, hat sich dort im Mai mit "Defence policy thoughts for (very) small powers" beschäftigt und sich dabei des Beispiels Estland angenommen. Er entwickelt darin einige als Gedankenspiel durchaus interessante Ideen hinsichtlich der Verteidigung des Baltikums gegenüber einem hypothetischen Angriff Rußlands.
Mich stört allerdings die Unterstellung, daß es in der RF Invasionsüberlegungen für das Baltikum gäbe. Die Souveränität dieser Staaten stand seit 1991 niemals zur Diskussion - weder auf internationaler Ebene noch innerhalb Rußlands. Im Gegenteil, wenn man sich in die russische Publizistik der Jahre 1990 ff. vertieft, so wird man unschwer feststellen, daß es in sämtlichen, damals diskutierten Szenarien für die Zukunft eine Konstante gab, nämlich die vollständige Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens von der seinerzeit noch existierenden Sowjetunion. (Vgl. z.B. A. Solschenizyn: Rußlands Weg aus der Krise, München 1990 oder A. Sobtschak: Für ein neues Rußland, Bergisch-Gladbach 1991.) Eine Kollegin aus St. Petersburg hat dieses Denken mir gegenüber erst vor kurzem so zusammengefaßt: "Auch zu Sowjetzeiten haben wir das Baltikum immer als Ausland empfunden."
Nun könnte man meinen, daß sich die rußländische Regierung in den letzten Jahren bisweilen höchst unfreundlich gegenüber ihren kleinen Nachbarn verhalten hätte. Dies vernebelt jedoch den Blick auf den politischen - und damit mehrseitigen - Kontext der Probleme. Angefangen von dem seit fast 20 Jahren existierenden Komplex der Staatenlosen (ein Problem, das es nur in diesen drei Nachfolgestaaten der UdSSR gibt!) über den bis heute nicht gültigen estnisch-russischen Grenzvertrag (die estnische Regierung meinte, den schon fertigen Vertrag eigenmächtig ergänzen zu müssen) bis hin zur massiven Unterstützung, die islamistische Terroristen aus dem Nordkaukasus seit Jahren in Osteuropa finden. (Man stelle sich nur vor, in einem NATO-Staat würde die Hamas in ähnlicher Weise hofiert.)
Ferner blendet das weitverbreitete Gerede von einer "russischen" (nicht etwa einer sowjetischen!) Okkupation des Baltikums wichtige historische Tatsachen einfach aus. Begonnen von der massiven Unterstützung, die Lenins Bolschewiki im Baltikum gefunden haben, über die Tatsache, daß nach der Oktoberrevolution 35.000 Lettische Schützen neben den Roten Matrosen die stärkste Stütze der Bolschewiki waren (deren Kommandeur, Jukums Vācietis, war sogar erster Chef der Roten Armee!) bis hin zur Tatsache, daß nicht wenige Politiker und Beamte in diesen Staaten ihre (oft bis heute andauernde) Karriere mit einem Parteibuch der KPdSU begonnen haben. Ein Beispiel dafür ist Boris Pugo, letzter Innenminister der SU und einer der maßgeblichen Akteure des gegen Michael Gorbatschow gerichteten Putschversuchs im August 1991.
(BTW: Können Russen, deren Vorfahren während der Revolution und des Bürgerkrieges von lettischen Schützen massakriert worden sind, die heutige Republik Lettland auf Schadensersatz verklagen, wie es in letzter Zeit Mode geworden ist?)
Damit soll folgendes gesagt werden: Die drei baltischen Staaten und die dort lebenden Menschen waren im 20. Jahrhundert bei weitem nur das Objekt der Politik, als das sie sich heute gerne darstellen, sondern sie haben selbst kräftig mitgestaltet und auch mitgemordet. Die Geschichte ist nicht so eindimensional, die aktuelle Politik ebenfalls nicht.
Natürlich gibt es politische Dissonanzen zwischen den drei baltischen Republiken und der Rußländischen Föderation - allerdings in unterschiedlicher Intensität, wobei Lettland und Litauen m.E. nicht ganz so streitsüchtig sind wie Estland. Dennoch ist es absurd anzunehmen, daß Moskau zur "Bereinigung" dieser Streitfragen auf militärische Gewalt setzen würde. Erstens fehlen der RF die dazu notwendigen Kräfte und Mittel, zweitens setzt Moskau (nicht nur, aber auch aus diesem Grunde) in jeder Hinsicht primär auf Verhandlungslösungen. Die dortigen Politiker und Beamten kennen sich im Völkerrecht hervorragend aus und wissen ganz genau, welche Maßnahmen noch zu rechtfertigen ist und welche nicht - und sie überschreiten, wie die letzten Jahre gezeigt haben, diese Grenze nicht.
(Dies steht, nebenbei bemerkt, im erfreulichen Gegensatz zur Unkenntnis oder offenen Ablehnung des geltenden Völkerrechts, wie sie regelmäßig von "westlichen" Staaten demonstriert wird, wie etwa 1999 im Kosovo oder 2003 im Irak.)
Die Rußländische Föderation wird nicht zum Kriege schreiten, wenn sie nicht durch einen militärischen Angriff dazu gezwungen wird. Das haben sowohl der Einfall islamistischer Kämpfer in Dagestan 1999, aus dem sich dann der Zweite Tschetschenienkrieg entwickelt hat, als auch der Südossetienkrieg 2008 gezeigt. Hätten die georgischen Truppen nicht die Unterkünfte der dreiseitigen Friedenstruppen angegriffen, dann hätte es keine derart starke Reaktion Rußlands gegeben. Die russischen Streitkräfte mußten gewaltig improvisieren, um bestehen zu können. So waren etwa die Kommunikationswege zur obersten militärischen Führung in Moskau außer Betrieb, weil der Generalstab gerade umgezogen ist. Deshalb mußte sämtliche Kommunikation der Kommandeure vor Ort mit ihren Vorgetzten über die Nachrichtenzentrale der Präsidialadministration abgewickelt werden.
Um wieder auf den Anfang zurückzukommen: Für meine Kritik hat Sven Ortmann natürlich eine Sicherung in seinen Text eingebaut: "No matter how unlikely the scenarios are; preparing is what they get paid for, after all." Ein Planspiel also. Ich nehme mir die Freiheit, im folgenden ebenfalls ein Gedankenexperiment durchzuführen (obgleich ich nicht dafür bezahlt werde ;-)). Es geht um die Ausbreitung der NATO bis an die Grenzen Rußlands und welche Risiken sich aus russischer Sicht daraus ergeben könnten. Das entwickelte Szenario ist hypothetisch und nach heutigem Stand unwahrscheinlich, aber keineswegs unrealistisch. Ich verstehe es außerdem als Fortsetzung des Beitrags über die neuen Operativ-strategischen Kommanden der russischen Armee, worin ich die militärischen Kräfteverhältnisse schon angeschnitten hatte. All das ist, um noch einmal Ortmann zu zitieren, selbstverständlich "just food for thought".
Das politische Vorspiel: Die NATO-Staaten sind unzufrieden mit Rußland. Der amerikanische Senator Richard Lugar hatte bereits 2006 gedroht, daß man in der NATO gewillt sei, sich die russischen Bodenschätze und Energieträger ggf. auch mit militärischer Gewalt anzueignen. Jetzt spitzt sich ein Ressourcenkonflikt, bei dem es um unterschiedliche Preisvorstellungen zwischen Warschau und Moskau geht, immer weiter zu. Die Scharfmacher, insbesondere aus Osteuropa, fordern, daß man dem "aggressiven russischen Bären" endlich eine "Lektion" erteilen müsse, an die er sich noch lange erinnern wird, damit es nicht zu weiteren Insubordinationen gegenüber dem "freien Westen" kommt.
Ein passendes Ziel ist schnell gefunden: Das Kaliningrader Gebiet, das eingeklemmt zwischen Litauen, Polen und der Ostsee liegt. Dort haben sich außerdem politische Kräfte formiert, die die Loslösung von Rußland anstreben, um einen eigenen Staat zu bilden, der in die EU aufgenommen werden soll. Das steht auch im Kontext der amerikanischen Osteuropapolitik, in welcher die territoriale Zerstückelung Rußlands seit Jahrzehnten einen prominenten Platz einnimmt; diese Idee zieht sich als eine Konstante vom NSC-Dokument 20/1 und anderen Beschlüssen der Frühphase des Kalten Krieges bis zu den Schriften Zbigniew Brzezinskis.
Das militärische Vorspiel: In den letzten Jahren hat sich die Integration der drei baltischen Staaten in die militärischen Strukturen der NATO intensiviert, weshalb nicht mehr das Schlachtfeld Irak im Vordergrund stand. Neben dem regelmäßigen Air Policing Baltikum wurden dort auch größere Luftwaffenübungen durchgeführt. Im Sommer 2010 fanden zudem großangelegte Marineübungen statt, in deren Mittelpunkt amphibische Landungen von US Marines an der lettischen und estnischen Küste sowie anschließende Gefechtsübungen zu Lande standen. Im Mai 2010 wurden ferner amerikanische Flugabwehrkräfte mit Patriot-Systemen in Polen stationiert. Allerdings nicht, wie ursprünglich geplant, in der Nähe von Warschau, um die Hauptstadt zu schützen, sondern weit davon entfernt im masurischen Morąg, das knapp 70 km südlich der Grenze zum Kaliningrader Gebiet liegt.
Die Idee der NATO: Eine Herauslösung der Reste des früheren Ostpreußens klingt in den Ohren vieler NATO-Planer verlockend, wobei zunächst offen bleibt, ob diese Maßnahme nur temporär (Faustpfand für Verhandlungen mit Moskau) oder dauerhaft sein soll. Erstens bietet es sich aufgrund der geostrategischen Lage geradezu an, diesen "abnormalen" Außenposten Rußlands zu zerschlagen. Zweitens entspricht diese Maßnahme hervorragend der seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Polen virulenten prometheischen Ideologie (damit wäre das Motivationsproblem gelöst). Außerdem hat Polen in den Jahren 1920/22 eine ähnliche Aktion im Osten Litauens durchgeführt - mit dem Ergebnis der Annektion des Gebietes um Vilnius durch Warschau (an einem historischen Vorbild fehlt es mithin nicht). Drittens wäre eine solche Militäroperation mit einem überschaubaren Kräfteaufwand durchführbar. Viertens ist das Risiko, einen "großen Krieg" mit eventuellem Atomwaffeneinsatz heraufzubeschwören, gering; der Konflikt läßt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit räumlich und zeitlich begrenzen.
Die militärische Planung der NATO: Allein das polnische Heer verfügt über insgesamt 12 mechanisierte Brigaden. Das genügt, zusammen mit den polnischen Unterstützungsmitteln, völlig, um die "Kaliningrader Operation" erfolgreich durchzuführen. Denn in diesem Gebiet sind nur 3 Manöverbrigaden der russischen Streitkräfte stationiert (2 x Mot. Schützen, 1 x Marineinfanterie). Die polnischen Kräfte und Mittel sollten auch ausreichen, um die weißrussische Grenze zu decken, damit sich dieser Verbündete Rußlands nicht in den Konflikt einmischt. Unterstützung durch die NATO-Verbündeten ist insofern nur nötig, um die russischen Luftstreitkräfte und Luftverteidigung niederzuhalten und die Baltische Flotte in ihren Häfen zu blockieren.
Der Unterstützungsbedarf von Estland, Lettland und Litauen ist erheblich größer. Den litauischen Streitkräften kommt die Aufgabe zu, die Nordgrenze des Kaliningrader Gebiets abzuriegeln, um einen eventuellen Ausbruch der Verteidiger in Richtung Nordosten zu verhindern. Auch muß die Grenze zu Belarus gesichert werden. Die Armeen Estlands und Lettlands sollen Entlastungsangriffe der östlich ihrer Ostgrenze stehenden russischen Kräfte vereiteln und so die Eroberung des nördlichen Ostpreußens absichern. Zu diesem Behufe sind jedoch Verstärkungen aus anderen NATO-Staaten erforderlich - allerdings nichts, was sich nicht mit ein paar Schiffen über die Ostsee oder per Bahntransport via Deutschland und Polen heranschaffen ließe.
Kriegsbeginn: Davon ausgehend beginnt der hypothetische Angriff der polnischen Armee auf das Kaliningrader Gebiet, natürlich ohne formale Kriegserklärung. Einen konkreten Vorwand hat man gefunden; der NATO-Pressesprecher hat in Brüssel der Weltöffentlichkeit sogar einen neuen Hufeisenplan präsentiert. Der Propaganda- und Informationskrieg tobt schon heftig, bevor der erste Schuß fällt.
Die militärische Lage aus russischer Sicht: Nachdem der Angriff begonnen hat, ist die Exklave Kaliningrad vom Rest des Landes abgeschnitten. Nur einige wenige Kommunikationskanäle funktionieren noch. Die dort stationierten Truppen wehren sich zwar, doch ist ihre Lage angesichts der Überlegenheit der polnischen Angreifer, der weitgehenden Isolation des Gebietes und der kriegsmüden Stimmung in der Bevölkerung nahezu aussichtslos. Der Versuch von Kampffliegern aus dem russischen Kernland, in die Gefechte um Kaliningrad einzugreifen, wird von der Luftverteidigung der NATO abgewiesen.
Die wenigen in Kronstadt liegenden Schiffe der Baltischen Flotte laufen zwar aus, doch werden sie schon auf der Höhe Tallins von Marinekräften der NATO gestoppt und kehren nach einem Geplänkel in ihren Heimathafen zurück. Nunmehr wird der rußländischen Führung endgültig klar, daß es sich um einen Krieg mit der gesamten NATO handelt, nachdem es zuvor noch diffuse Signale auf diplomatischen Kanälen gegeben hatte, die auf weitere Verhandlungen hindeuteten.
Im Operativ-strategischen Kommando West (St. Petersburg) und im Generalstab der RF (Moskau) werden angesichts dessen verschiedene Optionen diskutiert.
Erstens ein Vorstoß zu Lande, um das eingeschlossene Kaliningrad von Norden her zu erreichen. Dazu müßten nicht nur Estland, Lettland und Litauen durchquert, sondern auch die dort vorbereitete militärische Abwehr überwunden werden. Das estnische Heer entspricht zu Friedenszeiten etwa einer Infanteriebrigade, das lettische und litauische Heer ebenfalls. Alle drei Staaten haben mittlerweile mobilgemacht und führen neben den regulären Einheiten auch ihre Territorial- und Reserveformationen ins Feld. Zu ihrer Unterstützung sind eine amerikanische und eine britische Brigade bereits vor Ort - offiziell, um Manöver durchzuführen. Drei weitere Brigaden aus Dänemark, Deutschland und den Niederlanden befinden sich auf dem Weg ins Baltikum.
Dem stehen auf russischer Seite lediglich die 25. Motorisierte Schützenbrigade in Wladimirskij Lager und die aus 3 Fallschirmjägerregimentern bestehende 76. Luftlandedivision in Pskow gegenüber. Das entspricht zusammen in etwa 4 NATO-Brigaden. Die übrigen Truppenteile sind zu weit entfernt und würden auf ihrem Anmarsch vermutlich Schlägen der gegnerischen Luftwaffe oder Marschflugkörpern zum Opfer fallen, denn insoweit ist die Überlegenheit der NATO absolut.
Ein Angriff zu Lande wäre somit fast aussichtslos, zumindest bräuchte er eine starke Luftunterstützung. Doch gegen die Luftstreitkräfte der NATO (in der Ostsee kreuzen auch zwei Flugzeugträger) kommen die russischen Flieger alleine nicht an. Die Heranführung von Reserven braucht jedoch Zeit, was der NATO bei ihrem begrenzten Krieg um Kaliningrad in die Hände spielt.
Die russischen Generalstabsoffiziere erwägen sodann, wenigstens die Kurzstreckenraketen der in Luga basierten 26. Raketenbrigade zum Einsatz zu bringen. Doch auf welche Ziele sollte man sie, nur mit konventionellen Sprengköpfen bestückt, abfeuern? Welche politischen und militärischen Vorteile brächte der Abschuß von ein paar Raketen etwa auf die gegnerischen Hauptstädte? So gut wie keinen (vielleicht mit der Ausnahme des gewissermaßen am Wege gelegenen Vilnius). Und sie genügen in dieser Konfiguration nicht, um die in Lettland und Litauen stehenden NATO-Bodentruppen zu zerschlagen, weshalb es nicht gelingen kann, so den eigenen Truppen den Weg nach Südwesten zu ebnen.
Also wird das letzte Mittel erörtert: Atomwaffen. Hier tut sich ein großes Dilemma auf. Rußland ist selbst bisher nicht mit Atomwaffen attackiert worden, deshalb müßte es nun einen atomaren Erstschlag führen. Ein solcher wäre gemäß der Militärdoktrin aus dem Jahre 2010 jedoch nur dann zulässig, wenn die Rußländische Föderation durch einen konventionellen Angriff in ihrer gesamten staatlichen Existenz bedroht ist. Dies ist bei einem begrenzten Krieg gegen das kleine Kaliningrader Gebiet mit Sicherheit nicht der Fall. Das russische Kernland könnte auch so ohne Probleme weiterexistieren. Ergo ist ein Atomwaffeneinsatz ausgeschlossen.
Zudem würde sich die Frage erheben, gegen welche NATO-Staaten denn Atomwaffen eingesetzt werden sollten. Weder die baltischen Republiken noch Polen verfügen selbst über derartige Waffen oder haben sie gar zum Einsatz gebracht. Ein Atomschlag auf deren Territorium würde international zweifelsohne als Kriegsverbrechen bewertet werden, was einen gewaltigen und langfristigen politischen und ökonomischen Schaden für Rußland, den "neuen Schurkenstaat" und "rachsüchtigen Bären", zur Folge hätte. Und einen vierten Weltkrieg mit den USA, inklusive dem Austausch von Interkontinentalraketen, beginnt man nicht wegen eines kleinen Landstücks an der Ostsee.
Das Resultat: Ein Atomwaffeneinsatz erfolgt von seiten der RF nicht. Statt dessen entschließt man sich zu einem eher symbolischen Vorstoß der 25. Mot. Schützenbrigade sowie des 23. und des 104. Fallschirmjägerregiments, welcher jedoch von den NATO-Verbänden im Nordosten Lettlands gestoppt wird. Nach heftigen Gefechten ziehen sich die russischen Truppen wieder auf ihr eigenes Staatsgebiet zurück. Am selben Tag wird das Friedenshauptquartier des OSK West, das in Petersburg im historischen Generalstabsgebäude untergebracht ist, von zwei Luft-Boden-Raketen getroffen, die von B-52-Bombern über der Ostsee abgefeuert worden waren. Ein dritter, nach späterer NATO-Darstellung fehlgeleiteter Marschflugkörper trifft die Eremitage, wodurch u.a. die weltberühmte Sammlung der niederländischen Meister zerstört wird.
Der Präsident in Moskau erteilt daraufhin den noch kämpfenden Überresten der Kaliningrader Garnison den Kapitulationsbefehl und der Außenminister leitet Waffenstillstandsverhandlungen mit der NATO ein. Belarus hat sich schon Tage zuvor für neutral erklärt und hält sich aus dem Konflikt heraus, nachdem es finanzielle Zusagen einiger NATO-Staaten erhalten hatte, um seine Wirtschaft zu beleben. Demgegenüber war die Aussicht, daß das eigene Land zum Gefechtsfeld werden könnte, für die Regierung in Minsk höchst unschön.
Soweit unser kleines Gedankenexperiment. Natürlich ein (hoffentlich) hypothetisches und aus heutiger Sicht (glücklicherweise) unwahrscheinliches Szenario - aber eben kein gänzlich unrealistisches! Man könnte sicher - wie gegen jedes Modell - manches dagegen einwenden, gerade in Detailfragen (z.B. hinsichtlich der Luftstreitkräfte). Dennoch sollte folgendes klargeworden sein:
Die osteuropäischen NATO-Staaten sind keineswegs so schwach, wehrlos und schutzbedürftig, wie oftmals behauptet wird. Die kombinierten Landstreitkräfte Estlands, Lettlands und Litauens entsprechen in ihrer Friedensstärke in etwa denjenigen, über die Rußland in dieser Region verfügt; von der formidablen Armee der Republik Polen ganz zu schweigen. Und die Heranführung von Truppen aus der Tiefe des russischen Raumes würde im Zweifelsfall von den Kampffliegern und Raketen der NATO entweder vollständig unterbunden oder zumindest stark erschwert werden. Mithin darf eine Invasion des Baltikums durch die RF nicht nur aus den anfangs skizzierten politischen und kulturellen Erwägungen, sondern auch aus militärischen Gründen als extremst unwahrscheinlich gelten. (Dasselbe gilt übrigens für eine Invasion in Finnland.)
Sie wäre bei einer realistischen Betrachtung zumindest nicht wahrscheinlicher als der umgekehrte Fall, der im obigen Gedankenexperiment durchgespielt wurde - daß es also zu einem begrenzten Feldzug der NATO (oder von Teilen des Bündnisses) gegen außenliegende Teile des rußländischen Staatsgebietes käme. Konventionelle Kriege sind auch gegen eine Atommacht führbar. Dies entspricht gewiß nicht den Absichten aller Mitgliedsstaaten der NATO. Dennoch vermehrt die Ausbreitung dieses Militär-Bündnisses nach Osten - verbunden mit der aggressiven und feindseligen Rhetorik, wie sie regelmäßig in Polen, dem Baltikum und Tschechien gepflegt wird - entsprechende Besorgnisse in Rußland. Und diese Befürchtungen sind, wie wir gesehen haben, auch aus reiner streng militärischen Perspektive keineswegs abwegig oder gar irrational.
Schließlich hat die NATO vor elf Jahren einen Angriffkrieg gegen Jugoslawien geführt, der nicht nur mit massiven konventionellen Luftschlägen und ohne Kriegserklärung begonnen hat, sondern außerdem schon dem Grunde nach völkerrechtswidrig war. Erstens fehlte die Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates (vgl. Art. 24 u. 42 UN-Charta). Zweitens trägt die angeführte Begründung der "humanitären Intervention" nicht, denn zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns haben die behaupteten ethnischen Säuberungen nicht stattgefunden. Der für eine solche Intervention notwendige Tatbestand lag folglich nicht vor, selbst wenn man humanitäre Interventionen grundsätzlich für zulässig hielte.
Im Kosovokrieg ging es - ebenso wie im obigen Fallbeispiel - um das Herausbrechen einer Region (hier: des Kosovo) aus einem funktionierenden Staatswesen. Es war ebendieser Konflikt, der in Rußland zu einem abrupten Ende der idealistischen und sorglosen Außen- und Sicherheitspolitik geführt hat, wie sie während der 1990er Jahre praktiziert worden war. Komisch, daß man das im "erfolgreichsten Militärbündnis der Weltgeschichte" bisweilen nicht wahrhaben will.
Abschließend möchte ich dem geneigten Leser folgende Texte zur Vertiefung empfehlen:
W. Sliptschenko: Analyse der Militärkampagne der NATO gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999
F. Preiß: Russland baut die Streitkräfte um und sucht den Schulterschluss mit Belarus (PDF)
F. Preiß: Iskanderschock - Die NATO im Visier Russlands (PDF)
RIAN: Russlands Luftabwehr liegt in Trümmern
RIAN: Militärexperte: Russlands Heer angeschlagen, Atomwaffen nutzlos
A. Chramtschichin: Tschetyrje wektora rossijskoj oboronoj
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Karte: map.primorye.ru; Fotos: www.kam.lt, www.mod.gov.ee.
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