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Donnerstag, 3. Februar 2011

Die Metamorphosen des Michail Chodorkowskij


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Seit Mitte Dezember letzten Jahres, als das Urteil im zweiten Strafprozeß gegen den ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij erwartet wurde, überbieten sich die deutschen Medien in ihren Lobpreisungen des ehemaligen Angeklagten und nunmehrigen Verurteilten. Er wird als unschuldiges Opfer finsterer Intrigen und politischer Justiz betrachtet, obwohl sich kaum einer der Kommentatoren der Mühe unterzogen hat, die Urteilsbegründung zu lesen. Absonderlicher sind jedoch die Versuche, Chodorkowskij zu einem politischen Oppositionellen, gar einem „Dissidenten“ oder „politischen Reformer“ zu stilisieren. Für letzteres sind sich nicht einmal die deutschen Grünen zu schade. Das hierzulande vorherrschende, extrem einseitige und deshalb falsche Bild des früheren Oligarchen soll nachfolgend korrigiert werden – insbesondere durch die Präsentation von Fakten aus der Vita des Mannes, welche seine Lobredner regelmäßig unterschlagen.

Am Beginn seiner Karriere war Michail Ch. ein hoffnungsvoller und linientreuer Jungkommunist. Er machte in der Jugendorganisation Komsomol Karriere und stieg bis zum hauptamtlichen Funktionär auf. In dieser Eigenschaft hatte er Zugriff auf beachtliche finanzielle Ressourcen, denn in Gorbatschows Reformpolitik spielten Ende der 1980er Jahre Versuche zur Etablierung von Marktstrukturen eine wichtige Rolle. Und der Komsomol sollte bei dieser Entwicklung den Vorreiter spielen. Als Komsomol und Sowjetunion sich auflösten, betrachtete Chodorkowskij das seiner Verwaltung anvertraute Vermögen als herrenlos und vereinnahmte es. Dies war das Startkapital für seine weiteren „unternehmerischen“ Aktivitäten.

In der Folge handelte er mit Computern und anderen Dingen und stieg später ins Bankgeschäft ein. Seine Menatep-Bank erreichte rasch eine gewisse Größe. 1998 brach dann eine Finanzkrise über Rußland herein. Er nutzte die günstige Gelegenheit, um die Bank kurzzeitig zu schließen; nach der Wiedereröffnung sahen sich hunderttausende Anleger um ihr Geld geprellt. (Insofern ist der Vergleich mit dem amerikanischen Betrüger Bernard Madoff durchaus passend.) Wieder einmal hatte Chodorkowskij mit der Instinktsicherheit eines Trüffelschweins erkannt, wie man eine allgemeine Krisensituation ausnutzen kann, um seinen persönlichen Profit zu steigern. Der Menatep-Skandal ist natürlich niemals juristisch aufgearbeitet worden, dafür hat Michails politische Protektion durch Jelzin gesorgt.

Danach wandte er sich verstärkt einer besonders lukrativen Branche zu: dem Ölgeschäft. Der Ölkonzern Jukos wuchs zum zweitgrößten der RF heran. Damit wuchsen auch Chodorkowskijs politische Ambitionen. Dabei spielte Jukos aus Sicht der Regierung eine zweifache Rolle: Im Jahr 2003 wollte Michail Ch. seine Anteile an Jukos – und damit die physische Kontrolle über die dem Konzern zugeordneten Erdölvorräte – an Geschäftspartner aus den USA verkaufen. Dies dürfte schon manches Stirnrunzeln hervorgerufen haben, sieht man es in Rußland doch sehr ungern, wenn Ausländer strategisch wichtige Ressourcen unter ihre alleinige Kontrolle bringen.

Noch alarmierender war jedoch die Nachricht, was Chodorkowskij mit dem Erlös des Verkaufs machen wollte. Bereits in den Jahren zuvor hatte er Politiker und Parteien, die ihm genehm waren, finanziert. Nunmehr wollte er selbst in die Politik einsteigen, indem er wirtschaftliche Macht in politische Macht transformierte. Er war sogar so unvorsichtig, dies öffentlich kundzutun. Auf einem Empfang sagte er, es koste ihn 10 Millionen Dollar, einen Abgeordneten in der Staatsduma zu kaufen. Daher sei es nur eine Frage der Mathematik, wieviel er aufwenden müsse, bevor er – Chodorkowskij – die Mehrheit im Parlament kontrolliere. Kurz danach wurde er verhaftet und seine jahrelange Steuerhinterziehung fiel ihm auf die Füße.

Erschwerend hinzu kam seine konsequente Weigerung, sich an die geänderten Verhältnisse nach Jelzins Abtreten anzupassen. Anstatt, wie etwa Roman Abramowitsch, ein öffentliches Amt zu übernehmen und Abbitte für den massiven Diebstahl fremden Geldes zu tun, verfolgte Chodorkowskij unbeirrt seine eigene politische Agenda. Insofern waren seine Festnahme und Entmachtung eine Machtprobe – wer hat das Sagen in Rußland, der Staat oder ein einzelner Wirtschaftsführer, der glaubt, nach Belieben schalten und walten zu können?
Betrachtet man diese Biographie, dann erscheint Michail Chodorkowskij mitnichten als der bedauernswerte Vorzeigeunternehmer und Saubermann, als den ihn manche darstellen. Unterschlagung, verbrecherischer Konkurs, Steuerhinterziehung, Stimmenkauf – das ist auch kein gutes Zeugnis für einen angeblichen politischen „Reformer“ oder gar „Hoffnungsträger“. Im Gegenteil.

Nicht nur Chodorkowskijs Biographie steckt voller plötzlicher Veränderungen. Zunächst präsentierte er sich als Sohn kleiner Leute, der es als „Entrepreneur“ zu einem gewissen Wohlstand gebracht hat. Diese Strategie konnte auf lange Sicht jedoch nicht erfolgreich sein, weil er – typisch für die Oligarchen der ersten Stunde – immer nur Werte hin- und hergeschoben, aber nie etwas produziert hat. Echte Wertschöpfung passierte in seinen Unternehmen kaum.
Danach versuchte Chodorkowskij, sich als Opfer einer antisemitischen Verschwörung des Kremls darzustellen. Dieser Vorwurf war jedoch so absurd, daß er im Ausland nahezu keine Resonanz fand. Erfolgreicher war er mit seiner Selbstbeschreibung als „sauberer Unternehmer“, der in seinen Betrieben die „westliche Buchhaltung“ eingeführt hätte. Das stimmt zwar nicht – siehe Menatep –, stieß jedoch im Ausland auf größere Resonanz.

Der neueste Trick seiner PR-Berater besteht offenbar darin, ihn als „politischen Dissidenten“ zu zeichnen, der gegen eine finstere Diktatur kämpfe. Ferner soll er angeblich der Hoffnungsträger des russischen Volkes sein, das unter Putins blutiger Knute stöhnt. Das ist zwar genauso absurd wie die Antisemitismusthese, trifft aber im Ausland anscheinend einen Nerv. Dabei ist die Mehrheit der Russen der Überzeugung, daß sich Chodorkowskij genau dort befindet, wo er hingehört: im Gefängnis. Und selbst die wenigen, die ihn unterstützen, tun dies aus eigennützigen Motiven und nicht etwa, weil sie von seiner Unschuld überzeugt wären. Vor vier Jahren sagte mir eine Moskauer Studentin, die zu diesem Personenkreis zählt: „Chodorkowskij ist genau so ein Schwein wie die anderen Oligarchen. Aber er hat uns unterstützt und deshalb müssen wir jetzt für ihn kämpfen.“

Nun könnte man einwenden, die dunklen Seiten aus Chodorkowskijs Leben seien bekannt, doch es sei an der Zeit, einen Schlußstrich unter die „wilden 90er Jahre“ zu ziehen und ihn freizulassen. Schließlich hätten es viele so getrieben wie er und außerdem habe er einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Kapitalismus geleistet.
Letzteres kann man nicht ganz von der Hand weisen. Der Ökonom und Soziologe Werner Sombart zählt in einer seiner Studien auch die Freibeuter zu den „Unternehmernaturen“, die in der Neuzeit die Herausbildung des Kapitalismus befördert haben (er denkt an Leute wie Francis Drake). Dennoch ist die Marktwirtschaft in Westeuropa nicht auf diesem Stand stehengeblieben. Im Gegenteil: Piraten wurden später massiv bekämpft und hingerichtet, stellten sie doch eine erhebliche Gefahr für den Seehandel auf den Weltmeeren dar. Mithin kann man in der RF ebenfalls nicht dabei stehenbleiben. Dort müssen gesetzlose „Unternehmer“ ebenso bekämpft werden, damit sich Wirtschaft und Politik in halbwegs zivilisierten Bahnen bewegen können.

Der Forderung nach sofortiger Freilassung Chodorkowskijs ist überdies entgegenzuhalten, daß es bekanntlich keine Gleichheit im Unrecht gibt. Und seit wann dürfen die Straftäter selbst darüber entscheiden, wann sie zu begnadigen sind?
Eine baldige Begnadigung wäre wohl möglich, wenn Michail Ch. endlich seine zahllosen Verfehlungen bereuen würde (immerhin gibt es auch Mordvorwürfe gegen ihn). Doch darauf wartet die Öffentlichkeit seit Jahren vergebens. Im Gegenteil, er stilisiert sich zu einem zu Unrecht Verfolgten. Doch ohne Reue keine Gnade. Dabei befindet er sich in einer Zwickmühle, aus der er selbst nur schwer herauskommen dürfte: Bleibt er bei seiner bisherigen Verteidigungsstrategie, wird er auch die zweite Haftstrafe voll verbüßen müssen. Bekennt er sich hingegen schuldig, um früher entlassen zu werden, bricht das über Jahre von mühsam von einem Dutzend Anwälten aufgebaute Opfer-Image zusammen. Die Menschen im Ausland (auf die seine PR vor allem zielt) würden sich fragen, was sie diesem Mann noch glauben sollen.

Chodorkowskijs jüngste Verlautbarungen deuten jedenfalls an, daß er vorerst weiter den Märtyrer spielen will. Und seine namhaften Unterstützer im Ausland brauchen ihn in dieser Rolle. Für die wäre es doch ein Desaster, wenn er plötzlich zugäbe, daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe weitgehend zutreffen.


Bibliographie und weiterführende Links:

Khodorkovsky - the making of a myth

Putting the Bout into Khodorkovsky

The Real Reason Why Putin Arrested Yukos Oligarch Mikhail Khodorkovsky

Komsomol Capitalism

Recht gegen einen Mafioso

Michail Chodorkovsky

"Gelesen hab' ich's nicht, doch dagegen bin ich schon"

Oligarchs by Day, Nascent Democrats by Night

Will the Real Russian Dissident Please Stand Up

A Response To Vadim Nikitin’s Arguments For The “Liberation” Of Khodorkovsky And The Kuriles

Why is Misha Khodorkovsky a Dissident?

ZOMG! Mikhail Khodorkovsky is going on hunger strike!


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