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Mittwoch, 1. Dezember 2010

Spetsnaz X: Die Marineinfanterie heute

Nach den beiden historischen Abhandlungen der letzten Tage (vgl. hier und hier) wird heute der aktuelle Zustand der Marineinfanterie der Rußländischen Föderation analysiert werden. Zunächst werden die grundsätzlichen Aufgaben und die Organisation dargestellt, um danach strategische und operative Optionen darzustellen. Das alles wird nach den einzelnen Flotten aufgeschlüsselt und erfolgt selbstverständlich unter Berücksichtigung der seit 2008 laufenden Militärreform.

Aufgaben

Die Küstentruppen der Seekriegsflotte, zu denen die Marineinfanterie – neben den Küsten-Raketen- und -Artillerie-Truppen und weiteren Einheiten zur Küstenverteidigung – zählt, haben folgende allgemeinen Aufgaben: Schutz der Marinebasen, Häfen, wichtiger Küstenabschnitte, Inseln, Meerengen sowie die Abwehr gegnerischer Schiffe und Seelandungen.
Den MI-Truppenteilen werden vom Verteidigungsministerium der RF darüber hinaus folgende Aufgaben gestellt: Vorbereitung und Durchführung von Seelandungen, entweder allein oder zusammen mit Verbänden der Landstreitkräfte, sowie die Verteidigung der Flottenbasen. Die MI verwendet dazu grundsätzlich die Ausrüstung der Mot. Schützentruppen, die jedoch an die besonderen Erfordernisse amphibischer Operationen angepaßt wird. Hinzu kommt die Mitwirkung an Anti-Terror-Operationen, am Schutz anderer gefährdeter Objekte sowie die Unterstützung ziviler Behörden.



Organisation 1: Pazifik

Die Marineinfanterie der Pazifikflotte wurde kürzlich reorganisiert und dabei drastisch reduziert. Dennoch unterhält diese Flotte nach wie vor die stärksten MI-Kräfte in Rußland. Diese stellen sich nun wie folgt dar, wobei zu bedenken ist, daß die Umorganisation noch nicht abgeschlossen wurde:
  • 155. MI-Brigade (hervorgegangen aus der 55. MI-Division, Standort: Wladiwostok) mit etwa 4 MI-Bataillonen, 1 Lande-Sturm-Bataillon, 1 Panzerbataillon, 1 Artillerieabteilung, 1 Fernmeldebataillon sowie weiteren Unterstützungseinheiten;
  • 40. Selbständiges MI-Regiment (hervorgegangen aus der 40. MI-Brigade; Standort: Kamtschatka) mit ca. 3 MI-Bataillonen, 1 Lande-Sturm-Bataillon, 1 Artillerieabteilung;
  • 186. selbst. Marine-Pionierbataillon.
(Diese Einheiten werden ergänzt durch die 520. Küsten-Raketen-Artillerie-Brigade mit 6 Küstenraketen- bzw. Artillerie-Abteilungen, die schwerpunktmäßig auf Sachalin und den Südkurilen disloziert sind. Auf Sachalin ist des weiteren eine Mot. Schützenbrigade und auf den Kurilen eine Maschinengewehr-Artillerie-Abteilung [in z.T. verbunkerten Stellungen] stationiert. Beides sind Heereseinheiten, die jedoch operativ der Marine unterstellt werden können.)



Organisation 2: Nordmeer

Der Nordmeerflotte als größter Gliederung der rußländischen Marine untersteht nach wie vor die 61. Marineinfanteriebrigade mit Standort in Sputnik (Murmansker Gebiet). Dazu gehören u.a. folgende Einheiten: das 874. MI-Bataillon, das 876. Lande-Sturm-Bataillon, das 886. Aufklärungsbataillon, das 125. Panzerbataillon, die 1611. SFL-Artillerie-Abteilung, die 1591. SFL-Artillerie-Abteilung und die 1617. Fla-Raketen-Abteilung. Hinzu kommen 2 kadrierte (also nicht- bzw. teilaktive) MI-Bataillone mit den Nummern 317 und 318 sowie die üblichen Unterstützungseinheiten.



Organisation 3: Ostsee

Die Baltische Flotte gebietet über die 336. Marineinfanteriebrigade. Deren Hauptquartier und die meisten Einheiten liegen im Raum Baltijsk (früher Pillau) im Kaliningrader Gebiet, wo sich auch die Hauptbasis der Baltischen Flotte befindet. Folgende Einheiten zählen zur Brigade: 877. Marineinfanteriebataillon, 878. MI-Bataillon, 879. Lande-Sturm-Bataillon, 102. Panzerbataillon, 724. Aufklärungsbataillon, 1592. SFL-Artillerie-Abteilung, 1612. Artillerie-Abteilung, 1618. Fla-Raketen-Abteilung, 53. selbst. Pionierzug (Standort: Kronstadt) sowie weitere Unterstützungseinheiten.

(Hinzu kommt noch die 25. Küsten-Raketenbrigade der Marine. Aufgrund der besonderen militärgeographischen Lage des Kaliningrader Gebiets unterstanden bisher die meisten der dort dislozierten Verbände der Landstreitkräfte operativ ebenfalls dem Kommando der Baltischen Flotte. Ihre Hauptaufgabe ist die landseitige Sicherung der Marinebasen. Den Kern dieser Heereskräfte, deren genaue Neustruktur dem Verf. noch nicht bekannt ist, bilden 2 Mot. Schützenbrigaden.)



Organisation 4: Schwarzes Meer

Die MI-Kräfte der Schwarzmeerflotte wurden kürzlich umbenannt, aber nicht vermehrt. Die 810. Marineinfanteriebrigade (vorher: 810. MI-Regiment) ist auf der Krim im Raum Sewastopol (Ukraine), dem wichtigsten und zugleich legendenumwobenen Hafen der Schwarzmeerflotte, basiert. Sie besteht aus folgenden Einheiten: 382. MI-Bataillon (Standort: Temrjuk/RF), 557. MI-Bataillon, 542. Lande-Sturm-Bataillon, einer SFL-Artillerie-Abteilung, einer Fla-Raketen-Abteilung, einer Lande-Aufklärungs-Kompanie, einer Lande-Pionier-Kompanie, einer Panzerabwehrbatterie und zahlreichen weiteren Unterstützungseinheiten.



Organisation 5: Kaspisches Meer

1996 war in der Kaspischen Flottille die außergewöhnlich starke 77. Marineinfanteriebrigade formiert worden, deren Haupteinsatzgebiet der unruhige Nordkaukasus war. Im Zuge der Militärreform haben sich nunmehr zwei wichtige Neuerungen ergeben. Erstens verlor die Kaspiflottille ihre Selbständigkeit und wurde dem Kommando der Schwarzmeerflotte unterstellt. Zweitens erging für die 77. MI-Brigade der Auflösungsbefehl. Aus ihrem Bestand wurden 2 MI-Bataillone mit den Standorten Kaspijsk und Astrachan gebildet. Diese beiden Bataillone gehören jetzt zur 810. MI-Brigade der Schwarzmeerflotte (s.o.).

Die Auflösung der 77. MI-Brigade ist jedoch natürlich, nachdem sich die Sicherheitslage in Tschetschenien und den Nachbarregionen in den letzten Jahren deutlich verbessert hat. Für die eigentlichen Aufgaben der Kaspiflottille genügen zwei MI-Bataillone vollauf. Was künftig aus den ebenfalls zur aufgelösten Brigade zählenden Artillerie- und technischen Einheiten werden soll, ist allerdings noch offen.



Organisation 6: Sonstiges

In Moskau existiert außerdem das Selbständige Wachbataillon des Hauptstabes der Seekriegsflotte. Daneben gibt es noch ein paar selbständige Kompanien und Ausbildungseinheiten. Die Gesamtstärke der Marineinfanterie der RF dürfte bei etwa 15.000 Mann liegen.

Die Struktur und Ausstattung der MI-Verbände ist den Bedingungen ihres jeweils primären Einsatzgebietes angepaßt. Seit den 1990er Jahren wird außerdem mit neuen Organisationsformen unterhalb der Brigade- bzw. Regimentsebene experimentiert, die besser an die Erfordernisse kleiner Operationen angepaßt sind, z.B. gemischte Bataillons- und Kompaniekampfgruppen.



Landungsschiffe

Ohne Landungsschiffe keine Marineinfanterie. Die Zahl der im Bestand der Seekriegsflotte befindlichen Landungsschiffe hat nach 1991 stark abgenommen. Derzeit sind bei den Flotten und Flottillen folgende Landungsschiffe im Einsatz:
  • Nordflotte: 4 Große Landungsschiffe des Projekts 775.
  • Baltische Flotte: 4 Große Landungsschiffe des Projekts 775 und 2 Kleine Luftkissen-Landungsschiffe (Projekt 12322 „Subr“).
  • Schwarzmeerflotte: 3 Große Landungsschiffe des Projekts 1171 und 4 Große Landungsschiffe des Projekts 775.
Im vergangenen Jahr hat die Meldung, daß die russische Marine über die Beschaffung von bis zu vier Schiffen nach Art der französischen „Mistral“ nachdenke, weltweit große Beachtung gefunden. Dabei wird das Projekt in Rußland selbst stark kritisiert. Und selbst die Verfechter des Mistral-Kaufs (wie z.B. Kramnik) geben zu, daß ein solches Schiff für die russische Marineinfanterie nicht nötig weil viel zu groß sei. Sie sehen in der Mistral eher eine Kombination aus Führungsschiff und Hubschrauberträger, insbesondere für Operationen in fernen Seegebieten wie etwa vor Somalia. Doch primär führen sie industriepolitische Argumente wie etwa die Entwicklung der russischen Schiffbauindustrie durch internationale Kooperation ins Feld – also Gründe, die kaum etwas mit amphibischen Operationen, „force projection“, kohärenter Seestrategie usw. zu tun haben.

Demgegenüber wenden die Kritiker ein, daß zwei bis vier „Mistrals“ viel zu teuer wären und damit andere, für die rußländische Marine erheblich wichtigere Schiffsneubauten gefährden würden. (Vgl. dazu auch die Artikel von Gorenburg.) Die Mistral erscheint mithin als ein teures Prestigeobjekt ohne rechten Nutzen. Statt dessen wird vorgeschlagen, lieber die drei bereits vor Jahren außer Dienst gestellten Universallandungsschiffe der „Iwan Rogow“-Klasse (Projekt 1174) zu reaktivieren, ggf. nach einer Modernisierung. (Derzeit ist nur noch eines dieser Schiffe im Einsatz.) Sie verfügten über alle für die relativ kleine Marineinfanterie der RF notwendigen Eigenschaften. Parallel solle die Entwicklung der bereits fertig projektierten Universallandungsschiffe des Projekts 11780 und anderer neuer Modelle vorangetrieben werden, damit sie mittelfristig die alternden Schiffe im Flottenbestand ablösen können.

Zum Zeitpunkt, als dieser Artikel geschrieben wurde, war die Ausschreibung für bis zu 4 neue Landungsschiffe noch nicht beendet. Insgesamt sind (bzw. waren) vier Anbieter im Rennen, wobei der französischen „Mistral“ die größten Chancen eingeräumt werden – auch wegen der guten politischen Beziehungen zwischen Moskau und Paris. Vergleicht man die vier vorliegenden Projekte miteinander, so wäre wohl der niederländische „Rotterdam“-Typ für die Bedürfnisse der russischen MI am besten geeignet. Angesichts der skizzierten Probleme mit der Mistral-Beschaffung wäre es verfrüht, bereits jetzt von einer „Rückkehr der russischen Marineinfanterie auf die Weltmeere“ zu sprechen. Die politische und militärische Führung Rußlands beabsichtigt, Schiffe zu kaufen, für die noch nach einem sinnvollen Verwendungszweck gesucht wird.



Bewaffnung und Ausrüstung

Die Zeiten, in denen die MI-Einheiten fast durchgängig mit schwimmfähiger Panzertechnik ausgestattet waren, sind vorbei. Der alte, aber bewährte Schwimmpanzer PT-76 wurde schon vor Jahren ausgesondert; an seine Stelle sind in den Panzerbataillonen T-72 getreten. Die Marineinfanteriebataillone verfügen über SPW der Typen BTR-80 und MT-LB, die ebenfalls nicht mehr ganz jung sind. Zwar wurde vor einem Jahr die mittelfristige Umrüstung der MI auf modernere Systeme wie BMP-3, BTR-82 und BRDM-3, den Kampfpanzer T-90 und die 120-mm-SFL Wena (2S31) angekündigt, doch bleibt abzuwarten, ob den Worten auch Taten folgen.

Beobachter legen besonderen Wert auf schwimmfähige leichte Panzer, denn die schweren Kampfpanzer können nur in einem Hafen oder vorbereiteten Strandabschnitt angelandet werden. In der Diskussion sind neben dem ursprünglich für die Luftlandetruppen entwickelten Modell Sprut-SD auch eine stark modernisierte Version des PT-76. Allerdings ist äußerst fraglich, ob für ein solches Sonderprogramm Mittel bereitgestellt werden, zumal die Marineinfanterie hinsichtlich der Beschaffungsprioritäten in den vergangenen Jahren nicht vorne stand.



Uniformierung

Die Marineinfanteristen kleiden sich traditionell in eine schwarze Uniform mit der Telnjaschka, einem dunkelblau gestreiftem lang- oder kurzärmeligen Hemd. (Telnjaschki mit hellblauen Streifen werden von den Luftlandetruppen verwendet.) Die schwarze Uniform ist heute jedoch nur noch Dienst- und Paradeuniform; im Felde werden natürlich Tarnanzüge getragen. Hinzu kommt das schwarze Barett, welches der Truppe auch ihren Spitznamen „tschjornyje berety“ gegeben hat.
Das typische Armabzeichen der MI ist der goldene unklare Anker auf schwarzem Grund, heute in der Regel auf dem rechten Oberarm getragen. Auf dem linken Oberarm befindet sich das Abzeichen der jeweiligen Flotte mit der Andreaskreuz-Flagge. Zusätzlich werden bisweilen spezielle Einheitsabzeichen getragen, i.d.R. ebenfalls am rechten Arm.
Das Motto der rußländischen Marineinfanterie lautet: „Tam gdje my, tam - pobjeda“ (dt.: Dort, wo wir sind, da ist der Sieg).



Einsatzoptionen 1: Allgemeines

Die Rußländische Föderation ist insofern in einer geopolitisch besonderen Lage, als sie der Staat mit den längsten Seegrenzen und der längsten Küstenlinie der Welt ist. Des weiteren liegt sie an drei Ozeanen (Atlantik, Nordpolarmeer, Pazifik) und zwei Randmeeren (Ostsee, Schwarzes Meer). Hinzu kommt das Kaspische Binnenmeer mit seinem nach wie vor ungeklärten völkerrechtlichen Status. Dies stellt die russische Marine vor schwierige Aufgaben, auch weil eine gegenseitige Verstärkung der regionalen Flotten u.U. nur schwer möglich sein wird.

Für ihre amphibischen Kräfte stellt sich seit Jahren eine ganz grundsätzliche Sinnfrage, die mit dem Fehlen einer kohärenten Seestrategie der RF zusammenhängt. Klar ist, daß die weitreichenden Konzeptionen aus der Zeit des Kalten Krieges obsolet sind. Das heutige Rußland hat im Gegensatz zur Sowjetunion keine „Pflicht zur internationalistischen Hilfe“, so daß nicht ständig größere Marineinfanterie-Einheiten auf den Weltmeeren präsent sein müssen. Ebenso sind alle Planungen für den Fall eines großen europäischen Krieges hinfällig, welche die Sicherung der Ausgänge von Ostsee und Schwarzem Meer vorgesehen hatten. Welchen Sinn hätte es z.B. – selbst bei einem Konflikt mit der NATO –, angesichts der geo- und sicherheitspolitischen Gesamtlage der RF, ein oder zwei MI-Bataillone an der dänischen Küste zu landen? Welche Aufgaben sollten die Kampfschiffe der Baltischen Flotte in einer derartigen Konstellation in der Nordsee erfüllen?

Die Seekriegsflotte steht insgesamt vor dem Problem, daß ihre Aufgaben bisher oft nur unpräzise oder widersprüchlich formuliert worden sind. Die Verteidigung der Küsten und des Küstenvorfeldes ist selbstverständlich, doch wie sieht es mit „Blauwasser“-Operationen aus? Soll die Marine insoweit zu mehr fähig sein als zu einem nur gelegentlichen Flaggezeigen in Übersee? Wenn ja: Welche politischen Zwecke sollen damit verfolgt werden? Eine positive Beantwortung dieser Fragen ist, auch aus Budgetgründen, wenig wahrscheinlich. (Deshalb ist die Mistral-Beschaffung so zweifelhaft.)

So konzentriert sich die russische Flotte – wie viele Seestreitkräfte – seit über zwei Jahren auf die Bekämpfung von Piraten vor der Küste Ostafrikas. Mit dabei sind natürlich auch Kräfte der Marineinfanterie, die auf den Kriegsschiffen mitfahren, um Boardings etc. durchzuführen. Sie haben mehrfach – auch durch Waffeneinsatz – Piratenangriffe abwehren und gekaperte Schiffe befreien können, zuletzt in einer aufsehenerregenden Aktion im Mai 2010 (vgl. hier und hier). Solange das Piratenproblem besteht, wird auch die Marineinfanterie der RF dort gut zu tun haben. Ihr Engagement könnte sogar noch steigen, sofern sich die Piratenbekämpfung stärker in die somalische Küstenregion verlagern sollte.

Nachfolgend wird es vor allem um regionale Einsatzoptionen jenseits von Fernfahrten an die Küsten Afrikas und Arabiens gehen.



Einsatzoptionen 2: Pazifik

Die Pazifikflotte hat die stärksten amphibischen Kapazitäten innerhalb der russischen Marine. Dies hat zwei Gründe: Erstens ist die sicherheitspolitische Lage in der Region wegen der japanischen Ansprüche auf die Südkurileninseln angespannt (vgl. auch hier, hier und hier). Diese Inseln ließen sich im Fall der Fälle nur mittels einer amphibischen Operation zurückerobern, was im Sommer auch im Rahmen des Manövers „Wostok-2010“ geübt wurde.
Zweitens ist die Pazifikflotte die nächstgelegene zu den Brennpunkten Afrikas und Asiens (Stichwort: Piraten).

Daraus ergeben sich die beiden Einsatzoptionen der MI-Einheiten der Pazifikflotte: Größere amphibische bzw. triphibische Unternehmen zur Landesverteidigung, kleine Aktionen in weiter entfernten Seegebieten.



Einsatzoptionen 3: Nordmeer

Die Nordmeerflotte ist neben der Pazifikflotte der zweite „Blauwasserteil“ der rußländischen Marine. Mithin kommen den am Polarkreis dislozierten Marineinfanteristen ähnliche Aufgaben zu.
Des weiteren sind sie die Hauptstütze der Landesverteidigung in dieser Region Rußlands, denn im gesamten Norden des Landes sind fast gar keine Einheiten der Landstreitkräfte stationiert. Diese regionale Bedeutung im Sinne eines erweiterten Küstenschutzes (einschließlich taktischer Seelandungen) nimmt noch zu, sollte das arktische Eis tatsächlich noch weiter schmelzen. Damit wäre der Nördliche Seeweg leichter befahrbar, zudem würde die Ausbeutung der dort lagernden Rohstoffe vereinfacht. (Mit anderen Worten: Die Bedeutung der Arktis wird insgesamt größer; siehe dazu auch die „Grundlagen der staatlichen Politik der Russischen Föderation in der Arktis“.)



Einsatzoptionen 4: Ostsee

Die Marineinfanterie der Baltischen Flotte hat de facto keine amphibische Rolle – zumindest nicht in einem bewaffneten Konflikt, welcher im Ostseeraum ausgetragen wird. In einem solchen Szenario bestünde ihre Aufgabe in der Sicherung und Verteidigung der Marinebasis Baltijsk. Diese ist der einzige ganzjährig eisfreie Hafen an der russischen Ostseeküste und deshalb für die Flotte besonders wichtig. (Militärstrategisch gesehen befindet sich Rußland in diesem Gebiet heute in einer ähnlichen Situation wie Deutschland zwischen 1919 und 1939.)

Ein hypothetisches Szenario für einen Krieg um das Kaliningrader Gebiet hatte ich hier bereits entwickelt. Dem ist aus Sicht der Marine noch hinzuzufügen, daß die polnischen Seestreitkräfte in den letzten Jahren ihre Minenlegefähigkeit erheblich verbessert haben, denn die 5 Mittleren Landungsschiffe des Projekts 767 („Lublin“) wurden für die Zweitaufgabe Minenlegen ausgerüstet. Dies legt den Schluß nahe, daß man in Warschau für den Krisenfall die Verminung der Seewege vor dem ehemaligen Ostpreußen plant. Damit wäre die Exklave Kaliningrad nicht nur zu Lande und in der Luft, sondern auch auf dem Wasser vom russischen Kernland isoliert. In einer solchen Konstellation wäre es absurd, Teile der für die Verteidigung dieses Gebiets vorgesehenen Verbände für Seelandungen heranzuziehen. Vor allem, wenn man die erdrückende Überlegenheit allein der polnischen Landstreitkräfte bedenkt.

Ferner kann eine amphibische Operation im Ostseeraum immer nur unterstützenden Charakter für Heeresverbände haben, die auf einem anderen Weg vorrücken (strategische Diversion). Im Prinzip wurde dies während des Manövers „Sapad-2009“ geübt, als ein Übungsabschnitt das Anlanden an einem feindbesetzen Strandabschnitt beinhaltete. (Das Manöverszenario erweckte z.T. den Eindruck, als ginge es um das Freikämpfen des vom Gegner eingeschlossenen und partiell besetzten Kaliningrader Gebiets.) Doch ließe sich dergleichen natürlich nicht mit Einheiten realisieren, die erst einmal aus einer vollständigen Umfassung ausbrechen müßten und damit faktisch ihre Basis preisgäben. Und es ist äußerst unwahrscheinlich, daß die NATO im Kriegsfall so großzügig wäre, Rußland die Heranführung von Landungskräften aus anderen Flotten durch die südliche Ostsee zu gestatten.

D.h. die Marineinfanterie der Baltischen Flotte dient vor allem dem Küstenschutz. Amphibische Operationen kann sie sinnvollerweise nur in anderen Seegebieten durchführen. Ein Beispiel dafür war die Übung „Wostok-2010“ an der Pazifikküste der RF, woran auch Marineinfanterie-Einheiten und Landungsschiffe aus der Ostsee teilgenommen haben. Oder die hinlänglich bekannten Pirateneinsätze.

Abschließend ein ebenfalls hypothetisches Konzept des Verfassers, um die amphibischen Fähigkeiten der Baltischen Flotte auch hinsichtlich der Landesverteidigung zu verbessern (nein, das Moskauer Verteidigungsministerium bezahlt mich nicht dafür ;-)).
Die 336. MI-Brigade wird geteilt: 2 MI-Bataillone verbleiben zur Hafen- und Küstenverteidigung in Baltijsk, der Rest wird in den Raum St. Petersburg verlegt und bildet dort ein neues MI-Regiment. Dasselbe gilt für die Landungsschiffe. Diese Einheiten hätten sodann nicht nur eine amphibische Rolle in entfernten Seegebieten, sondern auch vor ihrer Haustür. Sie wären das „blitzende Vergeltungsschwert“ (Clausewitz) des Gegenangriffs auf ein besetztes Kaliningrad. Damit wäre der Wandel von Passivität zur Aktivität vollzogen.



Einsatzoptionen 5: Schwarzes Meer

Die Schwarmeerflotte ist in einer nur geringfügig komfortableren Lage als die Baltische. Ihre Hauptbasis ist das in der Ukraine liegende Sewastopol, wo sich auch die Hauptkräfte der 810. MI-Brigade befinden. Die Stationierung von Truppen im Ausland ist immer mit politischen Unwägbarkeiten verbunden.
Theoretisch bieten sich für die dortige Marineinfanterie viele Einsatzoptionen, denn sie ist vielen Krisenherden der Welt, etwa dem Horn von Afrika, am nächsten. Seelandungen werden jedoch in der Praxis auch hier zumeist taktischer Natur sein. Aufgrund der besonderen Schwäche der Schwarzmeerflotte (das Gros der Kampfschiffe stammt aus den 1970er Jahren und muß demnächst ausgesondert werden) wären sämtliche Überlegungen für weitreichende amphibische Operationen (z.B. an der türkischen Küste) schlicht absurd.

Das soll durch die beiden Unternehmen, die während des Südossetienkrieges im August 2008 durchgeführt wurden, illustriert werden.
Am Abend des 8. August 2008 war ein Verband der rußländischen Schwarzmeerflotte aus Sewastopol ausgelaufen, in dessen Bestand sich 3 Große Landungsschiffe (Projekt 775) mitsamt eingeschiffter Marineinfanterie befanden. Auftrag: Blockade der georgischen Küste und ggf. Bekämpfung von Schiffen der georgischen Marine. Am 10. August kam es vor der Küste Abchasiens zum einzigen Seegefecht dieses Konfliktes, in dessen Verlauf ein georgisches Patrouillenboot verlorenging. Die übrigen Kriegsschiffe zogen sich in ihren Heimathafen Poti zurück. Am 12. August landete in Poti eine Einheit der Marineinfanterie, um den Hafen zu besetzen und die georgischen Kampfschiffe zu zerstören. Nachdem diese gesprengt worden waren, verließen die Seesoldaten Poti am 13.08. wieder.

Bereits ab dem 10. August hatten andere Landungsschiffe der Schwarzmeerflotte Einheiten der 7. Gebirgs-Luftsturm-Division (Standort: Noworossijsk) und der Marineinfanterie im abchasischen Hafen Otschamtschire angelandet, die danach in die Richtungen Süden und Südosten, nach Georgien hinein, vorstießen. Diese Seelandung war zwar umfangreicher, hatte aber ebenfalls nur begrenzte Bedeutung; ihre Funktion bestand in dem Eröffnen einer zweiten Front außerhalb Südossetiens und damit der Absicherung des dortigen Vorstoßes der Landstreitkräfte.
Dieses Konzept scheint sich bewährt zu haben, denn im Rahmen des Manövers „Kawkas-2009“ wurde in Noworossijsk erneut das Einschiffen von Fallschirmjägern auf Landungsschiffen geübt. Allerdings werden die Landungsschiffe damit zu reinen Transportschiffen „degradiert“.



Einsatzoptionen 6: Kaspisches Meer

Die Situation im Kaspischen Meer ist für Rußland positiver. Trotzdem mutet die organisatorische Zuordnung der beiden Marineinfanteriebataillone zur 810. MI-Brigade der Schwarzmeerflotte seltsam an. Vor allem auch, weil die Kaspiflottille regelmäßig mit den Seestreitkräften der übrigen Anreiner dieses Binnenmeeres zu tun hat, die z.T. zum Zuständigkeitsbereich des benachbarten OSK Mitte gehören.
Mehr als taktische Seelandungen von Einheiten in Kompaniestärke dürften hier nicht vorgesehen sein.



Resümee

Der allgemeine Niedergang der rußländischen Streitkräfte nach 1991 hat auch vor der Elitetruppe der Marineinfanterie nicht haltgemacht. Zwar dürfen Moral und Ausrüstung immer noch als relativ gut gelten, doch ist nunmehr – wie in vielen Teilen der Armee – rasche Investitionen geboten, um sie nicht dem völligen Verfall preiszugeben. Anderenfalls wäre zu befürchten, daß die „Verlandung“ der MI – also der Verlust ihrer spezifisch maritimen Fähigkeiten – weitergeht. Am Ende eines solchen Prozesses könnte eines Tages die erneute Auflösung der Truppe stehen – es wäre nicht die erste ihrer Geschichte. Es bleiben jedoch Zweifel, ob dies in der politischen und militärischen Führung Rußlands erkannt wird. Denn die von Verteidigungsminister Serdjukow vorangetriebene Militärreform trägt zunehmend seltsame Blüten, die sich jeder vernünftigen Begründung entziehen.



In der nächsten (und vorerst letzten) Folge der Spetsnaz-Reihe hier auf Backyard Safari werden die Kampfschwimmer und andere Spezialkräfte der rußländischen Seekriegsflotte behandelt.



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Fotos: RIA Nowosti u.a.

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