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Dienstag, 11. Mai 2010

Zur Lage des Schießsports in Rußland


Von Beginn an habe ich hier auf Backyard Safari hin und wieder über die Entwicklung des Sportschießens in Rußland berichtet. Die folgenden, sehr allgemeinen Einlassungen (die ich schon im Meisterschaftsbericht versprochen habe) sind keine wissenschaftliche Analyse, vermutlich nicht einmal ein seriöser journalistischer Text, denn dazu fehlt es ihnen an substantieller, nicht-virtueller Recherche. Es geht vielmehr darum, gewisse Impressionen zu vermitteln, wobei ich mich selbstverständlich um eine objektive Darstellung bemühen werde. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß ich bestimmte Aspekte falsch wahrnehme oder schief wiedergebe. In diesem Fall bitte ich um einen kritischen Kommentar. Als wichtigste Informationsquelle, auch hinsichtlich weiterer Verweise, dient mir das Forum Talks.guns.ru, insbesondere jener Teil, der sich mit den „traditionellen“, also den ISSF-Disziplinen befaßt.

Beginnen wir mit den waffenrechtlichen Grundlagen. Das Waffengesetz der Rußländischen Föderation stammt aus den 1990er Jahren und ermöglicht den privaten Besitz von Schußwaffen. Allerdings in unterschiedlicher Abstufung. Druckluftwaffen bis zu einem Kaliber von 4,5 mm und einer Energie von 7,5 Joule sind erlaubnisfrei. Alle anderen Langwaffen bedürfen einer „WBK“, wobei diese für einen nicht vorbestraften Bürger ohne größere Probleme erhältlich ist. Restriktiver scheint die Vergabe von Erlaubnissen für Kurzwaffen zu sein, obwohl auch in Rußland IPSC- und ähnliche Wettbewerbe ausgetragen werden. Das soll für heute genügen; Details des russischen Waffenrechts bleiben einem späteren Artikel vorbehalten, zumal derzeit eine Gesetzesänderung bezüglich der sog. Traumawaffen diskutiert wird.



Einen Aufschwung haben in den letzten Jahren neue, aus dem Ausland importierte Schießsportdisziplinen erlebt. Zum Teil auch deshalb, weil sie für die aufstrebende Mittelschicht von Interesse waren und nicht dem verstaubten Image der traditionellen Disziplinen entsprochen haben. Zum Teil aber auch deshalb, weil man hier nicht von vorgefundenen, halb-öffentlichen, halb-privaten (und oftmals nicht funktionierenden) Organisationsstrukturen abhängig war und sich seine eigenen gemäß dem „Bottom-up“-Prinzip aufbauen konnte, die dem bürgerlichen Selbstbewußtsein eher entsprochen haben.

Nehmen wir als Beispiel das Luftgewehrschießen. Jeder darf sich ein Luftgewehr kaufen und – theoretisch – überall damit schießen. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis aus dem fallweisen Plinking mehr wurde und sich Gleichgesinnte zusammengefunden haben. Heute existiert in Rußland eine agile Druckluftwaffenszene, in der man nicht nur Field Target, sondern auch Benchrest, Varmint und andere Disziplinen schießt, die oftmals kreativ zusammengestellt werden. Viele Schützen verfügen mittlerweile über erlaubnispflichtige Waffen, die zumeist aus dem Ausland importiert wurden. Aus dem einstigen Zeitvertreib ist somit ein ernsthafter (und teurer) Sport geworden.
Eine ähnliche Entwicklung möchte ich dem GK-Benchrestschießen und den dynamischen Disziplinen (insonderheit IPSC) attestieren. Sie sind, wenn man so will, in Mode.

Das kann man von den traditionellen Disziplinen, die mit Kleinkaliber- und Druckluftwaffen geschossen werden, nicht gerade behaupten. Der größten Beliebtheit dürften sich noch das Flintenschießen erfreuen, sind diese Waffen doch weitverbreitet und gelten als die traditionellen Jagdwaffen. Sportlich wird damit nicht nur auf Wurfscheiben, sondern, mittels Flintenlaufgeschossen, auch auf normale Papierscheiben geschossen.



In den KK- und DL-Disziplinen macht sich wohl der Niedergang des vor Jahrzehnten führenden sowjetischen Schießsports am stärksten bemerkbar. In den Foren wird regelmäßig geklagt: Es fehlt an qualifizierten Trainern, an einigermaßen modernen Schießständen, an geeigneten Waffen (die nicht schon 30 Jahre alt sind), ja sogar an Übungsmunition. Für die Olympischen Spiele 2012 prophezeien manche ein Desaster. Als Hauptproblem wird der Mangel an Geld genannt.
Man ist es von früher her gewöhnt, daß der Staat für alles aufkommt, schließlich war Schießen ein Volkssport. Ganz vereinzelt wird gar die Meinung vertreten, die Aufgabe des Schützen bestehe darin, den Ruhm seines Vaterlandes bei internationalen Wettkämpfen zu mehren; im Gegenzug müsse sich die Obrigkeit um die Bedürfnisse des Schützen kümmern. Doch der Sozialismus ist in Rußland seit 20 Jahren vorbei und Schießen ist nun einmal – leider – kein Sport für Arme. Ich habe den Eindruck, daß manchen dieser Schützen die Initiative (und z.T. sicher ebenso das dicke Bankkonto) fehlt, um etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Anstatt nach Sponsoren zu suchen, verhandelt man lieber endlos mit der Stadtverwaltung über Mittel für die Renovierung eines maroden Schießstandes.
Doch es gibt auch positive Gegenbeispiele. Schützen, die sich ihre eigenen Waffen und Munition kaufen und sich ggf. auf einem kommerziellen Stand einmieten. Oder ganze Klubs, die nur noch pro forma den offiziellen Sportstrukturen (siehe dazu unten) angehören, finanziell jedoch eigene Wege gehen.



An dieser Stelle möchte ich Michail A. Schterzer vorstellen. Er ist nicht nur ein guter Pistolenschütze, er engagiert sich zudem für die Entwicklung der ISSF-Disziplinen im Gebiet Kaluga. Das tut er nicht nur im versteckten Kämmerlein, sondern auch öffentlich. In seinen Publikationen kritisiert er regelmäßig Mißstände, jedoch nicht in einem jammervollen, sondern in einem sachlichen Ton. Er meint z.B., daß der Staat eigentlich genügend Geld für die Entwicklung des Schießsports zu Verfügung stelle (und macht dies für seine Region an konkreten Zahlen fest). Von den vielen Millionen ginge jedoch in einem Kompetenzwirrwarr diverser regionaler und kommunaler Behörden so viel verloren, daß unten, an der Basis, kaum etwas ankomme.
(Wer der russischen Sprache mächtig ist, sollte sich seine hier veröffentlichten Artikel zu Gemüte führen. Bei Talks.guns.ru firmiert er unter dem Pseudonym „Golden Mike“.)

Doch diese Kritik trifft offenbar nicht überall und nicht in gleichem Maße zu. Es gibt auch Schützen, die davon berichten, daß sie diese Probleme nicht haben.



Jetzt muß etwas zu den Organisationsstrukturen des Schießsports gesagt werden, wenngleich sich die Russen wohltuend von der deutschen Vereinsmeierei abheben. Ganz oben haben wir die Strelkowyj Sojus Rossii (Abk.: SSR, dt.: Schützenunion Rußlands). Sie vereinigt als Dachverband nicht nur die Schützen der ISSF-Disziplinen, sondern darüber hinaus auch Benchrester und IPSC-Schützen, die (ebenso wie die Flintenschützen) in eigenen Teilverbänden organisiert sind. Neben und außerhalb der SSR existieren ein Field-Target-Verband sowie ein gesonderter Verein der Druckluftschützen.

Die SSR, deren derzeitiger Vorsitzender Wladimir Lissin ist und der sowohl natürliche als auch juristische Personen angehören, gliedert sich wiederum in regionale Teilverbände, welche die Hauptarbeit leisten. Ihnen sind die einzelnen Schießsportklubs angeschlossen. Wobei der Name Klub nicht zwangsläufig bedeuten muß, daß es sich um einen Verein im Rechtssinne handelt. Viele dieser Klubs existieren an Schulen und entsprechen damit den Arbeitsgemeinschaften deutscher Schulen. Andere sind rechtlich völlig selbständig (im Sinne eines deutschen e.V.), wieder andere sind an die DOSAAF (die einige Jahre ROSTO hieß) angeschlossen oder gehören zum Innen- oder Verteidigungsministerium (Stichwort: Sportsoldaten). Letztere sind weitgehend öffentlich finanziert.



Die DOSAAF war früher eine Wehrsportorganisation (wie die GST in der DDR), heute ist sie ein Dachverband für diverse Sportarten und betreibt ferner das größte Fahrschulnetz in Rußland. Die Organisation ist auch einer jener Kanäle, über die der Staat den Schießsport direkt fördert – sofern das Geld nicht unterwegs irgendwo versickert …

Viele Schießstände gehören der öffentlichen Hand, entweder der DOSAAF oder aber den Kommunen (vor allem in Schulen untergebrachte Stände). In den Schulen bringt man vielen Schülern durchaus Grundlagen des Schießens bei und es werden auch regelmäßig Wettbewerbe zwischen den einzelnen Schulen ausgetragen. Aber alles, was über die „Basics“ hinausgeht, wird schwierig. Mancherorts existieren spezielle Jugendgruppen, die der Vorbereitung auf den Leistungssport dienen sollen. Das ist der Schwerpunkt der staatlichen Förderung: Junge Talente und künftige Olympiateilnehmer.
Auf einer menschlichen Ebene kann ich die Verbitterung älterer Schützen über diese Schwerpunktsetzung verstehen, aber es hindert sie niemand daran, „ihr eigenes Ding zu machen“. Das ist der Unterschied zur Sowjetzeit. Und es gibt, wie gesagt, auch Leute die das tun und sich nicht auf das Jammern verlegen. Gewiß, dann muß man mit Bürokraten kämpfen, aber das müssen private Waffenbesitzer heutzutage auf der ganzen Welt.



Langsam scheinen sich jedoch auch die traditionellen Disziplinen wieder zu erholen. Im April ist ein jahrelanger Rechtsstreit um das Schießstandgelände bei Moskau, auf dem 1980 die Olympiawettbewerbe ausgetragen worden sind und das kurz vor dem Abriß stand, positiv für die Sportverbände ausgegangen. Schießstände werden saniert oder neu errichtet, in den letzten Jahren etwa in Lipezk und St. Petersburg. Und auch viele Schützen haben es satt, sich mit „ausgenudelten Vereinshuren“ abzumühen und können sich jetzt, dank des gewachsenen Wohlstandes, eigene Waffen leisten.

Allenthalben wird der Mangel an talentiertem Nachwuchs beklagt. Die breitensportliche Basis sei heute zu dünn, um genügend neue Leistungssportler aufbauen zu können. Zudem seien die Schießergebnisse im Vergleich zur Zeit vor 20 oder 30 Jahren deutlich schlechter. Die männliche Jugend ziehe es vor, sich vor dem Computer zu vergnügen und dabei zu verweichlichen; in manchen Klubs würden schon zu 80 % Mädchen trainieren und dabei bessere Resultate erzielen als die Vertreter des „starken Geschlechts“. Aussichtsreiche Sportler und gute Trainer würden es zudem oft vorziehen, ins Ausland zu gehen, wo sie sich, auch wegen ihrer Fertigkeiten, bessere Aussichten erhoffen.



Zumindest die letzte Klage ist nachweislich berechtigt. Wie gehaltvoll die übrigen sind, vermag ich nicht abzuschätzen. Aber es scheint wirklich sehr starke regionale Unterschiede zu geben, die auch vom Engagement der jeweiligen verantwortlichen Funktionäre und Beamten abhängen. Leider sehe ich mich außerstande, die internationale Position des russischen Schießsports einzuschätzen. Ganz erfolglos scheinen seine Vertreter jedoch nicht zu sein, weder in den ISSF-Disziplinen noch etwa im Field Target.

Fest steht, daß sich der Schießsport in der RF auf zwei verschiedenen Bahnen entwickelt: Die traditionellen Disziplinen sind in einer schon länger andauernden Krise, wohingegen sich die neuen Disziplinen zunehmender Beliebtheit erfreuen. Letzteres sicher nicht nur wegen ihrer Anziehungskraft auf moderne Menschen, sondern auch wegen der finanziellen Eigenständigkeit. Man wartet nicht auf „die da oben“, sondern packt selbst zu. Gleichwohl ist bemerkenswert, daß die SSR nach wie vor eine organisatorische Klammer ist, die beide Trends miteinander verbindet. Obwohl es auch in Rußland die leider hinlänglich bekannten Grabenkämpfe zwischen den einzelnen „Fraktionen“ der Schützen gibt, ist das Band zwischen ihnen nach wie vor nicht zerschnitten.

PS: Hier finden sich weitere Fotos russischer Sportschützen.



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Fotos: www.stjag.ru, picasaweb.google.com/359867, picasaweb.google.com/voskres.

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